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ZEIT: 21:15 Uhr

Eine Werbung für Antischuppenshampoo unterbricht The Voice. Ich stelle den Fernseher etwas leiser und schaue auf die Uhr. Viertel nach neun. In meinem Kopf klingelt ein Alarmglöckchen. Was war doch gleich um Viertel nach neun? Plötzlich weiß ich es wieder – mein Zug sollte dann in Vught ankommen! Vielleicht sollte ich meinem Vater eine SMS schicken, dass alles gut geklappt hat. Je länger ich darüber nachdenke, desto cleverer finde ich meine Idee.

Bin am Bahnhof Vught. X

Innerhalb weniger Sekunden bekomme ich eine Nachricht zurück:

Fein! Viel Spaß XXX Papa.

Scheinbar hatte er auf eine Nachricht gewartet. Was hätte er getan, wenn ich mich nicht gemeldet hätte? Mama angerufen? Bei der Vorstellung überläuft es mich eiskalt.

Ziellos starre ich vor mich hin. Der Abend ist noch so lang. Was könnte ich denn machen? Mein Blick fällt auf einen Bücherstapel auf dem Beistelltisch am Fernseher. Das müssen die Bücher sein, die Stan für mein Referat hinterlassen hat.

Weil ich sowieso nichts anderes zu tun habe, nehme ich das oberste Buch vom Stapel: Europäische Unternehmen nach dem Brexit. Ich blättere von hinten nach vorne durch. Wie kann man bloß Betriebswirtschaft studieren? Das ist ja so was von öde!

Die letzte Seite flutscht mir durch die Finger. Ich starre auf den Stempel der Fachbibliothek Wirtschaftswissenschaften vorne im Buch. Darunter ist eine Liste mit Namen und Ausleihzeiten. Ganz schön altmodisch, denke ich. Wahrscheinlich haben sie dort ...

Plötzlich stockt mir der Atem. Ich starre auf die Namen, die in den dafür vorgesehenen Kästchen notiert wurden. In der untersten Zeile steht Stans Name. Und ein paar Kästchen darüber steht ... Florine Dalhuizen!

Meine Hände fangen an zu zittern. Das kann doch nicht wahr sein!

Aber der Name steht da.

Die Buchstaben brennen sich in meine Netzhaut, flehen um Erklärung. Mir fällt nur eine einzige ein: Florine studierte auch Betriebswirtschaft, wie Stan. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich kannten, ist groß!

Oh Himmel! Was bedeutet das? Was –

Ein Geräusch im Flur.

Ich bin so verwirrt, dass es ein paar Sekunden dauert, bevor ich das Geräusch einsortieren kann: Es klopft an der Haustür.

Reglos bleibe ich sitzen in der Hoffnung, dass derjenige, der da geklopft hat, von selbst wieder geht.

Noch ein Klopfen, jetzt etwas fester.

»Ja«, rufe ich heiser. »Ich komme.«

Ich stehe auf und schlucke die Angst hinunter, die mir den Hals zuschnürt.

»Hallo?«, rufe ich, als ich an der Haustür bin. Ich schaue durch das Oberlicht, sehe aber niemanden.

»Hallo?«, rufe ich noch einmal.

»Sammlung für die Krebsstiftung«, höre ich eine Stimme, fast unverständlich durch Wind und Regen.

Shit, meine Mutter spendet der Krebsstiftung jedes Jahr Geld. Was soll ich machen? In Gedanken höre ich die Stimme meiner Mutter: Du lässt einen Spendensammler doch wohl nicht vor geschlossener Haustür stehen?«

»Moment, ich mache auf.« Widerwillig öffne ich das doppelt gesicherte Türschloss. »Mein Vater ist nicht da, also kommen Sie vielleicht besser zu einem anderen Zeitpunkt wieder?«, sage ich, während ich die Klinke runterdrücke.

Die Tür fliegt mir aus den Händen, und ein Schemen springt auf mich zu. Ich pralle auf den Boden. Ein scharfer, stechender Schmerz schießt durch meinen Ellenbogen, und im Mund schmecke ich Blut. In einem Reflex versuche ich zu flüchten, auf Händen und Füßen, aber ich werde bäuchlings zu Boden gedrückt.

Heißer Atem an meiner Wange. Ein schweres Gewicht auf meinem Rücken, ich kriege kaum Luft. Ich versuche mich freizukämpfen, krümme und winde mich, trete mit den Beinen. Aber ich habe keine Chance.

»Hilfe«, schreie ich. »Hi...«

Eine Hand auf meinem Mund, die andere zieht an meinen Haaren. Mein Kopf wird nach hinten gezerrt und auf den Boden geschlagen. Schmerz! Er erfüllt mich, bis ich mich fast übergeben muss.

Noch einmal wird mein Kopf hochgezogen. Und noch einmal knallt mein Kopf auf den Boden. Das Geräusch von splitterndem Holz. Oder ist das mein Schädel?

Jemand schaut mich an, aber ich kann nicht sehen, wer es ist. Alles ist so verschwommen, so grau. Das Licht zittert und zerbricht in kleine Stücke. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie das Dunkel auf mich zukriecht. Irgendwie bin ich froh, dass es vorbei ist.