Sie bewegt sich nicht mehr. Es ist fast rührend, wie sie so da liegt, den Kopf zur Seite gedreht, die Arme und Beine reglos auf dem Bett. Nur am Heben und Senken ihrer Brust kann ich sehen, dass sie noch lebt. Manche Tiere in Todesangst machen das auch so: Sie stellen sich tot, in der Hoffnung, dass der Feind das Interesse verliert.
Aber ich bin kein Tier.
Mit einiger Mühe reiße ich meinen Blick von ihr los. Ich könnte sie stundenlang anschauen, doch ich habe noch zu tun. Ich öffne die schwarze Sporttasche, die ich von zu Hause mitgenommen habe. Als Erstes nehme ich das Rasiermesser heraus. Mit dem Daumen streiche ich liebevoll über die Klinge. So scharf, so perfekt. Als hätte Gott selbst sie geschaffen. In meinem Inneren beginnt etwas zu schwelen. Ein kleines knisterndes Feuerchen. Bei jedem Einatmen werden die Flammen größer. Sie züngeln, flehen, versuchen mich zu überreden: Tu es! Tu es jetzt!
Das Zimmer verschwimmt, als würde alles Unwichtige verschwinden. Ich sehe nur noch das Rasiermesser. Tu! Es! Jetzt!
Meine Hände zittern, während ich das Rasiermesser hebe.
Nein!
Mein Bewusstsein kommt gerade noch rechtzeitig zurück. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich darf noch nicht nachgeben, es würde alles verderben. Ich lasse meine Hand wieder sinken und lege das Rasiermesser auf den Boden. Gleich, denke ich, gleich ist es so weit.
Vorsichtig nehme ich die anderen Gegenstände aus der Sporttasche: eine durchsichtige Plastiktüte, eine Schere, Latexhandschuhe, ein Stück Reserveseil, eine Dose Rasierschaum und eine Rolle silbergraues Tape. Die Gegenstände sehen aus wie ein Stillleben.
Dieses Mal habe ich alles gut vorbereitet. Hunderte Male habe ich es wiederholt, als würde ich einen Tanz mit einem unsichtbaren Partner aufführen. So oft, bis ich es notfalls auch blind könnte. Der Tod selbst bedeutet nicht so viel, es ist die Art des Sterbens, mit dem man den Unterschied machen kann. Und dieses Mal würde ich nichts dem Zufall überlassen.
Es ist fast Zeit, sie wieder zum Leben zu erwecken. Ich lege meinen Handrücken auf ihren Oberschenkel. Haut an Haut, aber keine Fingerabdrücke. Ihr Körper zuckt wie ein zu Tode Verurteilter auf dem elektrischen Stuhl.
»W-wer bist du?« Ihre Stimme ist brüchig. Die Worte flattern wie Schmetterlinge davon.
Als Antwort räuspere ich mich kurz. Sie legt den Kopf schief, wie ein Hund, der ein Geräusch in der Ferne wahrnimmt.
»Sag etwas z-zu mir, b-bitte.«
Ich streichle mit dem Handrücken über ihren Oberschenkel. Sie versucht ihr Bein wegzuziehen, aber die Seile verhindern es.
»Fass mich nicht an!« Ihre Stimme klingt jetzt kräftiger.
Das stört mich. Ich habe hier das Sagen. Ich gebe die Befehle. Meine Hand ballt sich zu einer Faust auf ihrem Oberschenkel.
»Lass mich gehen! Lass mich gehen!« Die Wut in ihrer Stimme wächst.
Hör auf, denke ich.
»Warum machst du das?«, kreischt sie. »Du Dreckskerl. Armseliges Schwein. Was fällt dir ein?«
Die Worte rasen durch meinen Kopf, dringen tief in mein Bewusstsein, bis sie ganz in mir sind, an dem Ort, wo Der Schatten schläft. Ich spüre, wie er versucht, sich aus dem Dunkel zu lösen. Wie er versucht, aufzustehen.
Ich atme tief ein und versuche, mich vor ihrem hysterischen Kreischen zu verschließen. Ein Kinderlied kommt mir in den Sinn:
Mein liebes Elefantenkind
Pack Mamas Rüssel, lauf geschwind
Sonst verirrst du dich allein
Und dann wirst du traurig sein.
Ich summe mit, mein Herz klopft im Rhythmus der Melodie. Es wird still, Der Schatten hat sich wieder hingelegt. Erleichtert lasse ich die Spannung aus meinem Körper fließen. Dieses Mal habe ich Den Schatten in Schach halten können. Aber es wird einen Punkt geben, an dem er zu stark wird, und dann werde ich die Welt durch seine Augen sehen. Es dauert nicht mehr lange, bis es so weit ist. Ich kenne Den Schatten.