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DIE TAUFE

Walküre Unruh hielt ihre kleine Schwester auf dem Arm und hoffte inständig, dass sie den Tag überstehen würde, ohne eine Ladung ausgespuckter Babymilch abzubekommen. Sie hatte es gerade noch rechtzeitig von dem Polizeiposten nach Hause geschafft, um sich umziehen zu können. Ein Top war bereits untragbar geworden, noch bevor sie das Haus überhaupt verlassen hatten. Und es war ein hübsches Top gewesen, das supergut zu ihrer Jeans gepasst hatte.

„Bitte“, flüsterte sie der kleinen Alison zu, „spuck mich nicht noch einmal voll.“

Alison blickte sie mit ihren großen blauen Augen an, versprach jedoch nichts.

Walküre kniff gegen das helle Sonnenlicht leicht die Augen zusammen und schaute noch einmal zurück in die Kirche. Alison war nicht das einzige Baby, das an diesem Tag getauft worden war. Die Kirche war voller lachender und plaudernder Familienangehöriger mit Camcordern, die jedes Gurgeln und jedes Geheul festhielten. Vielleicht war sie nicht ganz unvoreingenommen, aber Walküre war der festen Überzeugung, dass keines der anderen drei Babys auch nur halb so süß war wie ihre drei Monate alte Schwester. Sie konnten ihr einfach nicht das Wasser reichen. Eigentlich eine traurige Sache. Diese Babys waren im Niedlichkeitswettkampf bereits ausgeschieden, würden es aber erst in etlichen Jahren so richtig begreifen. Eine echte Tragödie.

Sie blickte auf ihre Schwester hinunter. „Du tust noch nicht wirklich viel, oder? Für die meisten Dinge sind deine Fähigkeiten noch ziemlich eingeschränkt. Mum sagt, dass ich mit dir reden muss, damit du dich an meine Stimme gewöhnst. Wenn sie das meint, rede ich eben mit dir. Damit du es gleich weißt: Mich gibt es in zweifacher Ausführung. Da bin einmal ich, die echte Walküre, und dann gibt es noch mein Spiegelbild. Das Spiegelbild sieht aus wie ich, redet wie ich und verhält sich wie ich, aber es ist nicht ich. Es tritt aus meinem Spiegel, geht für mich zur Schule und macht die Hausaufgaben für mich und, ja, manchmal passt es auch auf dich auf. Aber das ist mir eigentlich nicht recht. Ich lasse dich ungern in der Obhut von etwas, das keine Gefühle hat, aber ich bin ein viel beschäftigtes Mädchen. So ist das nun mal.

Wenn du etwas älter bist, werden wir dir Geschichten von Prinzessinnen und Zauberern und magischen Kräften vorlesen und ein paar Jahre lang lassen wir dich in dem Glauben, dass es Magie tatsächlich gibt. Und dann – und das ist wirklich übel – erklären wir dir, dass es den größten Teil der Magie doch nicht gibt. Wir werden dir sagen, dass Menschen nicht fliegen und sich nicht gegenseitig in Frösche verwandeln können und dass es keine magisch-mystischen Monster gibt. Aber unter uns: Das ist eine riesengroße Lüge! Es gibt Magie, Menschen können fliegen und es gibt Monster … Bei der Einander-in-Frösche-verwandeln-Geschichte bin ich mir allerdings nicht ganz sicher. Aber wer wollte das schon? Das wäre ja echt krass.“

Walküre begann, ihren Oberkörper leicht hin und her zu wiegen, während sie im Kreis ging. „Wer ist eine süße Maus? Wer ist eine süße Maus? Na, wer wohl? Du bist eine süße Maus! Und wer hört sich im Moment reichlich bescheuert an? Na, wer wohl? Ich etwa? Jawohl, ich!“

Sie blickte wieder auf das Baby hinunter, sah, wie es zu ihr aufschaute, und musste lachen. „Mein Gott, bist du niedlich. Meinetwegen könntest du immer so bleiben, aber das wäre dann doch ein bisschen komisch. Besonders wenn du in das Alter kommst, in dem man sich mit Jungs verabredet.

Wir sind eine merkwürdige Familie, weißt du das? Wahrscheinlich hast du es inzwischen schon gemerkt. Mum ist noch einigermaßen normal, auf ihre Art. Aber wenn sie mit Dad redet, zeigt sie sich von einer ganz anderen Seite – einer ausgesprochen albernen Seite. Er übt einen schlechten Einfluss auf sie aus, unbedingt. Unser Dad ist nämlich eine komische Nummer. Mh-hmm. Komischer geht’s fast nicht. Onkel Fergus ist auch komisch, aber nicht auf eine nette Art. Er ist einfach nur permanent gemein. Schade, dass du Gordon nicht mehr kennengelernt hast. Gordon hätte dir gefallen. Er war ein cooler Onkel.“ Sie küsste das Baby auf die Wange und behielt den Kopf unten. „Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“, flüsterte sie. „Magie liegt bei uns in der Familie. Vielleicht hast du ja auch magische Kräfte. Eines Tages wirst du vielleicht all die Dinge tun, die ich tun kann. Eines Tages wirst du vielleicht genau wie ich einen neuen Namen annehmen müssen. Oder vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht, ob ich dir das wünsche. Wenn man erst einmal die andere Seite gesehen hat, ist normal sein gar nicht mehr so übel. Ich weiß, dass es nicht fair wäre, dir das zu verschweigen, aber ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Verstehst du das? Das würde mich umbringen.“

Das Baby streckte die kleine Hand aus und griff nach einer Strähne von Walküres Haar.

„Ich bin froh, dass wir uns verstehen. Für jemanden mit einem so kleinen Gehirn bist du ausgesprochen clever, weißt du das?“

Alison gurgelte.

Walküre ging mit ihrer kleinen Schwester in die Kirche zurück und steuerte ihre Familie an. Ihre Tante löste sich aus der Gruppe. Sie hatte das Haar streng aus dem Gesicht gekämmt und blickte verkniffen. Das ließ nichts Gutes ahnen.

„Hallo, Stephanie, du hältst sie falsch“, rügte Beryl.

„Sie scheint sich recht wohlzufühlen“, erwiderte Walküre betont höflich.

Beryl streckte die schmalen Hände aus. „Nein, nein, nein. So ist es richtig.“ Doch wie immer nahm Alisons feines Gespür die drohende Gefahr wahr. Sie drehte den Kopf, sah Beryl und brüllte los. Beryl zuckte augenblicklich zurück. Als die Tante sich gebührend weit entfernt hatte, hörte Alison auf zu heulen, schnappte sich einen Knopf an Walküres Top und nuckelte daran.

„Sie ist schon den ganzen Tag nicht gut drauf“, log Walküre, zufrieden mit dem Ausgang der Geschichte. Beryl grunzte; ihre brandneue Nichte beeindruckte sie offenbar nicht besonders. Walküre nickte leicht nach hinten. „Mum und Dad sind da drüben“, sagte sie. „Sie wollten schon die ganze Zeit mit dir reden. Mum findet dein Kleid wunderschön.“

Beryls Augenbrauen zuckten wie zwei winzige Bandwürmer. „Das? Aber das ist doch schon uralt.“

Das Kleid war beige und hätte an einer Achtzigjährigen besser ausgesehen. Auch an einem achtzigjährigen Mann.

„Ich finde, es ist dir wie auf den Leib geschneidert“, schwärmte Walküre.

„Und ich dachte immer, es sei etwas formlos.“

Am liebsten hätte Walküre zugegeben, dass sie genau das gemeint hatte, doch sie widerstand der Versuchung.

Beryl brach die Unterhaltung in der ihr üblichen Art ab, ohne jede Vorwarnung, und zog ab, ihren Mann im Schlepptau hinter sich. Es war zum Schreien, wie Fergus dem Baby im Vorbeigehen zunickte, als erwartete er, dass Alison zurücknickte. Walküre dagegen bedachte er mit einem ziemlich finsteren Blick. Sie hatte keine Ahnung, womit sie das verdient hatte.

Als sie Carol und Crystal auf sich zukommen sah, wappnete sie sich gegen den bevorstehenden Angriff. Früher hätte sie von ihren Cousinen an einem solchen Tag lahme Sticheleien und wenig originelle höhnische Bemerkungen gehört. Was sie inzwischen zu erwarten hatte, war leider sehr viel schlimmer.

„Hi, Walküre“, flüsterte Carol.

Crystal rammte Carol den Ellbogen in die Seite. „Du sollst sie nicht so nennen!“

Carol warf ihr einen finsteren Blick zu. „Ich habe geflüstert. Kein Mensch hat es gehört.“

„Du solltest sie trotzdem nicht so nennen. Nenn sie Stephanie!“

Einige weitere wertvolle Augenblicke Leben wurden Walküre auf Nimmerwiedersehen entrissen.

„Okay.“ Carol sah nicht erfreut aus. „Hallo, Stephanie, wie geht’s?“

„Mir geht es gut“, antwortete Walküre und redete gleich weiter. Es war ein Versuch, die Unterhaltung an sich zu reißen und in ruhige Allerweltsgewässer zu führen. „Was treibt ihr so? Was macht das College? Freut ihr euch schon auf die Sommerferien? Deine Schuhe sind super, Crystal. Deine Füße sehen darin wirklich toll aus. Ist Alison nicht süß?“

Sie drehte sich so, dass die beiden ihre Schwester sehen konnten. Die Zwillinge murmelten etwas von „allerliebst“ und dann war es, als existierte Alison überhaupt nicht.

„Wir haben nachgedacht“, begann Carol und beide Mädchen traten näher, damit niemand mithören konnte. „Weißt du noch, wie du gesagt hast, wir seien nicht groß genug, um Magie zu lernen? Wir sind nicht sicher, ob das wirklich zutrifft. Als du damit angefangen hast, warst du viel kleiner, als wir es jetzt sind. Richtig? Und dann sind da ja auch noch die Elben.“

Walküre blinzelte. „Bitte?“

„Elben“, wiederholte Crystal. „Du weißt schon, die mit den spitzen Ohren. Sie sind ziemlich klein, oder? In manchen Filmen haben sie normale Größe, klar, aber meistens sind sie klein und sie können zaubern.“

„Hm, Elben existieren nicht wirklich“, gab Walküre zu bedenken.

Carol blickte ihre Schwester an und seufzte. „Hab ich’s dir nicht gesagt?“

Crystal warf ihr einen finsteren Blick zu und wandte sich dann wieder an Walküre. „Warum existieren sie nicht wirklich?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir darauf eine – äh – Antwort geben kann.“

Crystal schien verwirrt. „Und was ist mit Kobolden?“

„Oh. Okay, Kobolde gibt es. Also gut, passt auf, es hat nichts mit der Körpergröße zu tun, sondern mit dem Risiko. Tatsache ist: Magie ist gefährlich. Ich bin schon so oft zusammengeschlagen worden, dass ich es gar nicht mehr zählen kann. Man hat mir Knochen gebrochen und Zähne ausgeschlagen und vor fünf Monaten war ich einen halben Tag lang technisch gesehen tot. Es wurde sogar eine Autopsie an mir vorgenommen.“

„Wie hat sich das angefühlt?“

„Unangenehm, wie zu erwarten war.“

Carol bekam glänzende Augen. „Aber du kannst zaubern und die Welt retten und mit coolen Typen abhängen.“

„Und Freunde haben“, ergänzte Crystal.

„Und was können wir? Wir können aufs College gehen und Examen machen und Pickel kriegen und einen Freund werden wir nie bekommen.“

Walküre rang sich ein Lächeln ab. „Pickel kriege ich auch. Die kriegt jeder. Und ihr habt beide schon jede Menge Freunde gehabt.“

Crystal schüttelte den Kopf. „Keinen wie Fletcher. Er ist nett.“

„Und ich würde sie auch nicht Freunde nennen“, murmelte Carol. „Wir wollen einfach das, was du auch hast, Stephanie. Wir wollen Spaß haben und besondere Kräfte und wir wollen aufregende Sachen machen. Wir haben alles besprochen und wir wollen, dass du uns das Zaubern beibringst.“

„Ich halte das für keine gute Idee.“

„Wir halten es für eine sehr gute Idee.“

„Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es gar nicht. Ich habe einfach keine Zeit. Tanith ist immer noch irgendwo da draußen und sie hat einen Restanten in sich. Sie ist mit Billy-Ray Sanguin zusammen und sie weiß entschieden zu viel über mich und meine Familie. Ich muss sie finden und ihr irgendwie helfen. Außerdem muss ich das Ende der Welt aufhalten und … Es wäre einfach zu gefährlich, wenn ich jetzt anfangen würde, euch Dinge beizubringen.“

„Nur ein paar Tricks“, quengelte Crystal.

„Man spricht nicht von Tricks“, entgegnete Walküre.

„Dann eben Illusionen.“

„Es sind auch keine Illusionen.“

„Zauberkunststückchen?“

Walküre zögerte. „Okay, ihr könnt sie Tricks nennen.“

„Zeig uns wenigstens ein paar kleinere“, bat Carol. „Fliegen zum Beispiel.“

„Fliegen gehört nicht zu den kleineren.“

„Kannst du schon fliegen?“

„Nein, kann ich nicht. Fliegen kann nur Skulduggery.“

„Dann kann er es uns vielleicht beibringen.“

Walküre musste unwillkürlich lächeln. „Das bezweifle ich stark.“

Als die Zwillinge plötzlich anfingen, an ihren Haaren herumzuzupfen, wusste Walküre, dass Fletcher gekommen war.

„Hallo, Ladys“, begrüßte er sie und legte den linken Arm um Walküres Taille.

„Hallo, Fletcher“, grüßten die Zwillinge im Chor zurück.

„Habt ihr ein schönes Fest?“, fragte er. „Ich war noch nie bei einer Taufe und ich muss zugeben, es wirkt ein wenig … na ja, langweilig. Aber auf eine nette Art.“

„Ich fand es auch echt langweilig“, stimmte Carol ihm zu, bevor Crystal eine Chance hatte. „Und das meiste von dem, was der Pfarrer gesagt hat, habe ich gar nicht verstanden.“

„Ich hab überhaupt nicht zugehört“, gab Crystal zu. „Es ging irgendwie um Babys. Deine Frisur gefällt mir heute total gut. Das Haar steht super.“

Walküre stöhnte. „Bestärkt ihn nicht auch noch.“

Fletcher lachte und gab ihr rasch einen Kuss. „Leider müssen wir kurz weg“, verkündete er.

„Ach ja?“, fragte Walküre. Er nickte sehr ernst. „Ah.“ Sie hatte verstanden. „Tja, Leute, wir müssen los.“

Carol bekam große Augen. „Gibt es Probleme? Sind wir in Gefahr?“

„Geht die Welt unter?“, fragte Crystal. Die Zwillinge schauten zur Kirchendecke hinauf, als erwarteten sie, dass sie Risse bekäme und auf sie herabstürzte.

„Macht euch keine Sorgen“, beruhigte Walküre sie kichernd. Dann ging sie zusammen mit Fletcher hinüber zu ihren Eltern. „Sie brauchen sich doch wirklich keine Sorgen zu machen, oder?“

Er zuckte mit den Schultern. „In den nächsten Tagen wird wohl noch nichts passieren.“

„Hast du herausgefunden, wo Bernadette Maguire wohnt?“

„Skulduggery ist schon dort und wartet darauf, dass ich mit dir zurückkomme.“

Sie grinste ihn an. „Hattet ihr eine gute Fahrt?“

„Es hat zwei Stunden gedauert“, knurrte er. „Und er hat mir Sprechverbot erteilt. Weißt du, wie das ist, zwei Stunden Auto zu fahren, ohne reden zu können?“

„Nein. Wie ist es?“

„Langweilig.“

Sie nickte. „Ich hätt’s mir denken können.“

Sie waren bei ihren Eltern angelangt und Walküres Mum strahlte, als Walküre ihr Alison in die Arme legte.

„Da ist es ja“, gurrte ihre Mutter mit Blick auf das Baby, „mein allerbestes Supermädchen.“

„Na, herzlichen Dank.“ Walküre verdrehte die Augen.

Ihre Mutter lachte. „Hallo, Fletcher, wann bist du denn gekommen?“

„Gerade eben. Tut mir leid, aber die Busverbindungen sonntags sind eine Katastrophe.“

„Hättest du uns doch angerufen – Desmond hätte dich abholen können.“

„Nein, hätte ich nicht“, widersprach Walküres Dad. Er hatte die letzten Worte mitgehört. „Sorry, Fletcher, aber ich musste wichtigen väterlichen Pflichten nachkommen, unter anderem frühstücken, duschen und meine Hose finden. Nur zwei von diesen dreien habe ich geschafft. Kannst du, ohne nach unten zu schauen, erraten, welche Pflicht ich nicht erfüllen konnte?“

Walküres Mutter seufzte. „Des, es ist noch zu früh am Tag für deinen Quatsch. Isst du mit uns zu Mittag, Fletcher?“

„Gern.“ Fletcher lächelte zurück. „Ich muss mir nur kurz Stephanie ausleihen.“

„Nimm unsere Tochter ruhig“, meinte Walküres Dad und wedelte unbekümmert mit der Hand. „Wir haben jetzt eine neue.“

Walküre lachte, als sie mit Fletcher zwischen den Leuten hindurchging. Sie verließen die Kirche und gingen um die Ecke. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass niemand sie beobachtete, drehte sich Fletcher zu ihr um und küsste sie. Im selben Moment, in dem ihre Lippen sich berührten, teleportierten sie. Die Kirche und das Gras und der Sonnenschein verschwanden; ersetzt wurden sie durch ein Cottage, auf das der Regen herunterprasselte.

Walküre beendete den Kuss sofort und machte einen Satz zur Seite auf den Bentley zu, der unter dem Schutz eines Baumes stand. Fletcher trat zu ihr.

Sie blickte ihn finster an. „In Haggard sticht der Planet vom Himmel. Meinst du nicht, dass es einigermaßen wichtig wäre, trockene Klamotten zu haben, wenn wir nachher zurückteleportieren?“

„Du hast mal wieder recht“, gab Fletcher zu. „Es gibt einfach gute Gründe, weshalb du das Mädchen bist und ich der Junge. Du denkst über die Dinge nach, während ich …“

„Nicht nachdenke?“

„Genau“, bestätigte er vergnügt.

Skulduggery kam vom Cottage herüber. Er hielt die behandschuhten Hände hoch, um den Regen von sich abzulenken. Sein Anzug hatte noch keinen Tropfen Wasser abbekommen und sein Hut saß gekonnt schief. Seine Gesichtshaut war fahl, doch als er näher kam, tippte er auf die beiden in seine Schlüsselbeine geritzten Symbole. Die Gesichtszüge rutschten weg und zum Vorschein kam der Schädel. „Tut mir leid, dass ich dich wegholen musste“, entschuldigte er sich bei Walküre.

Sie zuckte mit den Schultern. „Bei der Taufe selbst war ich ja dabei. Was jetzt kommt, ist nur noch ein Familientreffen, und da reicht mir Weihnachten. Ist die alte Dame zu Hause?“

„Ich habe an sämtliche Türen und Fenster geklopft, aber keine Antwort bekommen“, antwortete er. „Wir werden einbrechen müssen.“ Fletcher streckte die Hände aus, doch Skulduggery schüttelte den Kopf. „Sich ausschließlich auf Teleportation zu verlassen, macht faul. Wir erledigen das jetzt auf die altmodische Art. Walküre, würdest du bitte den Regen abhalten?“

Er drehte sich um und ging zum Cottage zurück. Walküre folgte ihm rasch. Sie hob die Arme und formte mit der Luft einen Schild.

„Du solltest dir wirklich angewöhnen, auch Wasser zu manipulieren, anstatt immer nur mit der Luft zu arbeiten“, rügte er. „Früher oder später wärst du froh, du hättest mehr geübt. Es macht ausgesprochen wenig Sinn, ein Elementezauberer zu sein, wenn du nur zwei Elemente benutzt.“

„Aber Luft und Feuer sind nun mal die praktischsten“, verteidigte sie sich in gespielter Verzweiflung. „Feuchtigkeit zu manipulieren, macht mich einfach nicht so an. Und was Erde betrifft …“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

Vor der Haustür kniete Skulduggery sich hin und hantierte mit dem Dietrich herum. Fletcher stellte sich hinter Walküre und versuchte, den Regentropfen auszuweichen, die durch ihren Schutzschild fielen.

„Aber deinen Unterricht im Totenbeschwören lässt du nicht ausfallen. Habe ich recht?“, fragte Skulduggery.

„Schon, aber da brauche ich auch mehr Stunden, weil Solomon ein viel schlechterer Lehrer ist als du.“ Er schaute sie an. Sie grinste, dann zuckte sie mit den Schultern. „Außerdem habe ich in letzter Zeit mit dir nur Kampftraining gemacht. Das mit der Elementemagie kriege ich wieder auf die Reihe. Versprochen.“

Skulduggery grunzte. Seit sie Tanith Low an einen Restanten verloren hatten, brachte er Walküre andere Dinge bei als früher. Taniths Schnelligkeit und Wendigkeit würde sie nie erreichen. Sich bei einer Begegnung mit ihr lediglich auf die verschiedenen Kampfsportarten zu verlassen, die sie beherrschte, würde folglich in einem Desaster enden. Die neuen Techniken waren hässlich, brutal und effektiv – pure Aggression, kein ehrlicher Wettstreit. Walküre hatte eine Weile gebraucht, bis sie sich daran gewöhnt hatte, aber die drohende Rückkehr Taniths hatte sie angespornt. Um einen Kampf würde sie nicht herumkommen, das wusste sie. Deshalb wollte sie hundertprozentig sicher sein, dass er nicht nach Taniths Regeln ablief.

Das Schloss klickte. Skulduggery stand auf, öffnete die Tür und streckte den Kopf hinein. „Hallo? Mrs Maguire? Sind Sie da?“ Er wartete. Keine Antwort. Er trat ein und Walküre folgte. Ohne Walküre lief Fletcher jetzt plötzlich Gefahr, dass seine Haare nass wurden, also lief er schnell hinterher. Bis auf das gleichmäßige Trommeln des Regens war alles still. Das Cottage war ordentlich aufgeräumt und roch nach alten Menschen. Walküre ging einen Schritt weiter hinein. Der Ring an ihrer rechten Hand wurde kälter.

„Hier drin liegt ein Toter“, flüsterte sie.

Langsam und vorsichtig betraten sie das Wohnzimmer. Überall standen kleine Porzellanfiguren herum und in einem Lehnstuhl saß eine sehr tote alte Frau.

Skulduggery zog seine Pistole.

„Warte“, zischte Fletcher. Er bekam ganz große Augen. „Schau sie dir doch an. Das war ein natürlicher Tod. Sie war alt. Alte Menschen sterben. Das haben alte Menschen so an sich.“

Skulduggery schüttelte den Kopf. „Hier drin war noch jemand.“

Er bedeutete ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren, und verließ den Raum. Fletcher blickte Walküre fragend an, doch sie konnte nur mit den Schultern zucken. Wenige Augenblicke später kam Skulduggery zurück und steckte die Pistole weg.

„Woher willst du wissen, dass noch jemand hier drin war?“, fragte sie.

Er wies mit dem Kinn hinter sich und zog dann eine kleine Tüte Regenbogenstaub aus der Tasche. „Schau dir die Figürchen an. Schreckliche Dinger, findest du nicht auch? Kleine Putten, billig und geschmacklos. Fällt dir auf, wie liebevoll sie aufgestellt wurden, alle im selben Abstand und alle blicken in dieselbe Richtung? Und jetzt sieh dir die neben dir an.“

Walküre schaute nach unten. Auf der Vitrine standen weitere fette kleine Porzellanengel mit Harfen oder Pfeil und Bogen völlig willkürlich angeordnet. „Sie sind heruntergefallen“, sagte sie, „und jemand hat sie in aller Eile wieder aufgestellt. Jemand, der sich nicht die Mühe gemacht hat, sie alle in dieselbe Richtung schauen zu lassen.“

Skulduggery zerrieb die Klümpchen in dem Pulver. Dann nahm er eine Prise und warf sie in die Luft. Sie senkte sich als kleines Wölkchen langsam wieder ab, wobei sie die Farbe wechselte. „Hier wurden fortgeschrittene Magie-Disziplinen angewandt“, murmelte er. „Welcher Art, ist schwer zu sagen. Aber es ist noch nicht lange her.“

„Wie lange?“, fragte Walküre.

Skulduggery steckte das Tütchen wieder ein. „Maximal zehn Minuten.“

Fletcher blickte sich um. „Dann könnte der Täter noch in der Nähe sein?“

Skulduggery zog seine Pistole wieder aus dem Halfter. „Die Möglichkeit besteht immer.“

Walküre tätschelte Fletchers Arm. „Keine Angst“, tröstete sie ihn, „wenn der schwarze Mann kommt, beschütze ich dich.“

„Wenn der schwarze Mann kommt“, erwiderte Fletcher, „stoße ich ganz tapfer einen hohen Schrei aus, um ihn zu erschrecken. Ich könnte sogar ganz tapfer in Ohnmacht fallen, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen. Das wäre dann für dich das Zeichen zum Angriff.“

„Wir geben ein prächtiges Team ab.“

„Du darfst nur nicht vergessen, dich die ganze Zeit vor mich zu stellen“, sagte er. Dann stieß er einen Schrei aus. Walküre machte einen Satz, Skulduggery wirbelte herum und Fletcher zeigte zum Fenster. „Da draußen“, rief er. „Der schwarze Mann! Da draußen!“

Skulduggery griff an. Er drückte mit der Hand gegen die Luft und das Fenster explodierte nach außen. Er sprang hinaus und Walküre und Fletcher folgten nur einen Augenblick später. Regen prasselte auf sie herunter. Der Boden war bereits aufgeweicht. Ein Mann mit Glatze rutschte auf dem Weg, der in den Wald führte, aus und fiel auf Hände und Knie. Er warf einen raschen Blick hinter sich und sie sahen, dass er eine lange Nase und einen lächerlichen Ziegenbart hatte, der weit unterhalb seines Kinns in dünnen Strähnen auslief. Er fummelte an irgendetwas herum, das sie nicht sehen konnten, dann sprang er auf und lief weiter. Er rutschte und schlitterte, fiel jedoch nicht mehr hin. Dort, wo er gestürzt war, stand eine hölzerne Kiste mit offenem Deckel.

„Zurück!“, rief Skulduggery. „Zurück ins Haus. Schnell!“

Walküre sprang als Erste wieder durch das zerbrochene Fenster und landete im selben Moment, in dem Fletcher hereinteleportierte. Skulduggery kam als Letzter. Er presste sich gegen die Wand.

„Versteckt euch“, flüsterte er.

Sie tauchten ab.

Draußen trommelte der Regen auf das Cottage. Walküre riskierte einen Blick zu Skulduggery hinauf.

„Womit haben wir es zu tun?“, flüsterte sie.

„Mit einer Kiste“, wisperte er zurück.

„Was für eine Kiste?“

„Eine hölzerne.“

Sie verdrehte die Augen. „Okay, dann versuche ich es so: Warum verstecken wir uns vor einer Kiste?“

„Tun wir ja gar nicht. Wir verstecken uns vor dem, was drin ist.“

„Und was ist drin?“

„Ist es ein Kopf?“, fragte Fletcher.

„Nein. Die Flimmer-Girls.“

Er lugte hinaus. Walküre richtete sich so weit auf, dass sie über das Fensterbrett schauen konnte. Die hölzerne Kiste stand im Regen auf dem matschigen Weg.

„Wer sind die Flimmer-Girls?“, wollte sie wissen.

„Drillinge“, antwortete Skulduggery. „Geboren 1933. Als sie sechs Jahre alt waren, versuchte etwas, durch sie in diese Welt zu gelangen.“

Durch sie?“

„Es pflanzte Samen in ihre Gehirne, sodass sie mit der Realität nicht mehr klarkamen. Es versuchte sie zu einem Kanal zu machen, durch den es heraustreten konnte.“

„Wovon reden wir hier?“, fragte Fletcher. „Von einem Gesichtslosen?“

„Nein, das glaube ich nicht. Hier war etwas anderes im Spiel. Ihre Eltern gerieten in Panik. Kein Arzt konnte helfen. Ihr dürft nicht vergessen, das war Irland in den 1930ern, abgeschnitten und isoliert von einer Welt, die ringsherum Fortschritte machte. Alle dachten, die Kinder seien vom Teufel besessen. Sie versuchten es mit Exorzismus, wieder und wieder, doch mit den Mädchen wurde es nur immer schlimmer. Dann hat man mich gerufen.“

„Konntest du helfen?“, fragte Walküre und lugte noch einmal hinaus. Die Kiste war immer noch nur eine Kiste.

„Sie hatten sich schon zu weit von der Realität entfernt“, erklärte Skulduggery. „Sie verbrachten ein qualvolles Jahr in der Irrenanstalt, waren festgeschnallt auf ihren Betten und zuckten und schrien.“

„Gütiger Himmel.“

„Ihre Eltern besuchten sie jeden Tag. Sie sangen ihnen vor, Kinderlieder und alte irische Volkslieder. Ich konnte nichts für sie tun. Das Ding oder was immer es war, das sie benutzt hat, hat wohl eingesehen, dass sein Plan nicht funktionieren würde. Es zog sich zurück. Es ging weg und ließ sie in Ruhe. Kurz darauf starben sie.“

„Das ist ja schrecklich.“

„Ja, das ist es.“

„Und wie kommt es, dass sie jetzt da draußen in dieser Kiste sind?“

Skulduggery zuckte mit den Schultern. „Sie kamen zurück. Keine arme Seele, die so gequält wurde, kann in Frieden ruhen. Da ist zu viel Schmerz, mit dem sie ganz allein fertigwerden müssen. Deshalb müssen sie ihn weitergeben. Das ist zumindest meine Theorie. In Wahrheit weiß niemand, weshalb sie zurückgekommen sind oder weshalb sie angefangen haben, Leute umzubringen. Aber genau das haben sie getan.“

„Und in der Kiste sind sie, weil …?“

„… jeder ein Zuhause braucht.“

„Verstehe. Warum wir uns vor ihnen verstecken, ist mir allerdings nicht ganz klar. Wenn sie in diese kleine Kiste passen, wie gefährlich können sie dann sein?“

„Wenn mich nicht alles täuscht, kannst du das gleich mit eigenen Augen sehen“, meinte Skulduggery. Er flüsterte jetzt wieder.

Walküre lugte hinaus.

Eine bleiche Hand tauchte aus der Kiste auf. Sie zitterte leicht, als sie länger wurde. Dann war es ein Arm, der sich bog. Die Hand umfasste den Rand der Kiste.

Walküre duckte sich.

„Was passiert da draußen?“, fragte Fletcher.

„Sie klettern heraus“, antwortete Walküre tonlos.

Fletcher wandte sich an Skulduggery. „Wenn sie so gefährlich sind, wie du sagst, lass uns abhauen. Lass uns hier verschwinden.“

„Sie müssen in Schach gehalten werden“, erwiderte Skulduggery. „Der Mörder hat sie hierhergebracht, um seinen Rückzug zu decken. Wir können nicht verschwinden. Kein Mensch kann sagen, was sie tun würden, wenn sie sich frei bewegen könnten.“

Walküre riskierte noch einen Blick. Im ersten Moment dachte sie, mit ihren Augen würde etwas nicht stimmen. Ein Mädchen kletterte aus der Kiste. Ein blondes, sechsjähriges Mädchen in einem weißen Kleid mit einer Schleife. Sie bewegte sich wie eine Figur aus einem schlechten Zeichentrickfilm, steif und ruckhaft. Es fehlte jede Geschmeidigkeit, wenn sie beim Gehen den Fuß hob und ihn wieder absetzte. Es gab kein anderes Wort dafür: Sie flimmerte.

Hinter ihr erschien wieder eine bleiche Hand.

„Wie kämpfen wir gegen sie?“, fragte Walküre leise.

„Keine Ahnung“, gab Skulduggery zu. „Fletcher, geh zu China. In ihren Büchern muss irgendetwas darüber stehen, wie man gegen diese Dinger vorgeht.“

Fletcher schüttelte den Kopf. „Ich gehe hier nicht weg.“

„Es war keine Bitte.“

„Dann kommt mit. Wenigstens Walküre. Ich lasse sie nicht hier zurück.“

Walküre drehte sich zu ihm um. „Doch, das tust du. Geh. Und beeile dich.“

Er fasste sie am Arm. „Nein, ich –“

Sie löste seine Hand von ihrem Arm. „Wir haben keine Zeit zum Diskutieren. Geh.“

Er schaute sie unschlüssig an, dann kniff er die Augen zusammen. „Bin sofort wieder da.“

„Ich warte.“

Er gab ihr nicht mal einen Kuss – er verschwand einfach.

Walküre drehte sich wieder zum Fenster um. „Mist“, flüsterte sie.

Alle drei Flimmer-Girls waren inzwischen aus der Kiste geklettert und alle drei kamen auf das Cottage zu.