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CHINAS VERBÜNDETER

China hasste es, sich unter die Leute zu mischen und Smalltalk zu machen, doch es war ein notwendiges Übel, an das sie sich inzwischen nicht nur gewöhnt hatte, sondern das sie auch unvergleichlich gut beherrschte. Auch ohne ihre Fähigkeit, Menschen dazu zu bringen, dass sie sich in sie verliebten, konnte sie einen ganzen Raum bezaubern und es bereitete ihr nicht mehr Mühe als ein Schulterzucken. Ein kleines, helles Lachen, eine Berührung am Arm, ein langer Blick, die richtigen Worte zur rechten Zeit und sie bekam, was sie wollte, wenn sie es sich vorgenommen hatte.

Und für diesen Abend hatte sie sich etwas vorgenommen.

Der Nachteil, für etwas berühmt-berüchtigt zu sein, lag, wie China bestätigen konnte, im Welleneffekt. Auf dem Höhepunkt ihrer Bekanntheit konnte sie einen Raum betreten und alle wandten sich ihr zu und jede Unterhaltung erstarb. Geflüsterte Bemerkungen breiteten sich vom Epizentrum zum Rand hin aus und stellten sicher, dass auch wirklich jeder wusste, wer sie war und mit wem sie sich unterhielt.

Noch vor zehn Jahren hätte China diese Wirkung auf den Raum gehabt. Doch dank einer wachsenden und einigermaßen verwirrenden Aura der Seriosität, die sie in letzter Zeit umgab, fiel die ehrenvolle Rolle der berühmt-berüchtigtsten Person in diesem Jahr Eliza Scorn zu.

China schwebte von Unterhaltung zu Tanz zu Anekdote und hatte dabei immer Eliza im Blick. Sie speicherte ab, mit wem sie sprach, und, was genauso wichtig war, wen sie ignorierte. Gallow hatte China versprochen, ihr die Liste der Wohltäter zu bringen, doch er war noch nicht aufgetaucht.

„China“, tönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Schreck Jones war groß, hatte Haut wie Ebenholz und sah in seinem Smoking ungemein gut aus. „Es ist mir wie immer ein Vergnügen.“ Er verbeugte sich leicht.

„Wie schön, dich wiederzusehen, Schreck“, erwiderte China. „Bei unserer letzten Begegnung hast du versucht, mich umzubringen.“

„Ich bezweifle, dass ich für eine wie dich eine große Gefahr dargestellt habe, selbst mit einem Restanten in mir.“

„Du Schmeichler.“ China veränderte leicht ihre Position, damit sie Eliza weiter im Blick behalten konnte. „Aber du hast recht, fast habe ich dich umgebracht. Nur deine Exfreundin hat mich davon abgehalten.“

Er hob eine Augenbraue. „Tanith? Wie geht es ihr? Hast du etwas von ihr gehört?“

„Nichts.“ China bemühte sich nach Kräften, so zu klingen, als sei sie traurig darüber. „Sie ist immer noch mit diesem entsetzlichen Texaner auf der Flucht. Am besten erkundigst du dich bei Grässlich nach ihr – er weiß mehr als ich.“

„Oh.“ Schreck fühlte sich anscheinend unbehaglich. „Vielleicht später. Der Älteste Schneider ist ein viel beschäftigter Mann.“

China lächelte amüsiert. „Und du bist sicher, es hat nichts damit zu tun, dass ihr dieselbe Frau liebt?“

„Lieben ja, vielleicht, aber zu unterschiedlichen Zeiten. Das ist das Ausschlaggebende. Meine Liebe für Tanith ist seit unserer Trennung etwas abgekühlt. Jetzt empfinde ich nur noch eine tiefe Zuneigung für sie. Grässlich dagegen ist bis über beide Ohren verliebt.“

„Der Geschmack von ansonsten intelligenten Männern wird mir immer ein Rätsel bleiben.“

„Verstehe ich das richtig – du magst Tanith nicht?“

„Ich habe sie noch nie gemocht. Sie war immer zu – forsch für meinen Geschmack.“

„Manche Leute mögen forsche Frauen.“

„Sollen sie doch, nichts dagegen.“

„Andere Leute mögen natürlich auch andere Dinge“, bemerkte Schreck lächelnd.

China lachte. „Deine Unverfrorenheit ist bewundernswert, Schreck. Sie ist an mir vollkommen verschwendet, trotzdem bewundere ich sie.“

Eine bleiche, fleischige Hand schloss sich um Schrecks Schulter – kein einfaches Unterfangen, da der Mann, zu dem die Hand gehörte, dazu nach oben greifen musste. „Schreck!“, dröhnte Rat Strom. Er torkelte etwas und rempelte ihn leicht an. „Willst du mich deiner schönen Freundin nicht vorstellen?“

Schreck seufzte. „Ältester Strom, du kennst China Sorrows bereits.“

„Weiß ich doch.“ Der britische Älteste grinste breit. „Aber es kann nie schaden, einen zweiten ersten Eindruck zu machen. Hallo, Miss Sorrows, du siehst bezaubernd aus heute Abend.“ Er war ganz offensichtlich sturzbetrunken.

China nickte höflich. „Ältester Strom, was hast du so getrieben? Ich habe in den letzten Jahren von keinem einzigen Skandal im Zusammenhang mit deiner Person gehört.“

„Weil ich mich zusammengerissen habe!“ Strom lachte. „Es ist mir nicht leichtgefallen, aber ich bin allem Ärger aus dem Weg gegangen. Im Gegensatz zu dir, meine Liebe. Für eine, die offiziell als neutral gilt, kämpfst du ziemlich oft an der Seite des Skelett-Detektivs. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte? Müssten sämtliche Männer in diesem Raum eifersüchtig sein?“

Schreck seufzte, lächelte China zu und entfernte sich. Sie würde schon allein mit Strom fertigwerden.

„Freunde haben nie einen Grund, eifersüchtig zu sein“, entgegnete sie.

Er ergriff ihre Hand. „Und was ist mit denen, die mehr als Freunde sein könnten?“

„Rat, mein Herz, du wirst immer etwas ganz Besonderes für mich sein. Ein ganz besonderer Freund mit einer ganz besonderen Frau. Wo ist sie übrigens?“

Strom zuckte mit den Schultern. „Irgendwo da drüben. Wir haben ein Abkommen getroffen.“

„Wie schön für euch beide.“ China merkte, dass sie Eliza Scorn aus den Augen verloren hatte. Ihr Handy klingelte und sie entzog Strom ihre Hand. „Entschuldige mich bitte einen Augenblick.“

„Ich bin’s“, meldete Gallow sich, als sie abnahm. „Ich habe ihre Liste. Zwölf Leute. Die meisten davon sollten gerade in deiner Nähe sein.“

China lächelte Strom angespannt zu und trat ein paar Schritte zur Seite. „Wo bist du?“, fragte sie leise.

„Ich parke im Wald im Nordosten des Hauses. Näher kann ich nicht heran, sonst löse ich die Alarmanlagen aus.“

„Bleib, wo du bist“, befahl China. „Ich bin in ein paar Minuten bei dir.“

Sie blickte sich kurz um und vergewisserte sich, dass Scorn nicht in der Nähe war. Dann schlüpfte sie an den Rippern vor der Tür vorbei und ging rasch zwischen den geparkten Autos durch, wobei sie sich, soweit es ging, im Dunkeln hielt. Ihre Schuhe waren zwar ausgesprochen elegant, für das Gehen über Kies jedoch nicht geschaffen und für einen Marsch durch Wiesen oder gar Wald gänzlich ungeeignet. Doch China bewahrte Anmut und Haltung und wo eine Geringere längst umgeknickt wäre, blieb China aufrecht. Das echte Kunststück bestand natürlich darin, es mühelos aussehen zu lassen, auch wenn niemand in der Nähe war, um es zu würdigen.

Praktisch mit jedem Schritt brach sie Äste und spießte Blätter auf und es gab eine gewisse Art von Zweigen, die nur darauf aus waren, an ihrem Kleid Fäden zu ziehen. Schließlich trat sie zwischen den Bäumen hervor auf eine Lichtung. Gallows Wagen stand da, dunkel und still. China setzte schon ein paar Meter davor eine finstere Miene auf. Dann wummerte sie mit der Faust ans Fenster auf der Beifahrerseite. Erschrecken würde sie Gallow damit wahrscheinlich nicht, aber versuchen musste sie es wenigstens, nachdem sie den ganzen langen Weg zu Fuß gegangen war. Sie öffnete die Tür und bückte sich zum Einsteigen, hielt jedoch abrupt inne, als sie sah, dass Gallow sich nicht rührte. Sie holte tief Atem und beugte sich weiter hinunter. Gallows Kinn ruhte auf seiner Brust. Die obere Hälfte seines Kopfes lag in seinem Schoß.

Auf dem Armaturenbrett klebte ein Zettel, der von einem Streifen Mondlicht beleuchtet wurde. Zu spät, Süße.

China blieb erst einmal, wo sie war. Falls jemand sich von hinten anschlich, tat er oder sie das vollkommen lautlos. Falls jemand sich zwischen den Bäumen versteckt hielt und sie beobachtete, rührte er oder sie sich nicht. Langsam richtete sie sich auf. Falls dies eine Falle war, war sie bereits hineingetappt, und sie hatte nicht vor, die Sache dadurch, dass sie die Beherrschung verlor, noch schlimmer zu machen.

Ihr Herz schlug so schnell und so laut, dass sie geschworen hätte, man könnte es hören. Sie widerstand dem Drang herumzuwirbeln, strich stattdessen ihr Kleid glatt und drehte sich dann um. Niemand sprang sie an. Zwischen den Bäumen hindurch sah sie in der Richtung, aus der sie gekommen war, die Lichter des Hauses. Eines Hauses voller Zauberer, die ihr vielleicht nicht hundertprozentig trauten, aber eine Zuflucht war es trotzdem. Skulduggery und Walküre waren da sowie Grässlich und Ravel. Dort wäre sie in Sicherheit. Wenigstens könnte sie sehen, wer sie angriff.

Doch wenn die Rollen vertauscht wären und China die Falle gestellt hätte, läge sie jetzt irgendwo entlang des Weges auf der Lauer. Man lockt das Opfer an, macht dem Opfer Angst und greift an, wenn das Opfer versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Ein Überfall aus dem Hinterhalt, so narrensicher wie effektiv. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder sie lief auf dem schnellsten Weg aus dem Wald hinaus und wahrscheinlich direkt in den Angriff hinein oder sie rannte in die andere Richtung. Tiefer in den Wald hinein.

Keine dieser Alternativen behagte ihr. Doch so sehr ihr die Vorstellung missfiel, stundenlang in diesen Schuhen unterwegs zu sein, um einem Angreifer zu entkommen, den es womöglich gar nicht gab, der Gedanke, mit abgetrenntem Kopf zu enden, missfiel ihr noch mehr.

Deshalb unterdrückte sie ihren Stolz, drehte sich um und stöckelte zwischen den Bäumen davon.