Die Gespenstermama hatte richtig gehört. Das Käuzchen hatte wirklich gerufen. Nur ein Mal und auch nur ganz kurz, damit Friedehelm wusste, dass es in der Nähe war. Wenn er auch nur ein Fitzelchen Angst vor den schrecklich mies gelaunten Weiden gehabt hätte, dann wäre sie spätestens jetzt verschwunden. Friedehelm schwebte fröhlich pfeifend voraus, und die Großen folgten ihm.
»Sag mal, hast du’s eilig?«, fragte seine älteste Schwester.
»Ist es so wichtig, was du den miesen Weiden ausrichten sollst?«, fragte die mittlere.
»Jetzt kannst du’s uns ja sagen«, sagte die jüngste.
»Als Geheimnisträger kann ich das ganz bestimmt nicht«, gab Friedehelm zur Antwort.
Danach war eine Weile Ruhe. Bis der älteste Bruder anfing: »Sag mal, Friedehelm, was machst du eigentlich, wenn den schrecklich mies gelaunten Weiden nicht gefällt, was du ihnen ausrichtest?«
»Ja, was dann?«, fragte der mittlere. »Wir könnten dir bestimmt helfen – aber dazu müssten wir natürlich wissen, worum es geht.«
»Damit wir uns schon mal darauf einstellen können«, erklärte der jüngste.
»Macht euch doch bitte keine Sorgen!«, war Friedehelms Antwort. »Außerdem sind wir gleich da.«
Das stimmte. Man hörte die Weiden schon wispern, und es war lauter als das Quietschen der Regenjacken.
»Pst! Pssst! Pssssst!«
Friedehelm machte das nichts mehr aus, darum schwebte er auch, ohne anzuhalten, weiter. Aber dann hörte er das Quietschen der anderen sechs Regenjacken nicht mehr und drehte sich um. Seine Geschwister schwebten ein ganzes Stück hinter ihm auf der Stelle.
»Was ist?«, fragte er.
»Wir … wir haben was ins Auge bekommen«, sagten die Brüder.
»Wahrscheinlich Staub«, sagten die Schwestern. »Vom Wind.«
Dann fingen sie alle an, wie wild an ihren Augen herumzureiben.
Es war neblig, ringsum war Moor, und es ging nicht das kleinste Lüftchen, aber Friedehelm nickte trotzdem nur und wartete, bis die sechs sich gründlich die Augen rot gerieben hatten.
»Geht’s wieder?«, fragte er dann, und als die sechs Rotaugen nickten, schwebte er weiter.
Die Weiden wisperten immer noch, und Friedehelm fiel das Liedchen wieder ein, das er auf sie gedichtet hatte. Das sang er jetzt fröhlich vor sich hin.
La, la, la, ihr Weiden,
niemand kann euch leiden!
Wisper, wisper, la, la, la,
besser, ihr wärt gar nicht da!
Am Anfang hörten seine Geschwister gar nicht richtig zu, weil sie die ganze Zeit auf das Gewisper lauschten. Erst als Friedehelm das Ende des Liedchens schmetterte, als soll- ten es noch die letzten Molche tief unten im Moorschlamm hören, merkten sie was.
»Hey, hast du noch alle Zipfel am Hemd?!«, zischte sein ältester Bruder.
»Willst du, dass sie noch miesere Laune kriegen?«, zischte seine älteste Schwester.
»Ach was, das Lied kennen sie schon. Sie wissen nur nicht, von wem es ist«, sagte Friedehelm.
»Und jetzt sollen sie wohl denken, es ist von uns?«, zischte der mittlere Bruder.
»Spinnst du?«, zischte die mittlere Schwester.
»Ich warte hier auf euch, okay?«, flüsterte der jüngste Bruder.
»Ich auch, okay?«, flüsterte die jüngste Schwester.
»Das könnte euch so passen!«, flüsterten die anderen vier.
Aber es wäre sowieso zu spät gewesen. Genau da tauchten nämlich die Weiden aus dem Nebel auf. Garstig sahen sie aus. Und schrecklich mies gelaunt, genau wie der Gespensterpapa gesagt hatte.
»Pst! Pssst! Pssssst!«, machten sie und streckten den Ankömmlingen die Zweige entgegen. Wie fiese dünne Krakenärmchen sahen die aus, nur dass sie sich nicht im Wasser, sondern im Nebel schlängelten.
»Wartet hier!«, sagte Friedehelm zu seinen großen Brüdern und Schwestern. Dann schwebte er furchtlos auf die Weiden zu.
Mit einem Mal war es mucksmäuschenstill. Kein Wispern mehr und nichts. Vielleicht quietschte Friedehelms Regenjacke, während er auf die Weiden zuschwebte, aber sie tat es so leise, dass es höchstens das Käuzchen hörte.
Als Friedehelm anhielt, hätten ihn die Weiden jederzeit mit ihren Krakenärmchen packen können. Aber sie taten es nicht. Sie warteten. Und Friedehelm sagte:
»Schöne Grüße von meinem Papa!«
»Danke!«, knarzte die Weide, die Friedehelm am nächsten stand.
»Bestell ihm bitte auch welche!«, knarzte eine zweite.
»Und sag ihm, er soll euch nicht so hässliche Jacken kaufen!«, knarzte eine dritte.
»Da tun einem ja die Augen weh!«, knarzte eine vierte.
Dann lachten sie, und es war wahrscheinlich das hässlichste Lachen der Welt. Jedenfalls hatten die Gespensterkinder im ganzen Leben noch kein hässlicheres Lachen gehört. Dabei hatten sie hässliches Lachen in der Schule!
»Harr-harr-harrr!«, lachten die Weiden, und es klang, als hätten sie es den Wölfen abgelauscht.
Friedehelm brauchte sich gar nicht zu seinen großen Brüdern und Schwestern umzudrehen. Er wusste auch so, dass sie schlotterten. Das hörte man am Quietschen ihrer Jacken.
»Ihr seid doch bloß neidisch«, sagte Friedehelm, aber da lachten die knorrigen Zauseln nur noch lauter.
»HARRR-HARRR-HARRR!«
Sie beruhigten sich erst, als Friedehelm einen Gespensterkreuzdonnerkeilbrüller losließ.
»SCHLUSS JETZT!!!«
Verglichen mit denen des Gespensterpapas, war es höchstens ein Mäusegespensterkreuzdonnerkeilbrüller. Oder nein: ein Ameisengespensterkreuzdonnerkeilbrüller. Aber für die Weiden reichte er trotzdem. Sie waren auf der Stelle still. Friedehelms große Brüder und Schwestern konnten es nicht fassen. Und jetzt entschuldigten sich die Weiden auch noch!
»Tut mir leid«, knarzte die erste.
»War nicht böse gemeint«, knarzte die zweite.
»So schlimm sind die Jacken auch wieder nicht«, knarzte die dritte.
»Und das Liedchen, nun ja …«, knarzte die vierte. »Da haben wir schon Schlimmeres gehört.«
Ups! Wie kamen die jetzt auf das Liedchen? Hatten sie etwa seine Stimme erkannt? Friedehelm schaute über die Schulter und sah seine Geschwister Zeichen machen, dass er zurückkommen sollte.
»Das warst doch du, der es heute Morgen schon gesungen hat?«, knarzte die erste Weide.
Friedehelm hörte hinter sich Jacken quietschen, aber er nickte trotzdem. Wenn sie es wussten, konnte er es auch zugeben. Abhauen konnte er schließlich immer noch.
»Und jetzt bist du gekommen, um es uns noch mal vorzusingen, damit wir’s uns auch merken, stimmt’s?«, knarzte die zweite Weide. Und komisch: Sie klang fast ein bisschen traurig.
»Das wäre nicht nötig gewesen«, knarzte die dritte. Und komisch: Sie seufzte dabei.
»Wir hatten’s uns schon beim ersten Mal gemerkt«, knarzte die vierte. Und komisch: Sie klang ganz klar ein bisschen knödelig im Hals.
Es gab noch mehr Weiden links und rechts von ihnen, von denen war im Nebel nur nichts zu sehen. Aber zu hören waren sie. Sie schluchzten nämlich. Und wie! Friedehelms Liedchen hatten die Molche tief im Moorschlamm vielleicht nicht gehört, aber das Schluchzen der Weiden hörten sie bestimmt.
Als auch noch die vier Weiden vor ihm damit anfingen, wusste Friedehelm Bescheid: Die alten Zauseln waren gar nicht schrecklich mies gelaunt. Sie waren nur schrecklich traurig. Eigentlich logisch: Wer hörte schon gern, dass ihn niemand leiden konnte? Oder dass er besser gar nicht da wäre? – Niemand auf der ganzen Welt!
Auweia! Da hatte Friedehelm ja was angerichtet! Die Weiden taten ihm auf einmal richtig leid. Das Liedchen hatte nur seine Angst vertreiben sollen. Dass die alten Zauseln es sich so zu Herzen nehmen würden, konnte er doch nicht wissen! Ihm kamen fast die Tränen, so traurig standen sie am Bächlein und ließen die Zweige hängen. Friedehelm beschloss auf der Stelle, dass er das Liedchen nie wieder singen würde.
»Nicht traurig sein!«, sagte er zu den Weiden. »Das Liedchen war nicht so gemeint, und ich sing’s auch nie wieder, großes Gespensterehrenwort!«
Und was machten da die Weiden? – Sie schnieften noch ein bisschen, aber dann streckten sie ihm die Zweige entgegen, und die erste, die ihm am nächsten stand, nahm ihn damit sogar in die Arme.
»Danke!«, knarzten sie alle zusammen, und Friedehelm sagte: »Bitte!«, und als die Weide ihn losließ, musste er sich doch ein paar Tränchen aus den Augen wischen, so gerührt war er.
»Tschüs dann!«, sagte er und schwebte zu seinen Geschwistern, die sich nicht von der Stelle bewegt hatten.
»Hoffentlich bis bald!«, knarzten die Weiden hinter ihm her. »Und vergiss nicht, deinen Papa zu grüßen!«
»Bestimmt nicht!«, rief Friedehelm über die Schulter zurück.
Und genau da fiel ihm wieder ein, dass er den Weiden ja was ausrichten sollte. Er schwebte noch mal zu ihnen zurück und machte ihnen ein Zeichen, dass sie sich zu ihm herunterbeugen sollten. Dann flüsterte er ihnen leise, leise zu, was der Gespensterpapa ihm aufgetragen hatte.
Natürlich spitzten Friedehelms große Brüder und Schwestern wieder die Ohren, aber genau wie am Mittagstisch hörten sie erst was, als die Flüsterei ein Ende hatte.
»Klar doch!«, knarzten da die Weiden. »Für dich und deinen Papa immer gern!«
»Danke!«, sagte Friedehelm und schwebte zu seinen Geschwistern.
Die starrten ihren kleinen Bruder an, als hätte er gerade einen Löwen besiegt. Oder nein, einen feuerspeienden Drachen. Darum merkten sie auch nicht, wie die knorrigen Weiden auf einmal die Köpfe zusammensteckten. Und als sie es merkten, war es zu spät. Da fing das Spektakel schon an.
Die Weiden bogen sich, als wollten sie mit den Wurzeln aus der Erde springen, knallten mit den Zweigen, als wären es Peitschen, und ließen so schaurig-hohle Töne hören, als hätten sie in ihren vielen Knorzen Flöten eingebaut.
Es dauerte keine Sekunde, da stand Friedehelm alleine da. Seine Geschwister waren genauso losgedüst wie er am Morgen. Vielleicht sogar noch schneller! Aber genau in dieselbe Richtung.