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TRAUTES HEIM

Der Sonntagmorgen kam und ging und Walküre verschlief den größten Teil des Vormittags. Als sie aufwachte, blieb sie noch eine Weile liegen und starrte an die Decke. Sie dachte an Melancholia und Kranz und Moore und an Fletcher und Caelan. In der vergangenen Woche war alles entsetzlich kompliziert geworden, eines hatte sich zum anderen gefügt und dabei herausgekommen war ein heilloses Durcheinander. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, die jüngsten Ereignisse wirklich zu überdenken. Vielleicht war das sogar gut so.

Sie quälte sich aus dem Bett, duschte und zog sich an und ging dann nach unten. Ihre Eltern hatten am Nachmittag eigentlich etwas vor, doch als sie ins Wohnzimmer kam, stand ihr Vater über den Korbwagen gebeugt und stupste Alison mit dem Finger an. „Hallo, kleines Fräulein.“

„Desmond“, schimpfte ihre Mutter von der Couch her, „du sollst das Baby nicht knuffen.“

Ihr Vater hielt inne, machte ein betretenes Gesicht und beugte sich dann tiefer über das Körbchen. „Die Runde geht an dich“, flüsterte er, „aber ich werde mich räch …“

„Du sollst dem Baby auch nicht drohen.“

„Hab ich doch gar nicht“, verteidigte er sich und richtete sich rasch auf.

„Lass sie einfach in Ruhe. Du ärgerst sie.“

„Ich ärgere sie doch nicht. Sie hat nicht einmal genug Verstand, um sich zu ärgern. Sie ist schließlich gerade mal wie alt? Eine Woche?“

„Sie ist drei Monate alt.“

„In unserer Zeitrechnung ist sie drei Monate alt, aber in Babyjahren?“

„Geh weg von ihr. Steph, könntest du sie bitte rausnehmen? Es ist Zeit für ihr Fläschchen.“

Walküre ging zu dem Baby. Ihr Vater runzelte die Stirn.

„Warum hast du mich nicht gebeten, sie rauszunehmen? Ich habe direkt danebengestanden. Vertraust du mir nicht? Das ist es, hab ich recht? Du vertraust mir nicht.“

„Ich vertraue dir“, widersprach ihre Mutter. „Ich vertraue dir nur nicht übermäßig. Stephanie hat geschickte Hände.“

„Willst du geschickte Hände sehen?“ Ihr Vater ging zur Obstschale, nahm zwei Äpfel heraus und begann damit zu jonglieren. „Siehst du? Geschickter geht’s ja wohl kaum.“

Ihre Mutter blickte ihn stirnrunzelnd an. „Soll das heißen, du willst mit unserer jüngsten Tochter jonglieren?“

„Natürlich nicht. Ich könnte nur mit ihr jonglieren, wenn du Zwillinge gehabt hättest. So kann ich sie nur hochwerfen.“

„Steph“, bat ihre Mutter, „gib mir mein Baby und lass deinen Vater nie mehr in ihre Nähe.“

„Abgemacht.“ Walküre gab ihre Schwester an die Mutter weiter.

Ihr Vater legte die Äpfel in die Schale zurück. „Ihr scheint alle zu vergessen, dass ich kein blutiger Anfänger in diesen Sachen bin. Habe ich nicht schon eine wunderschöne Tochter? Und sie ist gut geraten, oder? Ich hab sie nicht ein einziges Mal fallen lassen.“

„Du hast sie fallen lassen, als wir im Zoo waren“, widersprach ihre Mutter.

Walküre wirbelte herum. „Du hast mich fallen lassen?“

„Ah, das hatte ich ganz vergessen. Zu meiner Verteidigung muss jedoch festgehalten werden, dass du ein sehr zappeliges Kind warst. Eben warst du noch da, und im nächsten Moment hast du, na ja, im Pinguingehege gesessen.“

Sie blinzelte. „Du hast mich ins Pinguingehege fallen lassen?“

„Ich hatte mich über das Geländer gebeugt und du bist mir einfach aus den Händen gerutscht. Du warst nicht verletzt oder so. Und selbst wenn, die Pinguine hätten dich sicher trotzdem bei sich aufgenommen und dich als eine der ihren aufgezogen. Dein Leben wäre anders verlaufen, aber schön wäre es trotzdem gewesen.“

„Ich kann’s nicht fassen.“

„Das konnten die Leute ringsherum auch nicht. Irgend so eine Verrückte kam auf mich zugestürmt und hat fünf Minuten auf mich eingeschrien, dass ich mein Kind nicht in Gefahr bringen solle.“

„Das war ich“, murmelte Walküres Mutter.

„Jetzt ergibt alles einen Sinn.“ Walküre ließ sich auf die Couch plumpsen. „Meine Angst vor Zoos. Meine Angst vor Pinguinen. Meine Angst, in einem Zoo ins Pinguingehege zu fallen. Es ist alles Dads Schuld.“

„Das meiste ist meine Schuld“, gab er traurig zu, während er hinüberging zu seiner Frau. „Aber ich werde denselben Fehler nicht noch einmal machen, versprochen. Von diesem Augenblick an werde ich der beste Vater sein, den die Welt je gesehen hat. Herzallerliebste, darf ich bitte mein Kind halten?“

„Sie trinkt gerade.“

„Gib mir das Kind und die Flasche. Ich füttere sie.“

Walküres Mum schaute ihn misstrauisch an. „Was ist das Allerwichtigste, wenn du ein Baby hältst?“

„Dass ich es nicht fallen lasse“, antwortete er stolz.

„Ja, okay, sehr gut, mein Lieber. Ich dachte nur eher an die Art, wie du das Baby hältst.“

„Ach so. Das ganze Geheimnis liegt darin, dass man es im Nacken fasst und dann hochhebt.“

„Das verwechselst du jetzt mit jungen Kätzchen.“

„Dann hebt man es an den Ohren hoch.“

„Das ist Quatsch.“

„Kann ich sie bitte einfach nur halten?“

„Ich glaube nicht, dass das klug wäre.“

„Eine Menge Dinge sind nicht klug, Melissa. Ist es klug, mit geschlossenen Augen die Straße zu überqueren? Nein, und trotzdem tue ich es.“

Seine Frau nickte. „Stephanie, wenn Alison lernen muss, wie man eine Straße überquert, übernimmst du das.“

„Klaro.“

Walküres Vater streckte die Hände aus und ihre Mutter gab schließlich seufzend nach. „Sei vorsichtig“, warnte sie.

„Vertrau mir.“

Sie gab ihm das Baby. Er hielt seine kleine Tochter mit ausgestreckten Armen vor sich und lächelte sie an. „Bist du nicht süß?“, fragte er. „So süß? Bist du nicht die Allersüßeste?“ Dann winkelte er die Arme an, hielt das Baby vor sein Gesicht und torkelte durchs Zimmer. „Hilfe!“, rief er. „Ein Facehugger hat sich an mir festgekrallt!“ Walküre und ihre Mutter beobachteten ihn, als er Alison kichernd von sich weg hielt. „Ihr wisst schon, aus dem Film Alien. Die Facehugger.“ Er hielt das Baby wieder an sein Gesicht. „Hilfe, Sigourney Weaver, Hilfe!“ Alison schien das Ganze lustig zu finden.

Die Eltern verließen eine Stunde später das Haus, als Alison in ihrem Körbchen schlief. Walküre wählte Skulduggerys Nummer und er nahm ab.

„Hallo“, meldete sie sich leise. „Ich bin’s.“

Skulduggery antwortete erst nach ein paar Sekunden. „Das kann nicht sein. Wenn ich es wäre, würde ich Selbstgespräche führen und das mache ich schon lange nicht mehr. Und auf gar keinen Fall rufe ich mich selbst an. Das ist eines der ersten Anzeichen für Wahnsinn, und wenn es das nicht ist, sollte es eines sein.“

Sie seufzte. „Hast du genug Unsinn geredet?“

„Ich habe den ganzen Morgen noch keinen Unsinn geredet. Es fehlt mir. Warum sprichst du so leise?“

„Weil das Baby schläft.“

„Kann es schon laufen?“

„Nein.“

„Ich konnte bereits sehr früh laufen. Ich war ein ausgesprochener Frühentwickler.“

„Darauf kannst du unheimlich stolz sein.“

„Bin ich auch.“

„Aber es ist merkwürdig. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie du wohl als Kind warst. Wie warst du denn?“

„Kleiner als heute.“

„Jede Wette, dass du nie die Klappe halten konntest.“

„Im Gegenteil, ich fand das Sprechen ziemlich schwierig. Ich habe gestottert, musst du wissen.“

„Du?“

„Kaum zu glauben, nicht wahr? Es hat mich allerdings nicht davon abgehalten, einen messerscharfen Verstand zu entwickeln, obwohl die Leute in der Stadt dachten, ich sei vom Teufel besessen. Vor vierhundert Jahren hat niemand wirklich verstanden, warum Leute stottern. Damals war alles viel einfacher.“

„Und warum stottern manche Leute?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich sind sie vom Teufel besessen.“

„Du bist unmöglich. Gibt es was Neues von Craven?“

„Drei seiner Totenbeschwörer wurden festgenommen, als sie das Land verlassen wollten. Bleiben uns noch vierzehn plus der Weiße Sensenträger und Craven selbst.“

„Dann ist er also immer noch auf freiem Fuß.“

„Ja, aber nicht mehr lange. Bei Kranz wäre es etwas anderes, der würde auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Aber Craven hat die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens in irgendwelchen Tempeln verbracht und sich nur ganz selten in die wirkliche Welt hinausgetraut. Den kriegen wir schon noch.“

Es klopfte an der Tür.

„Du, ich muss Schluss machen. Ruf mich an, wenn es, du weißt schon, etwas zu bereden gibt.“

Er klang amüsiert. „Du hast Langeweile?“

„Nein“, widersprach sie, während sie auf den Flur ging. „Heute ist mein freier Tag und ich genieße das Normalsein.“

„Du hast Langeweile.“

„Du bist derjenige, der sich langweilt. Wenn ich nicht da bin, fühlst du dich völlig verloren. Gib einfach zu, dass ich dir fehle.“

„Du bist schon ein komischer Vogel.“

Sie grinste. „Das reicht für heute.“

Sie legte auf und öffnete die Tür. Während sie hinaustrat und sich umsah, steckte sie ihr Handy in die Tasche. Niemand da. Sie zuckte mit den Schultern, ging wieder ins Haus und in die Küche.

Puh, war das langweilig.

Wenn Alison wach war, verflog die Zeit nur so. Doch solange sie schlief, hatte Walküre nichts zu tun. Sie brauchte ein Hobby, etwas, das nichts mit dem Verprügeln von Leuten zu tun hatte. Oder Freunde, die sie an einem Sonntagmorgen zu sich einladen konnte, damit sie ihr beim Babysitten Gesellschaft leisteten. Sie spürte einen Stich, als ihr Fletcher in den Sinn kam, und kämpfte den Gedanken rasch nieder. Sie weigerte sich, sich einsam zu fühlen. Nicht an ihrem freien Tag.

Walküre ging zur Hintertür, die halb offen stand, schloss sie und sperrte ab. Schließlich wohnte jetzt ein Baby im Haus. Sie konnte nicht riskieren, dass ein wildes Tier hereinspazierte und sich mit Alison davonmachte wie diese Dingos in Australien. Das war wahrscheinlich unfair sowohl den Dingos als auch Australien gegenüber, aber riskieren konnte sie es trotzdem nicht. Durch abgesperrte Türen kam ein Dingo nicht herein, und das war die Hauptsache, auch wenn sie nicht einmal genau wusste, wie so ein Dingo eigentlich aussah. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche, suchte im Internet nach einem Dingo und fand ein Bild von einem Dingo-Welpen. Jetzt hätte sie zu gerne einen Welpen als Haustier gehabt.

Seufzend steckte Walküre ihr Handy wieder ein. Sie brauchte wirklich ein Hobby. Sie verließ die Küche und jemand packte sie und schmetterte ihren Kopf gegen die Wand. Hinter ihren Augen explodierte weißes Licht. Am liebsten hätte sie sich fallen lassen, doch Hände hielten sie fest, jemand redete, und dann verschwamm der Flur, als sie ans andere Ende geschleudert wurde. Sie schlug mit dem Kinn auf dem Boden auf und biss sich auf die Zunge. Blut in ihrem Mund, Gewitter in ihrem Kopf. Sie spürte Finger in ihrem Haar und hörte sich schreien, als sie hochgerissen wurde. Wieder wurde geredet, doch die Worte drifteten an ihr vorbei. In ihren Ohren dröhnte es. Ihr Kopf flog nach hinten. Jemand hatte sie geschlagen. Sie lag wieder auf dem Boden, dieses Mal auf dem Rücken. Jemand saß rittlings auf ihr. Eine Hand an ihrem Hals. Sie versuchte, gegen die Luft zu drücken, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Vergeblich schnippte sie mit den Fingern. Ein Funke entstand nicht. Sie hatte rasende Kopfschmerzen.

Sie blinzelte und der Mann über ihr nahm Konturen an. Im ersten Moment erkannte sie ihn nicht. Sie sah nur den verzerrten Mund mit der eingerissenen Lippe und den Speichel, der beim Sprechen in alle Richtungen flog. Sie sah die großen, hasserfüllten Augen und die blauen Flecken darum herum. Ein Name kam ihr in den Sinn: Moore.

„Hast du wirklich gedacht, ich würde mich nicht rächen?“, höhnte er. „Hast du wirklich gedacht, du könntest so mit mir umspringen und ungeschoren davonkommen?“

Seine Hand an ihrem Hals drückte ihr die Luft ab. Sie merkte, dass sie selbst bereits mit beiden Händen versuchte, den Druck von ihrer Kehle zu nehmen. Sie zog die Knie an, bis sie gegen seinen Rücken drückten. Dann hakte sie ihren linken Fuß von außen in seinen rechten. Er merkte es nicht.

„Sie mussten mich gehen lassen“, schnaufte er. „Dass jemand in einer Arrestzelle bei den Bullen zusammengeschlagen wird, geht gar nicht. Nicht ohne dass es zum Prozess kommt.“

Er holte aus und schlug ihr mit der rechten Hand ins Gesicht. Ihr Kopf schwamm, doch sie biss die Zähne zusammen.

„Ich habe die Adresse deiner Mutter auf einem Aktendeckel gesehen und mir gedacht: Sobald ich hier rauskomme, statte ich dem Mädchen einen Besuch ab. Ich geb ihr was von dem zurück, was sie mir gegeben hat.“ Er beugte sich so weit zu ihr herunter, dass sein Gesicht nur noch Zentimeter von ihrem entfernt war. „Ich weiß nicht, wie du die ganzen irren Sachen gemacht hast, aber ich kann auch ein paar irre Sachen. Ich kann dir zum Beispiel dein hübsches Gesicht zu Brei schlagen.“

Sie wartete, bis er sich wieder etwas zurücklehnte, dann packte sie mit ihrer linken seine rechte Hand an ihrem Hals und versetzte ihm mit der rechten einen Kinnhaken. Sie gab ihm nicht einmal Zeit, es zu spüren. Schon lag ihre Hand auf seiner Schulter. Die Finger krallten sich in seine Jacke. Mit einem Ruck stemmte sie sich vom Boden hoch, er rutschte von ihr herunter und jetzt war sie auf ihm. Wieder und wieder ließ sie ihren Ellbogen in sein Gesicht donnern, während er es zu schützen versuchte.

Er versuchte, sie abzuwerfen, doch die Ellbogenstöße hörten nicht auf. Da begann er zu schreien und sie zu verfluchen. Im ersten Stock hörte sie ein Baby schreien. Alison war aufgewacht.

Ihr Kopf fühlte sich ganz leicht an und einen Augenblick lang fürchtete sie, in Ohnmacht zu fallen. Moore ergriff seine Chance und drückte sie weg. Als er sich umdrehte und unter ihr wegkriechen wollte, wurde ihr Kopf wieder klar. Sie ließ sich auf ihn fallen, legte ihm den rechten Arm um den Hals und suchte mit der anderen nach einer Möglichkeit, einen Sleeperhold anzubringen. Er würgte, stemmte sich auf Hände und Knie, doch sie blieb auf seinem Rücken und hakte ihre Füße in seine Beine. Er warf sich zur Seite. Sie drückte ihren Kopf an seinen Körper und hing wie eine Klette an ihm. Er rollte herum, keuchte und würgte und tat alles, um sie abzuwerfen. Ihr linker Arm schob sich näher an die Position für diesen Sleeperhold. Sie krachten in den Tisch im Flur. Die Vase darauf wackelte und fiel auf den Boden. Blumen und Wasser verteilten sich überall.

Sie begann mit dem Sleeperhold, überdehnte seine Muskeln, bis etwas in ihren linken Arm schnitt. Sie schrie auf, ließ aber erst los, als Moore die Vasenscherbe in ihrem Arm drehte. Sie fiel nach hinten und hielt sich den Arm. Blut tropfte zwischen ihren Fingern durch. Moore kam auf die Füße, blutend und schwitzend. Er schwankte und sein Gesicht war krebsrot. Die Scherbe hielt er immer noch in der Hand. Sie versuchte, gegen die Luft zu drücken, konnte sich jedoch nicht mehr konzentrieren. Ihr Kopf dröhnte zu laut. Jede Bewegung löste Schmerzen aus, die durch ihren Schädel zuckten und wie Tischtennisbälle an den Knochen abprallten.

Sie wich zur Haustür zurück und er folgte ihr, die blutigen Zähne fest zusammengebissen. Hätte sie ihre schwarzen Sachen getragen, hätte sie sich wegen einer solchen Vasenscherbe nicht allzu viele Gedanken gemacht. Doch sie trug Jeans und ein T-Shirt. Ihre schwarzen Sachen lagen oben in ihrem Zimmer, genauso wie der Totenbeschwörerring.

Moore griff erneut an. Er zielte mit der Scherbe auf ihren Bauch. Sie drehte sich rasch weg und versuchte, mit beiden Händen sein Handgelenk zu packen. Sie griff daneben, hatte aber keine andere Wahl, als weiterzumachen. Also packte sie seinen Arm, wo sie ihn eben erwischte, und versetzte ihm einen Kopfstoß. Sie spürte, wie die Scherbe ihre Hüfte aufschlitzte. Ihr Schwung brachte sie weiter nach vorn, während er ins Wanken geriet. Sie hatte ihn jetzt fest im Griff, ging näher an ihn heran und legte sich den Arm eng um ihren Körper. Gleichzeitig zielte sie mit der flachen freien Hand immer wieder auf sein Gesicht. Sie versuchte, ihn am Kinn zu treffen. Ein Schlag gegen das Kinn ist wie ein Hirnbeben, sagte Skulduggery immer.

Die Scherbe fiel auf den Boden, Moore verlor den Halt und stürzte. Walküre kam dabei aus dem Gleichgewicht und stolperte über ihn weg. Er wollte sie packen, doch sie kickte seine Hand weg und lief zur Treppe. Sie nahm drei Stufen auf einmal, aber er kam ihr nach, warf sich nach vorn und erwischte sie am Knöchel. Es tat weh, als sie der Länge nach auf die Treppe knallte. Mit einer Hand hielt er ihr Bein fest, die andere hakte er in den Bund ihrer Jeans und zog sie zu sich herunter. Sie warf sich herum, seine Finger wurden zwischen ihrem Rücken und der Holztreppe eingequetscht. Er brüllte und ließ los. Sie rappelte sich auf, erreichte den oberen Flur und stürmte in ihr Zimmer. Dort riss sie die Schranktür auf, schnappte sich ihre schwarzen Kleider und durchsuchte die Taschen nach dem Ring.

Moore rannte von hinten in sie hinein. Er brüllte jetzt ununterbrochen und in seinem Gebrüll lagen Wut und mörderischer Hass. Er schleuderte sie nach hinten. Sie fiel auf ihr Bett und er warf sich auf sie. Da sie die Arme schützend über dem Kopf kreuzte, trafen seine Knöchel ihre Ellbogen. Er fauchte vor Schmerz, packte ihre Arme und versuchte, sie von ihrem Gesicht wegzuziehen. Ihre Muskeln brannten, doch sie hielt dagegen. Sie wartete, bis er es noch einmal mit einem allmächtigen Ruck versuchte. In diesem Moment versetzte sie ihm einen Stoß, der seinen eigenen, kraftvollen Zug noch verstärkte, und er fiel rücklings vom Bett. Sie versuchte, an ihm vorbeizuhechten, doch er wedelte mit den Armen und erwischte ihr Bein. Sie stürzte und er war wieder auf ihr. Der Totenbeschwörerring lag auf dem Schrankboden. Ihn konnte sie auch benutzen, ohne dass sie sich konzentrieren musste. Sie streckte die Hand danach aus, doch er war zu weit weg. Im Spiegel sah sie sich selbst und Moore, der auf ihr hockte. Ihre Blicke trafen sich und er grinste. Statt sich weiter nach dem Ring zu strecken, berührte sie den Spiegel. Ihr Spiegelbild blinzelte, blutend und voller Schrammen, und rappelte sich auf.

Moore zuckte zusammen. „Was zum Teufel …?“

Der Fuß des Spiegelbilds kam aus dem Glas und traf ihn im Gesicht.

Er taumelte nach hinten. Walküre hörte, wie er in ihren Schreibtisch krachte. Sie rollte herum und ihr Spiegelbild zog sie auf die Füße.

„Das gibt es nicht“, keuchte Moore und sog die Luft zwischen seinen ausgeschlagenen Zähnen ein. „Wie hast du das gemacht? Ihr seid Zwillinge? Trotzdem – wie habt ihr das gemacht?“

Das Spiegelbild ging auf ihn zu. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Moore zurückweichen, doch in seine Angst mischte sich wieder die Wut und er fauchte. Er holte aus und das Spiegelbild warf sich ihm entgegen. Es hatte die Arme vor dem Gesicht gekreuzt, sodass seine Faust seine Unterarme traf. Es packte Moores Kopf und versetzte ihm einen Kopfstoß nach dem anderen. Moores Beine knickten ein und er rutschte ihm aus den Händen. Sein Gesicht war fürchterlich zugerichtet und er war bereits bewusstlos, noch bevor er auf dem Boden aufschlug.

Das Spiegelbild wandte sich an Walküre. „Wir sollten ihn umbringen.“

Walküre runzelte die Stirn. „Sei nicht albern.“

„Das ist nicht albern, es ist vernünftig. Ich erledige das, wenn du nicht willst. Du kannst schon mal Skulduggery anrufen. Wir müssen die Leiche wegschaffen.“

Walküre versuchte, wieder zu Atem zu kommen. „Wir bringen ihn nicht um, ist das klar? Wir sind keine Killer. Zumindest ich bin kein Killer und das heißt, dass du auch keiner bist.“

Das Spiegelbild schaute sie an. „Er ist hier eingebrochen und hat dich angegriffen. Wären deine Eltern hier, hätte er auch sie angegriffen. Und so, wie er drauf war, hätte er sogar Alison etwas antun können. Wir sollten ihn umbringen.“

„Ich habe Nein gesagt, okay? Wir regeln das wie normale Leute. Ich rufe die Polizei.“

„Er wird aussagen, dass du ihn in der Zelle angegriffen hast.“

„Dann sage ich, dass er lügt.“

„Und was sagst du, wenn er mich ins Spiel bringt?“

„Dass ich ihm einen so gewaltigen Schlag verpasst habe, dass er doppelt gesehen hat. Kein Mensch wird ihm auch nur ein Wort glauben, vor allem wenn er anfängt, von irgendwelchem magischen Zeug zu faseln.“

„Wenn du die Polizei rufst, verhaften sie ihn, es kommt zu einer Verhandlung und er wird eingedeckelt. Aber was machst du, wenn er wieder rauskommt? Er wird wiederkommen, das weißt du ganz genau, und du wirst nicht da sein.“

„Nein“, gab Walküre zu, „aber du. Und du wirst meine Familie beschützen.“

Das Spiegelbild blickte auf Moore hinunter. „Wenn er wiederkommt, bringe ich ihn um“, drohte es.

Walküre ließ das Spiegelbild nicht aus den Augen, erwiderte jedoch nichts darauf. Seine Drohung erschien ihr nur recht und billig.