IN DER NOTAUFNAHME
Alison beobachtete mit großen Augen die Aktivitäten in der Notaufnahme, während Walküre sie mit ihrer freien Hand wiegte. Ihr anderer Arm lag flach auf dem Tisch und ein gut aussehender junger Arzt nähte den Schnitt.
„Und Sie sind wirklich okay?“, fragte er noch einmal.
„Mir geht’s prima“, antwortete sie. Während sie auf die Polizei gewartet hatte, hatte sie Blätter gekaut, um den Schmerz zu betäuben, und sie wirkten immer noch. Jedes Mal, wenn die Nadel durch ihre Haut stach, zuckte sie zusammen, doch das war mehr Show als sonst etwas. Den Schnitt in ihrer Lippe hatte er bereits genäht und ihr dabei versichert, dass wahrscheinlich keine Narbe zurückbleiben würde. Sie hatte mit den Schultern gezuckt. Eine Narbe an der Lippe war ihre geringste Sorge.
Als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, blickte sie auf. Eine Krankenschwester brachte Walküres Eltern in die Notaufnahme.
„So“, sagte der Arzt, „fertig. Eine Schwester wird Sie noch verbinden. Ich wünschte, alle meine Patienten wären so tapfer wie Sie. Sie waren wirklich super.“
„Danke. Ich wünschte, alle meine Ärzte wären so sexy wie Sie.“
Er lachte und trat zur Seite, als Walküres Mutter mit ausgestreckten Armen auf ihre Tochter zustürmte. Kurz vor ihr blieb sie abrupt stehen, schaute den Arzt an und wich wieder ein Stück zurück.
„Kann ich sie in den Arm nehmen?“
„Wir begrüßen das ausdrücklich“, antwortete er lächelnd und verließ den Raum, als die Umarmung losging.
„Mein Kleines“, murmelte die Mutter, „mein armes Kleines.“
„Mir geht es gut“, versicherte Walküre. Ihre Stimme klang gedämpft. Ihr Blick ging zu ihrem Dad hinüber, der sich um Alison kümmerte. Er machte ein grimmiges Gesicht. So kannte sie ihn gar nicht. Ihre Mum begann zu weinen. Walküre erstarrte automatisch. Sie blinzelte die Tränen zurück, die ihr ohne Vorwarnung in die Augen geschossen waren und jetzt überzufließen drohten.
„Mum.“ Sie lachte, als sie sich aus der Umarmung löste. „Mum, mir geht es prima. Schau her. Um mich brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.“
„Aber dein Gesicht.“
„Schnittwunden und blaue Flecken, die schon wieder zurückgehen.“
„Und dein Arm!“
„Wurde genäht und heilt. Ehrlich, ich bin okay.“
„Er hat sich in seiner Zelle selbst verletzt“, ließ ihr Dad sich vernehmen, den Blick weiter auf Alison gerichtet. „Deshalb haben sie ihn rausgelassen. Sie hätten vor unserem Haus stehen sollen. In dem Moment, in dem sie den Dreckskerl freigelassen haben, hätten sie einen Streifenwagen vors Haus stellen müssen.“
„Sie konnten doch nicht ahnen, dass er weiß, wo wir wohnen, Dad. Und erst recht nicht, dass er sich dafür rächen will, dass er eingelocht wurde. Du kannst ihnen keinen Vorwurf machen.“
„Sie haben ihn laufen lassen.“
„Das hier ist nicht ihre Schuld.“
Er schaute sie zum ersten Mal an. „Er hätte dich …“
„Desmond, bitte nicht!“ Ihre Mum schlug die Hand vor den Mund. „Bitte sprich es nicht aus.“
Walküre zwang sich zu einem Lächeln. „Hey, ihr zwei, kommt wieder runter. Alison hat die ganze Sache verschlafen und mir geht es gut.“
Eine Krankenschwester kam herein. „Dürfte ich mal ran? Ich muss nur rasch Ihren Arm verbinden.“
„Nur zu“, forderte Walküre sie auf.
Die Schwester lächelte und machte sich an die Arbeit. „Ich habe gehört, was passiert ist. Alle reden darüber. Es interessiert Sie vielleicht, dass der Mann, der Sie angegriffen hat, in einem extra abgesicherten Raum behandelt und von drei ausgesprochen finster dreinblickenden Polizisten bewacht wird. Sie haben ihm vier Rippen, die Nase und den Kiefer gebrochen, haben ihm drei Finger gequetscht, drei Zähne ausgeschlagen und eine Gehirnerschütterung verpasst. Wussten Sie, dass er Sie doppelt gesehen hat?“
Walküres Mutter blinzelte. „Stephanie hat das alles gemacht?“
„Oh ja“, bestätigte die Schwester. Sie hakte eine Bindenklammer in den Verband. „Ich bin gleich wieder da mit dem Papierkram.“
Sie ging hinaus und die Eltern starrten Walküre an.
„Was ist?“, fragte sie mit unschuldigem Blick. „Ich hab in der Schule einen Selbstverteidigungskurs belegt. Hard Target, Krav Maga und so. Nichts Besonderes.“
„Aber er war ein erwachsener Mann“, wandte ihre Mutter ein.
„Selbstverteidigung macht nicht viel Sinn, wenn man sie nicht genau gegen solche Typen anwenden kann. Oh, Mum, deine Vase ging zu Bruch. Die im Flur. Tut mir leid.“
Ihre Mum blinzelte. „Das … macht nichts. Sie war hässlich und hat mir ohnehin nie gefallen.“
„Siehst du?“ Walküre strahlte. „Dann ist die Sache ja für alle gut ausgegangen.“
„Bist du sicher, dass du keinen Schock hast?“
„Bestimmt nicht. Ich bin nur froh, dass Dad nicht zu Hause war. Sonst hätte er den Typen wieder durch ein Fenster geschmissen.“
Ihre Mum lächelte und umarmte ihren Mann. „Ich habe eine kämpferische Familie“, stellte sie fest. „Wie es aussieht, sind wir beide die einzig Vernünftigen, Alison.“
Alison gluckste.
Ihre Eltern brachten sie nach Hause. Es war ein merkwürdiges Gefühl, auf der Rückbank eines Wagens zu sitzen. Sie kam sich fast wie ein kleines Kind vor. Im Autoradio lief Musik und sie sang Alison leise etwas vor. Alison lächelte und Walküre musste lachen.
Sie kamen nach Hause und räumten erst einmal das Durcheinander auf. Als es an der Tür klopfte, ging ihr Vater öffnen. Er kam zurück, zögerte kurz und verkündete dann: „Fletcher ist da. Ich habe ihm gesagt, dass er direkt wieder gehen kann, wenn er sich mit dir streiten will. Aber er hat mir versichert, dass er das nicht wollte. Vielleicht solltest du mit ihm reden.“
Ihre Mum nickte. „Er ist ein netter Junge. Er hat es verdient.“
„Ja, ich weiß.“ Walküre holte tief Luft und trat dann auf den Flur. Fletcher stand vor der Tür. Sie stopfte die Hände in die Taschen ihrer Jeans. „Hi.“
Er schaute sie an. „Gehen wir eine Runde?“
„Klar.“
Er drehte sich um und ging den Gartenweg hinunter. Sie verließ ebenfalls das Haus und schloss die Tür hinter sich. Sie gingen Richtung Park.
„Redest du wieder mit mir?“, fragte sie.
„Scheint so. Du sieht aus, als seist du im Krieg gewesen.“
„Du kennst mich doch. Wenn’s irgendwo Ärger gibt, torkle ich mitten rein.“
„Und kommst auf der anderen Seite wieder raus. Das ist das Entscheidende.“ Er kickte einen Kieselstein fort. „Ich verzeihe dir nicht. Ich würde es gerne. Ich hätte gern, dass wir das alles einfach vergessen und weitermachen könnten wie vorher. Aber so läuft es nicht.“
„Ich weiß“, erwiderte Walküre leise. „Aber ich will nicht, dass du mich hasst, Fletch.“
„Das liegt nicht unbedingt in deiner Hand.“
„Nein, du hast recht.“
„Es ist einigermaßen schwierig, längere Zeit sauer auf dich zu sein. Du hast wahrscheinlich nicht das Gefühl, als hättest du etwas verkehrt gemacht. Stimmt’s?“
„Natürlich habe ich das. Ich habe dich betrogen.“
„Aber warum?“
„Weil ich blöd war und nicht drüber nachgedacht habe und –“
„Nein“, unterbrach Fletcher sie. Er schaute sie an. „Was ist dir damals durch den Kopf gegangen? Warum hast du es getan?“
„Wie soll uns das irgendwie weiterhelfen?“
„Es hilft mir zu beweisen, dass ich recht hatte.“
Walküre seufzte. „Du warst mir damals zu … boyfriendy.“
„Ist das der Fachausdruck dafür?“
„Du warst zu fürsorglich. Du warst …“
„Sprich ruhig weiter.“
Sie hatten inzwischen den Park erreicht, wo sie sich an die gut beleuchteten Bereiche hielten. Außer ihnen war niemand da. „Du hast mich dauernd belehrt. Dir hat vieles von dem, was ich getan habe, nicht gefallen. Für mich war das alles schon zu festgelegt, zu sicher, verstehst du?“
„Und da bist du zu Caelan gegangen, der das Gegenteil von sicher ist.“
„Wahrscheinlich.“
„Als du mich betrogen hast, hast du also gewusst, warum du es getan hast. Du konntest es rechtfertigen.“
„Bis zu einem gewissen Grad.“
„In deinem Kopf war dann also alles meine Schuld.“
„Was? Nein, so habe ich es nicht gemeint.“
„Du hast es nun mal getan, Wally. Du hast die Entscheidung getroffen, weil du dachtest, es sei zu diesem Zeitpunkt das Richtige für dich. Ich versuche, wütend zu sein, aber … ich kann es einfach nicht. Was du getan hast, war in deinen Augen das Beste für dich. So bist du nun mal. Du willst nie gemein oder grausam sein. Solche Dinge passieren einfach, als eine Art Nebeneffekt.“
„Weil ich egoistisch bin.“
„Ja. Weil du egoistisch bist. Vielleicht wächst sich das in ein paar Jahren aus. Ich weiß es nicht. Ich hoffe es.“
„Das wäre nicht schlecht“, murmelte sie.
„Ich hasse dich nicht“, fuhr Fletcher fort. „Ich mag dich im Moment vielleicht nicht allzu sehr, aber ich hasse dich nicht. Und ich glaube, es wäre keine gute Idee, weiter in deiner Nähe zu sein. Ich ziehe um.“
Walküre spürte einen Stich im Herzen. „Wohin?“
„Australien. Mir gefällt es dort. Es ist warm und sie reden so komisch.“
„Aber was ist mit deinem Training?“
„Australien ist eine Wiege der Magie, genau wie Irland. Da drüben gibt es bestimmt auch jede Menge langweilige alte Leute, die mir nutzlose Ratschläge erteilen können, genau wie hier. Was ist los?“
„Ich … Ich will nicht, dass du wegziehst. Wir waren nicht nur zusammen. Wir waren Freunde. Ich … ich habe nicht sehr viele Freunde. Ich möchte nicht noch einen verlieren.“
„Du brichst mir das Herz.“
„Ja, ja“, murmelte sie.
„Außerdem bin ich ein Teleporter. Wir sind nie wirklich weit voneinander entfernt, egal wo wir sind. Pass auf dich auf, Walküre.“
Sie wollte noch etwas sagen, doch da war er schon verschwunden.
Sie drehte um und ging nach Hause.