Kenny
Mit Autos kannte Kenny Dunne sich nicht aus. Er wusste das Nötigste, das musste man ihm fairerweise lassen. Er wusste, was Räder sind. Er wusste, wie man die Türen öffnet und schließt. Er wusste sogar, wo man das Zapfding reinstecken musste, wenn das Auto Benzin brauchte. Das Wesentliche beherrschte er, gerade so viel, dass er zurechtkam. Mehr aber auch nicht. Doch selbst ein Mann wie Kenny erkennt es als schlechtes Zeichen, wenn während der Fahrt Rauch unter der Motorhaube hervorquillt.
Das Auto stotterte und hustete und würgte und Kenny umklammerte das Lenkrad fester. „Nein“, flüsterte er. „Bitte.“ Als Antwort rülpste und ruckelte das Auto. Wabernder Rauch vor der Windschutzscheibe verdeckte ihm die Sicht. Vor seinem geistigen Auge sah er den Wagen schon in einem riesigen Feuerball explodieren. Hektisch löste er den Sicherheitsgurt und sprang auf die Straße. Ein Hupkonzert ertönte. Kenny machte einen Satz zur Seite, um einem fluchenden Radfahrer auszuweichen, der wie eine schlecht gelaunte Rakete an ihm vorbeischoss. An einem Sonntagmorgen war der Verkehr auf Dublins Straßen normalerweise nicht so schlimm. An einem Sonntagmorgen, an dem ein wichtiges Spiel angesetzt war, war der Verkehr auf Dublins Straßen fürchterlich. Autofahrer mit der Fahne ihrer Mannschaft am Wagen warfen ihm wütende Blicke zu, weil sie gezwungen waren, die Spur zu wechseln.
Kenny lächelte entschuldigend. Dann drehte er sich zu seinem Wagen um. Er war noch nicht explodiert. Kenny griff hinein, zog seine Tasche heraus und schaltete die Zündung aus. Das Auto keuchte und überließ sich dankbar seinem frühen Tod. Kenny ließ es auf der Straße stehen und winkte ein Taxi heran.
Er war spät dran. Er konnte es nicht fassen, dass er so spät dran war. Er konnte nicht fassen, dass er nach all den Jahren des Zuspätkommens zu allen möglichen Anlässen seine Lektion immer noch nicht gelernt hatte. Wie viele Interviews hatte er vermasselt, weil er unfähig war, pünktlich zu erscheinen. Schauspieler, Rockstars, Politiker, Geschäftsleute, Bürger, sowohl reiche und berühmte als auch arme und unbekannte – zu sämtlichen Treffen war er zu spät gekommen. Für einen Journalisten war dies keine empfehlenswerte Angewohnheit, das musste er zugeben, vor allem, da sämtliche Zeitungen Stellen abbauten. Printmedien seien tot, hieß es. Allerdings nicht so tot wie Kenny, wenn er den Artikel bis zum Ende des Monats nicht fertig hatte.
Die Geschichte war pikant. Sie war schillernd und bizarr und einzigartig – die Art von Geschichte, die von anderen Zeitungen rund um den Globus übernommen werden könnte, vielleicht sogar von ein paar Zeitschriften. Wenn Kenny sich diese Möglichkeit vorstellte, wurde ihm der Mund wässrig. Endlich mal wieder richtig Geld auf die Hand. Essen im Kühlschrank und eine Weile keine Sorgen um die Miete. Vielleicht sogar ein halbwegs anständiges Auto, wenn er wirklich Glück hatte.
Er schaute auf seine Uhr. Eine Viertelstunde zu spät. Er biss sich auf die Lippe, trommelte mit den Fingern auf seiner Tasche herum und versuchte, die Straße vor ihnen mit schierer Willenskraft leer zu fegen. Er wusste nicht, wie lange sein Informant warten würde, und er bezweifelte, dass er eine zweite Chance bekommen würde, falls er diese vergurkte. Paul Lynch aufzustöbern, war schon nicht einfach gewesen. Aber sich in einer Stadt wie Dublin mit einem Obdachlosen zu verabreden, war in jedem Fall kompliziert. Lynch hatte schließlich kein Telefon oder so.
Das Taxi kroch zur nächsten Ampel und Kenny hätte fast gewimmert.
Wahrscheinlich war es ziemlich unvernünftig, so große Hoffnungen in einen einzigen Artikel zu setzen, der noch nicht einmal eine Auftragsarbeit war, aber er hatte einfach keine andere Wahl. Kenny brauchte einen Neuanfang. Seine Karriere hatte sehr vielversprechend begonnen. Er hatte einige viel beachtete Interviews und Artikel zustande gebracht, doch dann war ihm alles entglitten. Er hatte es kommen sehen, jedoch nichts dagegen tun können. Jetzt arbeitete er freiberuflich, bekam den einen oder anderen Auftrag, doch meist überließen die Herausgeber es ihm, die Geschichten aufzuspüren. Und genau das hatte er getan.
Als ihm die Gerüchte vor etlichen Jahren zu Ohren gekommen waren, hatte er nichts darauf gegeben. Natürlich nicht. Sie waren verrückt. Er schrieb ein paar Artikel über den neuen Trend in den modernen Großstadtlegenden, doch mehr hatte er nie darin gesehen. Aber sie hielten sich hartnäckig, diese Geschichten von merkwürdigen Leuten mit merkwürdigen Kräften, die merkwürdige Dinge taten. Unvorstellbare Dinge und nicht nur die fixen Ideen von Verrückten und Personen, die unter Wahnvorstellungen litten oder verwirrt waren. Solche Geschichten gab es überall. Immer wieder mal tauchten sie im Internet auf und verschwanden fast sofort wieder. Ein paar der Berichte, denen er nachgegangen war, hatten sich als Enten herausgestellt. Angebliche Zeugen taten auf einmal so, als hätten sie keine Ahnung, wovon er sprach. Er war kurz davor gewesen, die ganze Sache zu vergessen, als er Lynch traf. Lynch war Kennys Verbindungsmann. Nach all den Jahren, in denen er gelegentlich recherchiert hatte, war Lynch sein erster verlässlicher Hinweisgeber gewesen – so verlässlich ein nuschelnder Obdachloser jedenfalls sein konnte. Und Kenny hatte den Eindruck, dass er jetzt bereit war, alles preiszugeben, was er wusste. Schon drei Mal hatte Kenny mit ihm gesprochen und er glaubte, langsam sein Vertrauen gewonnen zu haben.
Heute war der Tag, das wusste er. Wenn er nur rechtzeitig da sein konnte.
Das Taxi hielt erneut und Kenny verlor die Geduld. Er bezahlte den Fahrer, stürzte aus dem Wagen, warf seine Tasche über die Schulter und rannte los.
Nach zwanzig Sekunden bereute er diesen Schritt bereits. Er war seit Jahren nicht mehr gerannt. Gütiger Himmel, rennen war ja richtig anstrengend! Und man kam ins Schwitzen dabei. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er war völlig außer Atem. Die Schienbeine taten ihm weh.
Er wankte zur nächsten Ecke und hielt ein Taxi an. Es war dasselbe, aus dem er eben ausgestiegen war.
„Ist Ihnen wohl nicht bekommen, was?“, fragte der Fahrer selbstgefällig.
Kenny japste und keuchte nur auf dem Rücksitz.
Endlich erreichten sie den Park, Kenny bezahlte den Fahrer ein zweites Mal und lief dann über den Rasen. Überall waren Leute. Sie lagen lang ausgestreckt in der Maisonne, lachten und redeten. Andere schlenderten umher und aßen Eis. Kleine Hunde flitzten hinter ihren Herrchen her. Irgendwo spielte Musik. Der Teich glänzte.
Kenny sah Lynch abseits von allen anderen im Schatten sitzen. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging hinüber, etwas langsamer jetzt. Er hob die Hand und winkte, doch Lynch winkte nicht zurück. Er saß einfach nur mit hängenden Schultern da, den Rücken an das Geländer gelehnt. Wahrscheinlich hatte er schlechte Laune.
Wenn er tatsächlich ein Medium gewesen wäre, hätte er Kennys Verspätung vorhergesehen und es gäbe jetzt keine Probleme. Aus Kennys Lächeln wurde ein Strahlen.
„Tut mir leid“, entschuldigte er sich, als er in den Schatten trat. „Der Verkehr, Sie wissen schon. Dann hat das Auto auch noch den Geist aufgegeben und ich musste mir ein Taxi nehmen.“
Lynch sagte nichts dazu. Er hob nicht einmal den Kopf.
Kenny blieb noch einen Augenblick unschlüssig stehen, dann zuckte er mit den Schultern und setzte sich. „Ein herrlicher Morgen, nicht wahr? Kein Mensch kann vorhersagen, wie so ein irischer Sommer werden wird. Wollen Sie ein Eis oder sonst etwas? Ich hätte jetzt wahnsinnig Lust auf ein Eis.“
Wieder keine Antwort. Lynch hatte die Augen geschlossen.
„Paul?“
Kenny stupste seinen einzigen verlässlichen Hinweisgeber an. Stupste ihn noch einmal an. Dann sah er das Blut auf Lynchs Hemd und er packte und schüttelte ihn. Lynns Kopf fiel nach hinten und man sah die Kehle und den langen, glatten Schnitt. Wie ein rotes Auge, das sich öffnete.