Mein Magen dreht sich, und meine Beine sind wie aus Gummi. Ich fühle mich wie am Rande des Grand Canyons, so steil ist diese Piste. Ich hätte nicht mitgehen sollen. Aber die schwarze Piste wäre so einfach, hatte Loulou gesagt. Schwarz ist in Österreich wie blau. Also wirklich auch für Anfänger. Von wegen. Ich traue mich weder vor noch zurück.
Robin, Madelief und Loulou sind wahrscheinlich längst unten. Soll ich sie anrufen und anflehen, mir zu helfen? Aber was dann? Sie können mich wohl kaum den Berg runterrollen. Ich gratuliere mir selbst zu meiner Unbeholfenheit. Es gibt nur eine Lösung: Ich muss selbst runterfahren. Ich hole tief Luft und stelle meinen Bergski in einen spitzen Winkel zum Talski und halte mich mit den Skistöcken. Von allen Seiten schießen Skifahrer und Snowboarder an mir vorbei und machen mich damit noch nervöser.
Ich nehme all meinen Mut zusammen und verlagere mein Gewicht vom Talski auf den Bergski. Ganz langsam drehe ich mich um die eigene Achse, bis die Skispitzen ins Tal weisen. Ich fange an zu gleiten. Schneller und immer schneller. Der Berg saust mit einem Affenzahn an mir vorbei. Was soll ich machen, was soll ich nur machen? Mein Skiunterricht vom vergangenen Jahr – wie weggeblasen. Ich bin ... und dann höre ich die Stimme meines alten Skilehrers in meinem Kopf: »Gewicht auf den Talski! Jetzt!« Ohne zu zögern mache ich, was er sagt.
Die Welt kommt allmählich wieder in die richtige Perspektive. Ich bremse und lehne mich keuchend auf meine Stöcke. Schwindelig starre ich nach unten. Die Tiefe zieht an mir wie ein unsichtbares Seil. Nicht hinschauen, nicht nachdenken. Einfach noch einen Bogen, sonst stehst du heute Abend noch hier. Zitternd setze ich mich in Bewegung. Wieder schießt der Berg vorbei, aber dieses Mal stütze ich mich mit vollem Gewicht auf den Talski. Ich drehe! Sofort schwinge ich in den nächsten Bogen. Und noch einen. Und noch einen. Meine Arme flattern neben meinem Körper, mein Hintern ragt nach hinten, aber es ist mir egal – wenigstens komme ich hinunter!
Die Piste wird flacher und geht in einen Pfad über. Ich habe es geschafft! Das letzte Stück lege ich im Pflug zurück. Mir zittern die Beine, und mein Shirt klebt an meinem verschwitzten Rücken. Unten am Hügel sehe ich Loulou, Madelief und Robin. Drei Pünktchen, die immer größer werden. Loulou lehnt gelangweilt an ihrem aufrechtstehenden Snowboard. Madelief und Robin sitzen nebeneinander im Schnee.
»Wo kommst du denn her?«, ruft Loulou, als sie mich entdeckt. »Wir warten schon seit einer Stunde auf dich. Weißt du eigentlich, wie kalt es ist?«
Ich bremse, noch einigermaßen würdevoll, hoffe ich. »Ich ... hing ... oben ... auf ... dem ... Berg ... fest«, keuche ich und denke: Wegen dir, du blöde Nuss.
»Fest? Wieso? Das ist wirklich die leichteste schwarze Piste, die ich kenne. Wo um Himmels willen hast du Skifahren gelernt? In Marokko oder so?«
Es ist weniger die doofe Bemerkung als ihr Ton: arrogant, überheblich. Sie hat leicht reden. Ihr fällt jede Sportart leicht. Hockey, Tennis, Schwimmen, Turnen, Snowboarden – in allem ist sie die Beste.
»Tu doch nicht so, Lou. Das war schon eine kniffelige Piste«, sagt Madelief, während sie aufsteht. »Und Dany hat erst letztes Jahr Skifahren gelernt.«
»In Saalbach«, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen.
»Ach ja, das war der letzte Urlaub, in dem deine Eltern noch zusammen waren, oder?«, fragt Loulou achtlos. »Wusste dein Pa da eigentlich schon, dass deine Mutter mit einem anderen rummacht? Oder hat er das erst nach dem Urlaub herausgefunden?«
Bäm. Es fühlt sich an, als hätte sie mir mit voller Wucht in den Magen geboxt.
»Das hat er erst ein paar Monate später rausgekriegt«, sage ich und versuche meine Tränen zurückzuhalten. Ich will in diesem Urlaub gar nicht an meine Eltern denken. Und auch nicht an Stan. »He, schaut mal.« Ich deute ins Tal. »Ist das nicht eine Almhütte?«
Ablenkungsmanöver gelungen! Alle drei schauen in Richtung meines Fingers, der zu einer hölzernen Berghütte mit großer Terrasse zeigt.
Robin springt auf. »Yes, eine Cola light in der Sonne.«
»Es ist halb elf!«, ruft Loulou. »Wir sind erst eine Piste gefahren.«
»Ich habe eigentlich auch Lust auf eine Cola«, sagt Madelief.
»Ihr seid vielleicht ein paar Luschen«, murrt Loulou. »Wir sind doch zum Skifahren und Snowboarden hier.«
»Und zum Trinken«, sagt Robin. »Wer will eine kurze Pause?«
Drei Hände heben sich.
»Sorry, Lou, aber du bist überstimmt«, sagt Robin und klickt ihre Skier fest.
»Das ist wirklich göttlich«, murmelt Robin und kuschelt sich in ihren Liegestuhl. Sie sieht aus wie ein Filmstar mit ihrer weißen, schmal geschnittenen Skihose, der rosafarbenen Daunenjacke, den blonden Haaren und der Piloten-Sonnenbrille. »Burn Baby Burn.«
»Willst du meine Sonnenmilch?«, fragt Madelief im Liegestuhl neben ihr. »Faktor 30.«
»Nein, danke«, sagt Robin. »Ich bekomme nie Sonnenbrand.«
»Das ist ja wohl nicht dein Ernst?«, schnaubt Loulou, die auf Robins anderer Seite sitzt. »Bei den blonden Haaren bist du garantiert Hauttyp 1. Ich sehe schon die ersten Falten.«
Robin schielt über den Goldrand ihrer Sonnenbrille und hebt einen Mittelfinger. »Schon mal was von Botox gehört?«
»Schon mal was von Hautkrebs gehört?«, kontert Loulou. »Aber besser du als ich.«
»Dann gib mir mal die Sonnenmilch«, sage ich.
»Fang.« Madelief wirft die Tube über Robin und Loulou zu mir hinüber. Sie landet auf meiner Skihose.
Ich drücke einen dicken Klecks auf meine Hand und fange an, mich einzucremen. Ich habe die blonden Haare meines Vaters und die blasse Haut meiner Mutter geerbt und bekomme immer Sonnenbrand. Mit geschlossenen Augen rutsche ich in meinem Liegestuhl nach unten. Die Sonne dringt durch alle Lagen meiner Skikleidung bis auf meine Haut. Ich öffne den Reißverschluss meiner Jacke. Das ist ein seltsames Gefühl: Von vorn ist es, als läge ich zum Sonnenbaden am Strand, von hinten wird mir eiskalt.
»Huhu! Wir sitzen hier!«, höre ich Robin brüllen.
Ich spähe durch die Wimpern. Robin ist aufgestanden und winkt, als hinge ihr Leben davon ab.
»Ich glaube ja nicht, dass dieser Kellner Niederländisch spricht«, sagt Loulou.
»We're here!«, brüllt Robin noch etwas lauter. »Wir sind hier!«
Die Augen des Obers finden sie wie ein Magnet. Er trägt ein grünes Hemd und eine kurze Lederhose. Grinsend kommt er auf uns zu und ignoriert den Rest der übervollen Terrasse.
»Schickes Höschen«, ruft Robin über ihre Schulter.
»Psst, gleich hört er dich noch.«
»Unsinn, der ist noch lange nicht hier. Der Typ ...«
»Guten Tag.« Der Kellner steht vor Robin.
»Ups, doch schneller als erwartet«, murmelt sie und fährt dann auf Deutsch fort: »Hallo, wir möchten etwas bestellen.«
»Aber natürlich. Es gibt Getränke, warme Speisen ... Oder möchten Sie lieber eine unserer ... Spezialitäten?« Der Typ macht ein Gesicht, als hätte er sich selbst auch auf die Karte gesetzt.
»Was sagt er?« Robin schaut uns fragend an. »Ich verstehe kein Wort.«
»Er fragt, was du haben willst«, übersetzt Loulou und seufzt.
»Ja, hallo, das habe ich auch noch verstanden.« Robin verdreht die Augen. »Aber was sind diese Speziali-noch-was-Dinger?«
»Spezialitäten. So schwer ist das doch nicht.«
Der Kellner schaut verblüfft von Robin zu Loulou. »Gibt es ein Problem?«
»Nein!« Loulou schüttelt den Kopf. »Wir möchten gern zwei Cola light, einen Kaffee und ...«
Sie dreht den Kopf zu mir und fragt: »Was willst du, Dany?«
»Heißer Kakao mit Schlagsahne. Und ein Stück Apfelstrudel, bitte.«
»Apfelstrudel?«, wiederholt Loulou. »Geht's noch? Wir sind doch hier nicht bei deiner Mutter in Vught zum Kaffee.«
Ich sehe Loulou verärgert an, aber sie hat sich schon zum Kellner umgedreht. »Kein Apfelstrudel, nur ein heißer Kakao mit Sahne. Das war alles.«
»Ich bin gleich wieder da.« Er zwinkert Robin zu und geht.
»Lieber Himmel, man könnte meinen, der gefällt dir«, meint Madelief, als er außer Hörweite ist.
»Ich finde ihn auch knackig«, sagt Robin grinsend. »Dumm, aber knackig.«
»Wie du also«, stichelt Loulou.
»Bitch!« Robin wirft einen Handschuh nach Loulou, die kreischend vor Lachen zur Seite abtaucht.
»Hört doch mal auf mit dem Gezanke, bitte.« Madelief verzieht das Gesicht. »Da kommt er.«
»Jetzt schon?« Loulou wirft den Handschuh zu Robin zurück. »Hat der Typ vielleicht ADHS?«
»Heißer Kakao mit Sahne?«, fragt der Kellner mit einem vollen Tablett in den Händen.
»Ja«, sage ich.
»Die Colas sind für ...?«
»Was sagt er jetzt wieder?«, fragt Robin gähnend und scheint plötzlich alles Interesse verloren zu haben.
»Für wen die Colas sind«, sagt Loulou.
»Me! Für mir«, ruft Robin.
»Für mich«, verbessert Loulou. »Vierter Fall, durch, für, gegen, ohne ...«
»Ja, ja«, unterbricht Robin sie. »Wenn du sowieso alles besser weißt: Übernimmst du das hier? Nachher zahlen wir alle was in die Urlaubskasse ein.«
Loulou zuckt mit den Schultern. »Von mir aus.«
»Die zweite Cola für Sie?«
»Für das Mädchen da.« Loulou zeigt auf Madelief. »Und für mich ...« – sie wirft Robin einen kurzen Blick zu, aber die tut, als würde sie es nicht hören –, »ist der Kaffee.«
»Das macht insgesamt 11 Euro 95.«
Loulou fischt ihren Geldbeutel aus ihrer Snowboardhose. Sie bezahlt mit einem Zehner und einem 2-Euro-Stück.
»Keep the change«, sagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Äh, ja, danke.« Der Kellner steckt die 5-Cent-Münze in seine Tasche.
»Und jetzt, ciao!« Robin wedelt mit der Hand, als wollte sie eine lästige Fliege davonjagen.
»Ciao«, sagt der junge Mann und dreht sich hölzern um. Fast habe ich Mitleid mit ihm: Wenn Loulou und Robin so richtig in Fahrt kommen, werden sie zu Hexen.
»Auf den Urlaub!« Madelief hebt ihre Cola light.
»Auf drei Tage ü-ber-haupt nichts tun«, prostet Robin uns zu.
Loulou und ich halten unsere Becher hin.
Neben den Cola-light-Fläschchen sieht mein heißer Kakao mit Sahne fett und süß aus. Und ich wirke sowieso schon so riesig in meiner Skihose. Das Bild von einem Elefanten in Skiklamotten steigt in mir auf. Nein! Ich schiebe das Bild zur Seite. Das Ich-bin-zu-dick-Syndrom habe ich in Amsterdam gelassen, zusammen mit allen anderen Sorgen wegen zu Hause. Ich habe keine Lust mehr, ein Trauerkloß zu sein. Ich trinke einen großen Schluck Kakao, wobei meine Nasenspitze fast in der Sahne verschwindet. Mit der Zunge schlecke ich mir über die Lippen.
»Hot guy-Alarm!«, zischt Robin. »Dort rechts, beim großen Picknicktisch.«
Ich schaue nach rechts. Drei Jungs um die zwanzig kommen auf uns zu. Ich sehe sofort, welchen Robin meint: den mittleren. Er hat tiefschwarze Haare, eine leicht gebräunte Haut und ist mindestens einen Kopf größer und viel breiter als seine beiden Freunde. Ich kenne diese Art von Typ: selbstsicher, blendendes Aussehen und vollkommen unerreichbar.
»Der mit den dunklen Haaren wäre echt was für dich, Lou«, flüstert Robin.
»Hm-m«, murmelt Loulou.
Die Jungs gehen an Robin, Madelief und Loulou vorbei; unmittelbar vor meinem Stuhl bleiben sie stehen. Der mit den dunklen Haaren steht nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich kann die Webstruktur seiner schwarzen Snowboardhose erkennen, die Knötchen auf seinem Fleecepullover. Als mein Blick noch weiter hochwandert, sehe ich, dass er mich anstarrt. Seine Augen sind goldbraun mit einem gelben Rand um die Iris. Ich habe noch nie solche Augen gesehen. Es ist, als würde die Welt immer kleiner, als gäbe es Robin, Loulou und Madelief nicht mehr, als würden alle Geräusche verstummen. Ich höre nur noch meinen eigenen Atem und das Klopfen meines Herzens.
Plötzlich leuchten seine Augen auf, als hätte er etwas sehr Witziges gesehen. Seine Mundwinkel ziehen sich spöttisch nach oben. Was ist wohl so lustig?, frage ich mich ein wenig unbehaglich.
Als könnte er Gedanken lesen, zeigt er mit dem Finger auf seine Nasenspitze und dann auf mich. Nase? Was ist mit meiner Nase? Gedankenverloren berühre ich mein Gesicht. Und dann fühle ich ihn, den dicken Sahneklecks. Oh, shit!
»Hi stranger«, höre ich Loulou heiser sagen. »Looking for something?«
Der Dunkelhaarige verlagert seinen Blick auf Loulou. Schnell wische ich mir mit dem Ärmelbündchen die Sahne von der Nase.
»Mag sein«, antwortet er mit einer dunklen, warmen Stimme.
Loulou fährt sich mit einer Hand durch die langen dunkelbraunen Haare. »Sieh an, ein Niederländer! Woher kommt ihr?«
»Amsterdam.«
»Wir auch.« Loulou wirft den Kopf in den Nacken und lacht. »So ein Zufall.«
»Ja.« Er sagt es sehr bedächtig, als hielte er es gar nicht für einen Zufall.
Ich schaue in sein Gesicht. Nichts lässt erahnen, dass er zuerst nach mir geschaut hat.
»He, Dante.« Einer seiner Freunde stößt ihn an. »Weiter geht's. Ich will zu dieser geilen schwarzen Piste in Königsleiten.«
Sein Freund sieht mich unter seiner gestrickten Grunge-Mütze genervt an. »Kannst du mal ein Stück rutschen mit deinem Stuhl? Dann können wir vorbei.«
»Ja, klar«, murmele ich, während ich Platz mache. Plötzlich fühle ich mich sehr dumm. Deswegen war dieser Dante also vor meinem Stuhl stehen geblieben: Nicht, weil er mich interessant fand, sondern weil ich den Weg blockiert habe.
Esel bleibt Esel, höre ich die Stimme meiner Mutter wieder in meinem Kopf. Gott, wie ich diese Art von Bemerkungen hasse. Manchmal bin ich froh, dass sie nach Vught gezogen ist.
»Vielleicht sehen wir euch nachher beim Après-Ski«, ruft Loulou den Jungs hinterher. »Habt ihr einen guten Tipp?«
Der mit der Strickmütze dreht sich um. »Wir waren gestern im Cin Cin. Das ist die runde Holzbar beim Übungshügel. Paar Niederländer zu viel, aber sonst ganz okay. Bis später!«
Ich schaue den Jungs hinterher, bis sie außer Sicht sind.
»Diesen Dante hast du in der Tasche, Lou«, sagt Robin und grinst. »Hast du gesehen, wie er guckte? He wants you.«
»Wer nicht«, sagt Loulou gespielt gelangweilt. Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. »Kommt, lasst uns wieder Skifahren. Ich verplempere hier schon seit sechsundvierzig Minuten meine Zeit.«