TAG: -13

ZEIT: 07:15 Uhr

Der Bus fährt immer noch nicht los. Es ist früher Morgen, Viertel nach sieben, und wir warten seit einer halben Stunde, gefühlt eine halbe Ewigkeit. Der Fahrer sitzt vorn und telefoniert ausgiebig, als müsste er keine Busladung Niederländer nach Hause bringen. Und ich will so gern heim! Ich drücke die Nase gegen die Fensterscheibe. Die aufgehende Sonne färbt den Himmel violett.

»Wollt ihr auch was?« Loulou lehnt sich über den Sitz der Reihe vor mir, eine Tüte Lakritz in der Hand.

»Gern.« Madelief nimmt eins.

»Und du, Dany?« Die Tüte baumelt jetzt vor meiner Nase.

»Nein, danke.« Ich kann schon seit zwei Tagen kaum etwas essen. Es fühlt sich an, als wäre meine Kehle zu eng geworden.

»Wie du willst.« Loulou verschließt die Tüte. »Sollen wir Skribbl spielen?«

»Gleich vielleicht. Ich bin ein bisschen müde.«

»Müde? Sicher«, höhnt Loulou. »Du denkst bloß wieder an Dante.«

Ich zucke mit den Schultern und rutsche tiefer in meinen Sitz.

»Gestern hast du auch schon den ganzen Tag im Bett gelegen und gejammert, während wir Skifahren waren.«

»Ich war erkältet, deswegen bin ich nicht mitgekommen.« Mein Gesicht glüht.

»Erkältet, ist klar.«

Ich schaue zu Loulou. Sie gibt sich keinerlei Mühe, ihren Ärger zu verbergen. »Bist du fertig?«, frage ich.

»Nein!«, giftet sie. »Schlag ihn dir bitte aus dem Kopf. Knutsch mit einem anderen, sauf dich ins Koma, geh shoppen, plündere die Kreditkarte deines Vaters. Mach irgendwas, um diesen Typen zu vergessen.«

Nun kommt auch Robins Kopf zum Vorschein. »Willst du wissen, wie ich darüber denke?«

Eigentlich nicht. Ich sinke noch tiefer in meinen Sitz.

»Du hättest nicht mit ihm vor die Tür gehen sollen«, meint sie, ohne meine Antwort abzuwarten. Sie saugt ihre Wangen ein und tut so, als würde sie intensiv nachdenken. »Ich werde jetzt nicht sagen, wir haben dich gewarnt ...«

»Aber du sagst es doch«, ergänzt Madelief mit einem Seufzer.

»Weil ich sie mag.«

»Vielleicht darf Dany dann einfach selbst bestimmen, mit wem sie rausgeht und mit wem nicht?«

»Und sich wieder so ein Stan-Trauma einfangen? Guck dir doch an, wie sie aussieht. Das hat ihr alles andere als gutgetan!«

Alle drei schauen mich an.

Ich werde knallrot und gucke weg. Was denken sie sich eigentlich? Dass ich eine Idiotin bin?

Wahrscheinlich haben sich Dante und seine Mitbewohner auch über mich schlapp gelacht. »Diese Danielle war echt superleicht rumzukriegen«, hat Dante bestimmt gesagt. »Ich hab sie gefragt, ob sie mit rauskommt. Und wisst ihr, was sie gemacht hat? Sie ist einfach mitgegangen! Wie ein zahmes Reh!« Raf und Boaz haben bestimmt geschrien vor Lachen. Ich schäme mich zu Tode, dass ich auf Dantes Geflirte reingefallen bin.

»Sollen wir dann Skribbl spielen, Madelief?«, fragt Loulou.

Ich atme erleichtert auf.

»Nein, ich will lesen.« Madelief zieht ein Buch aus ihrer Tasche. »Vielleicht hat Robin ja Lust?«

»Kein Bock.«

»Mann!«, motzt Loulou. »Mit euch ist echt ...«

Rüttelnd setzt sich der Bus in Bewegung.

»Wir fahren!«, ruft Robin. »Tschüs, Gerlos. Bis nächstes Jahr!«

Der Bus verlässt den Parkplatz und fährt auf die Straße.

»Vielleicht schlafe ich eine Runde«, sagt Robin und lässt sich auf ihren Sitz fallen. Ihr Kopf verschwindet.

Loulou rutscht auch runter. »Wehe, du schnarchst«, höre ich sie sagen.

Ich lehne den Kopf an die Scheibe und sehe, wie der Bus die letzten Häuser von Gerlos hinter sich lässt. Die Morgendämmerung verschluckt uns. Der Urlaub ist vorbei.

Ein Pfeifen. Gedankenlos checke ich auf meinem Handy, wer mir auf WhatsApp geschrieben hat. STANNIE steht auf dem Display. Mir wird augenblicklich anders, als hätte ich plötzlich einen Knoten im Magen. Vier Tage hat Stan sich nicht bei mir gemeldet. Ich dachte schon fast, es sei endlich vorbei. Aber ich hätte es wissen müssen – so leicht werde ich ihn nicht los.

Ich werfe einen Blick zur Seite. Madelief liest in ihrem Buch. Ich höre Robin und Loulou über irgendein Kleid von Mango reden, die haben auch nichts gemerkt.

So unauffällig wie möglich öffne ich die Nachricht.

Guten Morgen! Gut geschlafen?

Ein paar Sekunden später erscheint eine zweite Nachricht auf meinem Display.

Huhu? Ich weiß, dass du online bist ...

Wieder ein paar Sekunden später:

Hallo, hallo, hallo???

ICH MACHE MIR SORGEN!

Ich weiß, dass das erst aufhört, wenn ich etwas zurückschreibe.

Bin krank.

Schnell schalte ich mein Handy aus, bevor Stan noch mehr Nachrichten schicken kann.

Ich habe Stan vor vier Monaten auf dem Geburtstag meiner Mitschülerin Julia kennengelernt. Ich wollte eigentlich gar nicht auf ihre Party. Meine Mutter hatte mir in dieser Woche erzählt, dass sie zu ihrem neuen Freund nach Vught ziehen würde. Ich dürfte mitkommen, könnte aber auch bei Papa wohnen bleiben und meine Schule in Amsterdam zu Ende machen. Ich habe mich für meinen Vater entschieden, weil ich das Gefühl hatte, dass er meinen Kummer teilt: Ihm fehlte Mama auch so sehr, dass es wehtat. Wer konnte da ahnen, dass er schon wenige Monate später eine neue Freundin haben würde? Jetzt ist er kaum noch zu Hause.

Loulou, Robin und Madelief hatten mich an diesem Tag überredet, doch mit zur Party zu gehen. Sonst würde ich sowieso bloß allein zu Hause sitzen, heulen und den Streitereien meiner Eltern zuhören müssen, sagten sie. Also kämmte ich mir die Haare und schmierte Mascara auf die Wimpern meiner rotverweinten Augen. Auf der Party war viel los. Die ganze Klasse war eingeladen und noch einige andere, die ich nicht kannte. Einer von ihnen war Stan. Er fiel mir auf, weil er anders war. Alle amüsierten sich, tanzten, lachten, tranken, nur Stan nicht. Er stand ein wenig verloren herum und sah aus, als würde er sich fragen, was um Himmels willen er auf dieser Party verloren hatte. Ich wusste genau, wie er sich fühlte.

Als ich etwas zu trinken holen ging, war Stan zufällig auch gerade an der Theke. Wir kamen ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass er Julias Cousin war und glaubte, nur deswegen eingeladen zu sein. Er machte so ein betretenes Gesicht, als er das erzählte, dass ich lachen musste. Da fing auch er an zu lachen. Und sein ganzes Gesicht lachte mit: die blauen Augen, die Grübchen in seinen Wangen, seine blonden Locken, die auf- und abwippten.

Er bot mir ein Getränk an und fragte mich alles Mögliche: Woher ich Julia kannte. In welche Schule ich ging, ob ich in der Nähe wohnte. Er selbst war im Jahr zuvor nach Amsterdam gezogen, um Betriebswirtschaft zu studieren. Es war nett, mit ihm zu reden. Er schien aufrichtiges Interesse an meinen Antworten zu haben. Und bevor es mir richtig klar war, erzählte ich ihm von der Scheidung meiner Eltern und konnte meine Tränen nicht mehr runterschlucken.

Stan legte tröstend seine Hand auf meinen Arm. »Ich weiß, wie es ist, sich einsam zu fühlen«, flüsterte er. »Ich habe innerhalb von zwei Jahren meine Mutter und eine gute Freundin verloren.«

Bei seiner Antwort stockte mir der Atem. »W-wie schlimm.«

»Meine Mutter hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs. Und meine Freundin ist diesen Sommer ... verunglückt.«

Stan schloss die Augen. Ich wagte es nicht, weiter zu fragen.

»Das t-tut mir leid«, stammelte ich und nahm seine Hand.

Er drückte sie und lächelte. »Danke.«

Als Stan am Ende dieses Abends fragte, ob ich vielleicht einmal mit ihm ins Kino gehen würde, sagte ich ohne Zögern zu. Und bei diesem Date haben wir uns das erste Mal geküsst. Es fühlte sich angenehm an. Vertraut. Als wären wir schon seit Jahren Freunde.

Danach trafen wir uns immer häufiger. Er kam oft nach der Schule bei mir vorbei. Dann konnten wir stundenlang über die Scheidung reden. Endlich gab es jemanden, der mir zuhörte. Und ich hörte seinen Geschichten zu.

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich es allmählich beklemmend fand. Vielleicht als er zum zigsten Mal von seiner Mutter anfing. Oder als er wütend wurde, weil ich einmal keine Lust hatte, über meine Eltern zu reden und lieber einen Film gucken wollte.

Es war, als würde ich aus einem tiefen Winterschlaf aufschrecken. Auf einmal konnte ich meine Beziehung mit Stan aus der Distanz betrachten. Eigentlich hatten wir nur einen einzigen Berührungspunkt, und das war unsere Traurigkeit. Und durch seine Traurigkeit blieb ich auch in meiner hängen.

Also hatte ich allen Mut zusammengenommen und mit Stan Schluss gemacht. Er schaute mich an, als würde ich eine andere Sprache sprechen. Erst als ich es wiederholt habe, verstand er es. Er begann am ganzen Körper zu zittern und zerrte an seinen Haaren, so fest, dass er sich beinahe welche ausriss. »Nein«, murmelte er immer wieder, »nein«.

Das versetzte mich fast so sehr in Panik wie ihn. Diesen Stan kannte ich gar nicht. Ich versuchte ihm zu erklären, dass meine eigenen Probleme zu groß waren, um seine auch noch zu tragen.

Doch Stan hörte nicht zu. Er lief in meinem Zimmer Runden, als hätte er sich völlig verirrt.

»Aber ich liebe dich«, sagte er immer wieder. »Verstehst du das denn nicht?«

Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

Schließlich setzte er sich auf mein Bett. Seine Augen waren rot vom Weinen. »Können wir denn trotzdem noch Freunde bleiben?«, fragte er mit ganz dünner Stimme.

In dem Moment hätte ich Nein sagen müssen. Aber ich hatte so große Angst, dass er dann wirklich zusammenbrechen würde. Also sagte ich: »Ja, natürlich können wir Freunde bleiben.«

Und das tut mir jetzt unendlich leid.