EIN PLAN WIRD
DURCHKREUZT
Walküre kaute auf einem Blatt, um den Schmerz zu betäuben, während Tanith ihr, so gut sie konnte, die Schnittwunde an ihrer Wange nähte. Als Tanith fertig war, lehnte Walküre sich zurück und schloss die Augen.
Nachdem sie eine Stunde gefahren waren, bogen sie von der Hauptstraße ab und holperten zwanzig Minuten lang über schmale, vereiste Straßen voller Schlaglöcher. Dann wandten sie sich nach Norden, wo sich die Gebirgskette von Ost nach West erstreckte. Walküre hielt den Kopf gesenkt. Es war warm in dem Van, doch die Wärme tröstete sie nicht. Nach allem, was sie gesehen und durchgemacht hatte, wollte sie einfach nur die Arme ihres Freundes um sich spüren. Manchmal ist der größte Trost auf der ganzen Welt eine Umarmung.
Es wurde dunkel und Grässlich schaltete die Scheinwerfer ein. Innerhalb von zwei Stunden begegneten ihnen drei Autos und bei jedem bereiteten sie sich auf einen Angriff vor. Doch die Fahrer waren Menschen und sterblich und stellten keine Gefahr für sie dar.
Skulduggery stellte Fragen und Sanguin beantwortete sie in seiner langsamen Sprechweise. Walküre hörte nicht zu. Sie legte sich in den hinteren Teil des Vans, den Kopf auf Taniths Schoß, und schlief ein.
Sie erwachte, als Skulduggery und Grässlich gerade darüber diskutierten, ob es besser sei, den Van stehen zu lassen und einen anderen Wagen zu organisieren. Für Grässlich hatte schnelles Vorwärtskommen oberste Priorität. Skulduggery war der Meinung, sie sollten sich das erste brauchbare Vehikel schnappen, an dem sie vorbeikamen, da niemand sagen könne, wann dieser Van erkannt und gemeldet würde.
Walküre döste erneut ein und öffnete die Augen erst wieder, als sie zu einer rund um die Uhr geöffneten Tankstelle fuhren. Es lag Schnee. Tanith fragte nach Essenswünschen, stieg aus und lief rasch zu dem gelangweilten Mann im Kassenhäuschen. Grässlich aktivierte seine Fassade und stieg ebenfalls aus, um ein Auge auf sie zu haben, falls die Restanten schon bis hierhergekommen waren. Walküre stellte sich neben Skulduggery, während dieser den Tank befüllte.
„Er hat es nicht gezeigt, ich weiß“, sinnierte Skulduggery, „aber Kenspeckel hat mich wirklich gemocht.“
Sie war selbst überrascht, dass sie lächeln musste. „Nein, hat er nicht“, widersprach sie.
„Nein, hat er nicht. Aber dich hat er gemocht.“
„Ich möchte eigentlich nicht darüber reden. Was soll man auch sagen? Ich kann’s nicht glauben, dass er nicht mehr ist? Ich kann’s nicht glauben, dass er tot ist? Dass es ein Schock ist, steht außer Frage, das brauche ich keinem zu erzählen.“
„Manchmal kommt es nicht darauf an, was man sagt, Walküre, nur darauf, dass man es überhaupt ausspricht.“
Sie schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit für so etwas. ‚Kämpfe jetzt, trauere später.‘ Das ist unser Motto, richtig? Wenn wir bei jedem Unglück innehalten und über die Konsequenzen nachdenken würden, brächten wir nie etwas zustande.“
„Kenspeckel war ein Freund von dir.“
„Wenn das alles hier vorbei ist, werden wir sehen, wer lebt und wer tot ist, und dann werde ich weinen, okay?“
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Okay.“
„Clarabelle wird sich schreckliche Vorwürfe machen, wenn alles vorbei ist“, sagte Walküre leise. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie musste sich konzentrieren. „Wie weit ist es noch bis zum Rezeptor?“
„Von der Gebirgskette sind wir keine Stunde mehr entfernt, aber wir sollten warten bis zum Morgen, bevor wir näher herangehen. Sobald wir dort sind, wird der goldene Schlüssel uns an den richtigen Platz führen.“
„Haben wir einen Plan?“
„Pläne öffnen Enttäuschungen Tür und Tor.“
„Trotzdem werden wir wahrscheinlich einen brauchen. Das Gebirge wird nur so von Restanten wimmeln, die uns alle daran hindern wollen, zu der Maschine zu gelangen. Willst du uns einfliegen?“
„Damit rechnen sie. Aber jetzt, da Sanguin auf unserer Seite ist, könnten wir uns auch unter ihnen durchbuddeln.“
„Das bezweifle ich. Er schafft dieser Tage keine drei Meter, ohne sich ausruhen zu müssen.“
„Wir können also nicht oben drüber und nicht unten durch. Dann wird es wohl so sein, dass wir so dicht wie möglich heranfahren und einfach in die Höhle des Löwen hineinmarschieren.“
„Die direkte Variante.“
„Die einzige, die uns bleibt.“
Der Morgen brach sehr zögerlich an und er brachte keine Wärme mit. Walküres Nerven lagen blank. Sie sah, wie Tanith neben ihr die Fäuste ballte und wieder löste, und Grässlich war beängstigend still. Nur China und Skulduggery schienen unbeeindruckt von der Gefahr, der sie gleich in die Arme laufen würden. Wie es Sanguin ging, interessierte Walküre nicht die Bohne.
Sie fuhren ins Zentrum einer kleinen Stadt, die unter all dem Schnee Winterschlaf zu halten schien. Walküre sehnte sich danach, normale Leute auf der Straße zu sehen, Leute, die die Morgenzeitung kauften oder ihretwegen auch an roten Ampeln warteten. Ihr gefiel dieses Geisterstadt-Virus nicht, das Irland befallen und sich ausgebreitet hatte und es zu einem Geisterland machte.
Der Van wurde plötzlich langsamer und hielt am Straßenrand. Walküre lugte über Skulduggerys Schulter. Auf der Kreuzung vor ihnen lag ein Polizeiauto auf der Seite, das Blaulicht drehte sich noch.
„Walküre, du kommst mit“, bestimmte Skulduggery. „Ihr anderen bleibt hier.“
Sie stiegen aus. Walküre schob die Tür zu und entfernte den Verband von ihrem Gesicht. „Wie sieht es aus?“
Er blickte sie an. „Es heilt. Die Schwellung ist zurückgegangen. Die Narbe ist noch ziemlich hässlich, aber nach allem, was Tanith auf die Wunde geschmiert hat, sollte sie in ein oder zwei Tagen nicht mehr zu sehen sein.“
Sie warf einen Blick zurück auf den Van und fragte leise: „Du traust ihnen nicht?“
„Nicht hundertprozentig“, gab er zu.
„Glaubst du, dass einer von ihnen besessen ist?“
„Das wissen wir erst, wenn sie sich offenbaren. Du hältst dich an mich, verstanden? Sieh zu, dass du nie mit einem von ihnen allein bist.“
Sie nickte. Während sie sich dem Wagen näherten, schmolz Skulduggery mit der Hand das Eis, damit sie nicht ausrutschten. Walküre wünschte, sie hätte das in Drogheda tun können, wo sie am laufenden Band ausgerutscht und gestürzt war.
Sie erreichten die Kreuzung. Hinter dem umgestürzten Wagen lagen zwei Polizisten. Walküre ging zu dem einen, Skulduggery zum anderen. Sie kauerte sich neben ihn und fühlte nach dem Puls.
„Der hier lebt“, stellte sie fest.
„Der nicht“, entgegnete Skulduggery. „Aber ich glaube inzwischen nicht mehr, dass die Restanten sich so weit hinauswagen. Ich würde eher sagen, sie haben Panik und halten alle zurück.“
„Du meinst, sie begnügen sich damit, einfach nur herumzusitzen und zu warten, bis wir kommen?“
„Warum nicht? Sie wissen, dass wir irgendwann zu ihnen kommen müssen. Wahrscheinlich fliegen ein paar Späher herum und kontrollieren die Außenbezirke. Von jetzt an müssen wir sehr vorsichtig sein.“
Sie drehten sich um und gingen zum Van zurück. Sanguin kam ihnen entgegen.
„Steig wieder ein“, befahl Skulduggery.
„Wir haben“, begann Sanguin, „da möglicherweise ein kleines Problem.“ Er lallte, als sei er betrunken.
Dann brach er zusammen. Ein roter Lichtstrahl traf Skulduggery und trieb ihn bis auf die Kreuzung zurück. Er krachte in das umgestürzte Polizeiauto und flog darüber hinweg. Walküre machte einen Satz zur Seite. Sie sah, dass die Türen des Vans offen standen. Grässlich lag daneben auf dem Boden und China kam mit einem wunderschönen Lächeln auf den schwarzen Lippen auf sie zu.
Walküre hob die Hand, doch China schleuderte einen messerscharfen roten Lichtstrahl nach ihr. Er traf ihre Jacke und es war, als hätte sie die Finger in eine Steckdose gesteckt. Sie zuckte zurück und fiel auf die Knie.
„Es wird Zeit, dass du mitkommst“, sagte China. „Du hast uns alle sehr beeindruckt, aber eigentlich war das gar nicht nötig. Du bist Darquise. Mehr brauchten wir nicht zu wissen.“
China beugte sich zu ihr hinunter, zog ihr den goldenen Schlüssel aus der Jackentasche und steckte ihn ein. „Wenn ich ganz ehrlich bin, glaube ich nicht, dass dir der noch viel nützt.“
Jemand kam hinter dem Van hervor. Als Walküre wieder klar sehen konnte, warf sich Tanith gerade von hinten auf China. Sie rutschten auf dem Eis aus und gingen zu Boden, doch Tanith sprang sofort wieder auf. China trat um sich, erwischte sie am Bein und stieß sie zurück, stand auf, tippte auf ihre Unterarme und breitete die Arme danach weit aus. Tanith wich der Welle aus blauer Energie aus, durchbrach Chinas Deckung und ließ ihre Faust in ihre Wange krachen. Danach flogen ihre Fäuste nur so. Ein Schlag traf China in die Rippen, sie rang nach Luft und wich zurück, doch es gelang ihr, den nachgesetzten Tritt abzublocken. Sie versuchte, sich etwas Freiraum zu verschaffen, doch Tanith kam schon wieder heran.
China schlug die Knöchel beider Hände zusammen und die Tattoos leuchteten kurz rot auf. Der erste Schlag verfehlte Tanith, doch der zweite traf sie in die Brust. Tanith stürzte und schlitterte über den vereisten Boden.
Für einen Augenblick sah Walküre das leuchtende Symbol in Chinas rechter Handfläche, bevor diese Taniths Handgelenk packte. Ein schier unerträglicher Schmerz durchzuckte Tanith und sie schrie laut auf. Instinktiv trat sie um sich und ihr Stiefel traf Chinas Brustkorb. China stöhnte und ließ los. Tanith rappelte sich auf und griff erneut an. Sie duckte sich, bohrte die Schulter in Chinas Bauch und schlang die Arme um ihre Beine. So hob sie China hoch, schmetterte sie auf den Boden und landete auf ihr. Mit dem linken Arm drückte China Tanith an sich, sodass diese nicht den Raum hatte, um richtig zuschlagen zu können. Tanith konzentrierte sich darauf, Chinas rechte Hand mit dem leuchtenden Symbol von sich wegzuhalten.
In Walküres Beine kehrte das Gefühl zurück und sie stand auf. Ihre Gedanken mussten sich noch sortieren.
Tanith stieß China von sich und sie kamen gleichzeitig auf die Beine. Tanith griff als Erste an, doch China parierte den Hieb und führte einen Karateschlag gegen Taniths Bizeps. Tanith wich zurück; ihr rechter Arm hing schlaff herunter. China nutzte das aus und versetzte ihr einen gewaltigen Kinnhaken, worauf Tanith sich um ihre eigene Achse drehte und auf die Knie fiel.
Plötzlich warf sich Sanguin auf China und schlang einen Arm um ihren Hals. Sie stolperten beide rückwärts, doch statt seinen Arm wegzudrücken, legte China eine Hand auf ihren Bauch. Blaue Energie knisterte durch ihren Körper und warf Sanguin ab. Er landete auf dem Bürgersteig und China wandte sich wieder Tanith zu. Sie aktivierte die Symbole in ihren Handflächen, trat dicht an sie heran und umfasste ihren Kopf mit beiden Händen. Tanith bäumte sich auf und schrie.
Walküre drückte gegen die Luft, doch es fehlte die Konzentration und sie brachte nur eine leichte Brise zustande, die mit Chinas Haaren spielte. China blickte sie an und ließ Tanith los, die neben ihr zusammenbrach. Walküres Beine knickten ein und sie fiel. Sie sah, wie ein Restant zu Tanith schwirrte, doch China hob eine Hand.
„Nein, lass sie“, befahl sie. „Sie ärgert mich. Nimm den Vernarbten.“
Der Restant blieb kurz in der Luft stehen, als wollte er nicht so recht, doch dann schoss er auf Grässlich zu. China wandte sich wieder Walküre zu. „Komm jetzt“, sagte sie, „deine Anhänger warten.“