PANIK
Sie konnte die rechte Schulter etwas bewegen, doch es war zu eng, um sie nach unten zu drücken. Sie schob die linke Hand über ihren Bauch und tastete nach dem rechten Jackenärmel. Als sie ihn fand, zog sie mit aller Kraft daran. Als Belohnung fielen ihr ein paar Steinsplitter in den Nacken. Sie versuchte es noch einmal und fauchte vor Anstrengung. Ihre Schulter kam frei. Sie konnte sie jetzt bewegen. Nicht viel, aber sie konnte sie bewegen. Sie ruckelte in dem freien Raum herum, bis sie auch die linke Schulter bewegen konnte. Mit beiden Händen drückte sie gegen die Tunneldecke und stemmte die Absätze in den Boden. Weitere Sonnenstrahlen wurden sichtbar, während andere kurzzeitig verschwanden, als was immer es war zu ihr herunterkam. Walküre biss die Zähne zusammen. Mit den Fingerspitzen und durchgestreckten Beinen drückte sie sich ein paar Zentimeter in den Tunnel zurück.
Jetzt konnte sie die Finger flach auf den Fels legen. Sie stemmte die Absätze in den Boden und drückte. Wieder ein paar Zentimeter weiter. Und dann noch ein paar. Ihr Kinn war jetzt fast wieder im Tunnel. Sie tastete mit den Füßen den Boden ab, bis sie eine gute Stelle fand, und drückte erneut.
Zentimeter um Zentimeter und quälend langsam drückte Walküre ihren ganzen Körper zurück in den Tunnel. Schweiß brannte in ihren Augen, doch sie konnte ihn nicht wegwischen. Sie machte weiter. Musste weitermachen. Sie wusste nicht, ob das Ding hinter ihr Arme oder Tentakeln hatte, aber sie konnte nicht innehalten.
Jetzt war mehr Platz. Sie kam ein größeres Stück voran.
Über ihr ein Geräusch. Es gelang ihr trotz der Schweißtropfen, ein Auge zu öffnen, und sie sah einen verschwommenen Schatten, der hinter ihrem Kopf den Tunnel ausfüllte.
Sie verschwendete keinen Atemzug, um zu fluchen, sondern beeilte sich noch mehr. Wieder brach ein Fingernagel und sie stieß sich den Kopf an. Über ihr war jetzt mehr Platz. Sie schob eine Hand an ihrem Gesicht vorbei und wischte sich dabei über die Augen. Sie ächzte vor Anstrengung. Endlich war sie durch. Jetzt der andere Arm. Auf halbem Weg blieb er stecken und Walküre begann zu weinen. Sie ruckelte und wand sich, spürte, wie sie sich am Felsen den Handrücken aufriss, als auch der zweite Arm plötzlich frei war. Jetzt lagen beide Hände über ihrem Kopf. Sie spürte die Luft, spürte die Kreatur näher kommen und drückte.
Mit einem Schmerzensschrei schoss sie von der Kreatur weg. Ihre Jacke rutschte hinten hoch, sodass ihr Rücken ungeschützt über die scharfen Felskanten ratschte. Sie schrie auf, gönnte sich jedoch keine Pause. Wieder drückte sie, stieß mit dem Kopf an die Wand und spürte, wie sie sich die Haut am Rücken aufschürfte.
Sie hatte jetzt so viel Platz, dass sie die Arme um sich legen, in die Knie gehen und den Kopf heben konnte. Der Ausgang war in Sicht.
„Melancholia!“, rief sie. „He!“
Draußen in dem größeren Tunnel bewegte sich nichts und Walküre brüllte ihre Flüche hinaus. Sie zog die Beine an, drehte sich fluchend, ächzend und schluchzend zur Seite und schaffte es, ihren Körper in die richtige Position zu bringen, dass sie die restliche Strecke kriechen konnte.
Draußen auf dem Sims hievte sie sich auf Hände und Knie und versuchte aufzustehen. Doch sie zitterte so sehr, dass sie wieder zusammenbrach. Am liebsten wäre sie einfach so zusammengerollt liegen geblieben. Aber sie musste weiter, konnte sich nicht einmal ausruhen. Sie öffnete die Augen und schaute sich um. Melancholia war nicht da, um ihr aufzuhelfen.
Ihre Hände waren aufgeschürft, die Fingernägel eingerissen oder abgebrochen. Ihre Jacke war am Rücken mit Blut getränkt. Bei jeder Bewegung wimmerte sie vor Schmerzen.
Sie stand auf. Wenigstens ihre Beine waren in Ordnung. Sie konnte immer noch rennen.
Die Finger schützend gekrümmt, drückte sie die Hände auf die Brust und lief los. Melancholia konnte mit ihrem schlimmen Bein nicht sehr weit gekommen sein. Walküre wusste nicht, was sie tun würde, wenn sie sie einholte. Melancholia hatte ihr nicht geholfen. Sie hatte einfach nur dabeigestanden, als Walküre weggetragen worden war. Walküre war fast bereit, sie Vile zu überlassen und allein weiterzulaufen.
Als sie weiter vorn Gebrüll hörte, blieb sie stehen. Sie schnitt eine Grimasse, schlich zum Ende des Tunnels und lugte um die Ecke.
Melancholia versuchte, auf einen weiter oben gelegenen Sims zu klettern, während drei Rattenaffen Lord Vile angriffen.
Walküre schaute genauer hin und versuchte, einen Begriff zu finden, der die Kreaturen genauer beschrieb. Aber Rattenaffen war absolut zutreffend. Sie waren menschenähnlich, so groß wie sie und stellenweise mit schmutzig braunem Fell bedeckt. Sie hatten lange, spitze Gesichter und kleine Münder mit vielen scharfen Zähnen. Vile warf Schatten, doch sobald sie die Kreaturen trafen, lösten sie sich auf. Kreischend stürzten sich die Rattenaffen auf ihn und brachten ihn zu Fall.
Melancholia hatte es über dem ganzen Tumult bis halb auf den Sims geschafft.
Vile kickte den ersten Rattenaffen weg und ließ einen Ellbogen in den zweiten krachen. Der dritte ließ sich auf ihn fallen und sie rollten über den Boden. Der Rattenaffe war als Erster wieder auf den Beinen, hüpfte herum und keckerte. Vile erhob sich und stürzte sich auf ihn. Seine Hände schlossen sich um den Hals der Kreatur. Der Rattenaffe kreischte und wedelte mit Armen und Beinen. Vile streckte die Arme durch und hob ihn hoch. Selbst aus der Entfernung hörte Walküre das Knacken, als das Genick der Kreatur brach. Vile warf sie zur Seite und wandte sich den anderen beiden zu.
Sie fauchten und kreischten vor Wut. Vile schickte einen Schatten zur Decke hinauf. Er wickelte sich um einen Stalaktiten und brach ihn ab, schoss damit nach unten und bohrte ihn dem kleinen Rattenaffen in die Brust.
Die letzte der Kreaturen brüllte und wollte sich auf Vile stürzen. Sie machte einen Satz, doch er wich aus, gelangte hinter sie und schlang einen Arm um ihren Hals. Sie wehrte sich, er drückte sie an seinen Körper und erdrosselte sie. Danach ließ er sie fallen.
Vile drehte die Kreatur mit dem Fuß um und schickte gleichzeitig einen Schatten hinter Melancholia her. Ohne Eile wickelte er sich um ihren Knöchel und zog und sie fiel fluchend auf den Höhlenboden. Vile verlor das Interesse an dem Rattenaffen und schlenderte zu Melancholia hinüber, während diese mühsam aufstand.
„Fass mich nicht an!“, brüllte sie.
Walküre holte Luft und sprintete aus der Deckung.
Melancholia versuchte, Vile in einer Schattenwelle zurückzudrängen, doch etwas ging schief. Sie schrie auf, fiel auf die Knie und Dunkelheit pulsierte durch ihre Haut.
Vile trat im Schattengang an ihre Seite, in dem Moment jedoch, in dem er wieder sichtbar wurde, pulsierte die Dunkelheit erneut und er war verschwunden.
Walküre blieb mit einem Ruck stehen. „Wo ist er hingegangen?“
„Ich dachte, du seist tot“, murmelte Melancholia.
„Wo ist Vile? Was hast du getan?“
Melancholia verzog das Gesicht und stand auf. „Keine Ahnung. Kann sein, dass ich seinen Schattengang umgeleitet habe.“
„Wohin?“
„Kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, wie das funktioniert.“
„Ist er weit weg? Sind wir in Sicherheit?“
Nach kurzem Zögern schüttelte Melancholia den Kopf. „Ich spüre ihn. Er ist immer noch hier unten. Immer noch hinter uns her.“
Walküre blickte zu dem Sims hinauf. „Du wolltest da hinauf? Dann los.“
Melancholia machte ein finsteres Gesicht und sie begannen zu klettern. Walküres blutige Finger erschwerten es. Der Schmerz ließ sie scharf die Luft einziehen, aber er machte sie wütend und ihre Wut gab ihr Kraft. Sie erreichte den Sims, drehte sich um und half Melancholia vollends hinauf. Sie richteten sich in dem Moment auf, als jemand neben ihnen aus der Dunkelheit trat. Der Weiße Sensenträger schwang seine Sense und zielte auf Walküres Hals.
„Stopp!“, brüllte Melancholia.
Die Klinge blieb in der Luft stehen, keinen Millimeter von Walküres Haut entfernt.
„Wir brauchen sie, um hier rauszukommen“, erklärte Melancholia und schnitt eine Grimasse. „Wir können sie Vile als Köder oder so hinwerfen. Wir müssen weiter. Verstehst du?“
Der Sensenträger nickte, steckte die Sense in ihre Halterung auf seinem Rücken und hob Melancholia auf seine Arme. Dann rannte er los und Walküre holte alles aus sich heraus, um mit ihm Schritt zu halten.