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ZEIT: 22:23 Uhr

Allmählich wird es Zeit für das Wesentliche. Ich zwänge meine Finger in die Latexhandschuhe. Sie sitzen zu eng. Das ärgert mich. Warum machen sie solche Sachen immer zu klein?

Vorsichtig setze ich mich auf die Bettkante. Die Matratze sinkt ein unter meinem Gewicht. Wir sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ihr ist nichts anzumerken. Keine Angst, keine Panik, keine Hysterie. Regungslos bleibt sie liegen.

Ich nehme ihren Arm. Wie eine Stoffpuppe lässt sie es zu. Meine Finger betasten ihre Haut, kneifen hinein, wie ein Metzger, der sein Fleisch prüft. Ein Gedanke überfällt mich. Dies sind die letzten Hände, die sie berühren werden. Ihr Körper ist zu meinem Besitz geworden. So wie ihre Mutter sie als Erste nach der Geburt festhalten durfte, werde ich sie als Letzte halten und zuschauen, wie ihr Licht erlöscht.

In nomine Dei. Im Namen Gottes. Ich spüre, wie die Tränen hinter meinen Augen brennen. Das überrumpelt mich. Das letzte Mal, dass ich geweint habe, ist Jahre her. Das muss noch in der Grundschule gewesen sein. Fast hatte ich vergessen, wie sich das anfühlt. Tränen sind ein Zeichen von Schwäche. Ein Wort, das auf mich nicht mehr zutrifft.

Ich bücke mich und hebe die Schere vom Boden auf. Das Licht der Deckenlampe spiegelt sich in ihren eisernen Klingen. Mit der Scherenspitze streiche ich über ihren Arm, die Ellenbogenbeuge entlang zum Oberarm. Hier ist die Haut dick und fleischig. Die Spitze dreht Runden auf ihrem Arm. Die Kreise werden immer kleiner, bis die Spitze innehält.

Ein wohliger Schauder zieht über mein Rückgrat. Ob sich ein Bildhauer genauso fühlt, wenn er seinen Meißel am rohen unbehauenen Felsen ansetzt? Bereit, die wahre Schönheit des Steins zu enthüllen?

Ich drücke die scharfe Spitze sanft in ihren Oberarm. Die Haut bekommt eine Delle, wird weiß rund um diesen Punkt. Ich verstärke den Druck. Die Spitze verschwindet tiefer in der Haut. Eine perfekte Kuhle im weißen Fleisch.

»W-was machst du?« Ihre Stimme sucht mich wie eine Blinde.

Das entlockt mir ein Lächeln. Die Blüte öffnet sich, endlich. Ich sauge ihre Angst auf, versuche zu fühlen, was sie fühlt. Für einen kurzen Augenblick sind wir eins geworden. Das ist noch intimer, als ich es mir hätte vorstellen können. Und das ist erst der Anfang.

Plötzlich drücken meine Hände die Schere durch die Haut. Ein paar Sekunden lang passiert nichts, als hätte ihre Haut noch nicht verstanden, was da gerade passiert ist. Aber dann füllt sich die kleine Wunde blitzschnell mit Blut. Dicke, dunkle Tropfen steigen auf und suchen sich ihren Weg hinaus.

»N-nein, n-nein.« Sie wimmert wie ein kleines Kind.

Ich wünschte, ich könnte ihr erklären, dass Schmerz auch befreiend wirken und all die anderen bedeutungslosen Gefühle ausschalten kann, sodass nur das Wesentliche übrig bleibt. Es ist die Angst vor dem Schmerz, die ihn unerträglich macht. Aber nur wenigen gelingt es, ihre Angst wegzuschieben und den Schmerz zu umarmen.

Das Wimmern wird kläglich, fast fiepend. Sie klingt wie ein junger Hund, dessen Pfote in einer Tür eingeklemmt ist. Plötzlich verspüre ich das Bedürfnis, sie zu trösten. Mein Mund nähert sich ihrem Oberarm, meine Lippen schließen sich um ihre Wunde. Ich fange an zu saugen. Der salzige, metallische Geschmack von Blut und Schweiß füllt meinen Mund. Meine Kiefer pressen noch ein wenig fester. Sie weint jetzt mit langgezogenen Schluchzern. Pst, sei still, denke ich. Ich bin bei dir. Du brauchst ...

Ein schrecklicher Schmerz flammt durch meinen Schädel.

So unerwartet und heftig, dass mir schlecht wird.

Was zur Hölle ...?

Ich kann nicht mehr klar denken. Meine Hände greifen nach meinem Kopf, versuchen, den Schmerz zu fassen, der in Wellen in meinem Schädel zerspringt. Fokussier dich! Lass dich nicht ablenken! Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Sauge meine Lungen voller Luft. Ganz langsam zieht sich das Schmerzensmeer zurück.

Ich starre auf das Bett. Reglos liegt sie da, als wüsste sie nicht, was da gerade geschehen ist. Aber darauf falle ich nicht herein. Mein Blick scannt die Seile um ihre Handgelenke und Fußknöchel – unverändert straff. Aber wie ... Und dann sehe ich es. Eine rote Beule auf ihrem Kinn, groß wie ein Ei. Jetzt fügt sich alles zusammen. Diese Schlampe hat mir mit dem Kinn einen Stoß verpasst!

Wut brodelt wie kochend heißer Dampf durch meinen Körper. Tief in meinem Inneren baut sich Druck auf. Zischend erwacht Der Schatten. Er holt aus, schlägt sie.

Das. Machst. Du. Nie. Wieder.

Meine Hand brennt, und ich keuche. Oder ist es Der Schatten? Ich mache einen Schritt zurück, damit ich sie ansehen kann.

Sie zittert vor Angst. Ich spüre, wie sich die Wut aus meinem Körper zurückzieht. Was bleibt, ist ein dumpfes, leeres Gefühl.

Meine Hand gleitet über ihren Körper, versucht, es wiedergutzumachen. Sie stöhnt leise. Ich unterdrücke das Bedürfnis, mich neben sie zu legen und sie in die Arme zu nehmen