»Ich dachte schon, du kommst nicht«, sagte Friedehelm erleichtert.
»Wieso das denn?«, fragte das Käuzchen.
»Weil du gestern auch nicht gekommen bist«, sagte Friedehelm.
»Ich bin später gekommen, das ist was vollkommen anderes, als gar nicht zu kommen«, erklärte ihm das Käuzchen.
Das musste Friedehelm zugeben, und außerdem wollte er keinen Streit. Er war einfach nur froh, dass das Käuzchen da war, und schwebte tapfer auf die verlassene Klappermühle zu. Das Käuzchen blieb auf seiner Schulter sitzen.
Die verlassene Klappermühle war Friedehelm ja schon von weitem unheimlich vorgekommen. Aber aus der Nähe wurde es noch viel schlimmer. Dabei hätte Friedehelm nicht mal sagen können, woran es genau lag. An den schwarzen Balken, die das morsche Mauerwerk zusammenhielten? Am verwitterten Mühlrad mit den gebrochenen Speichen? Den Löchern im Dach und den windschiefen Läden vor den Fenstern? – Wahrscheinlich lag es ein bisschen an allem.
»Du weißt, was dich erwartet?«, fragte das Käuzchen, als sie schon das Wasser am kaputten Mühlrad vorbeiplätschern hörten.
Da zählte Friedehelm schnell auf, was er von den Geschwistern wusste, und er erwähnte auch den Weberknecht und die Zecken, die er sich auf dem Weg durch den stillen Finsterwald so lebhaft vorgestellt hatte.
»Stimmt alles«, sagte das Käuzchen. »Aber pass trotzdem auf die dunklen Ecken auf! Gut möglich, dass da nicht nur Fledermäuse ihren Rückzugsort haben.«
Rückzugsort? Das Wort hatte Friedehelm noch nie gehört.
»So sagt man zu Orten, an die jemand sich verzieht, wenn er seine Ruhe haben will«, erklärte ihm das Käuzchen.
Es konnte Gedanken lesen, das stand für Friedehelm von da an fest.
»Ach so«, sagte er. »Und was denkst du, wer sich, außer den Fledermäusen, noch in die dunklen Ecken verzogen haben könnte?«
»Keine Ahnung«, sagte das Käuzchen. »Irgendwelche Spukgestalten eben. Die nisten sich gern in verlassenen Mühlen ein.«
Friedehelm lag die Frage, was für welche das zum Beispiel sein könnten, schon auf der Zunge. Aber dann überlegte er: Wollte er das wirklich so genau wissen? Klar, gestern hatte er auch gefragt, und die Geschwister hatten ihm vom Uhu und vom Specht erzählt. Da hatte er genau gewusst, was ihn erwartete. Aber hatte ihm das was genützt? Nein, überhaupt nicht! Es hatte nur zwei Finsterwaldbewohner mehr gegeben, vor denen er sich fürchtete.
Nein, heute würde er es anders machen. Er würde das Käuzchen nicht nach den Spukgestalten fragen und sich drinnen in der Mühle so still verhalten, dass er sie erst gar nicht störte. Sie wollten ihre Ruhe haben, und wenn er ihnen die ließ, blieben sie vielleicht an ihren … in ihren Ecken.
So beschloss es Friedehelm im selben Moment, als sie die Tür der Mühle erreichten. Sie hing genauso windschief in den Angeln wie die Fensterläden, und von weitem hatte es ausgesehen, als wäre sie geschlossen. Jetzt sah man, dass sie einen Spaltbreit offen stand.
»Meinst du, da passen wir durch?«, fragte Friedehelm.
»Wieso wir?«, fragte das Käuzchen.
»Ich dachte …«
»Falsch gedacht«, fiel das Käuzchen Friedehelm ins Wort. »Ich bleib natürlich draußen.«
»Und warum?«, fragte Friedehelm.
»Weil es deine Mutprobe ist, nicht meine«, erklärte ihm das Käuzchen.
»Aber gestern im Finsterwald warst du doch auch dabei«, sagte Friedehelm.
»Stimmt«, sagte das Käuzchen.
»Na siehst du«, sagte Friedehelm erleichtert.
Und da kam’s: »Aber erst, als du die Mutprobe bestanden hattest.«
Na klar. Darum war das Käuzchen gestern so spät gekommen!
»Verstehe«, sagte Friedehelm.
»Schnellmerker«, sagte das Käuzchen. »Und jetzt mach schon! Onkel Steinkauz kommt erst heute, gestern hatte er keine Zeit.«
Wie das Käuzchen redete, hörte es sich an, als wäre es ein Klacks, in die unheimliche Klappermühle hineinzugehen. Dabei flatterte Friedehelms Hemd schon jetzt so heftig, dass er unmöglich durch den schmalen Türspalt schlüpfen konnte. Er musste die Tür ein Stück weiter aufziehen, und die quietschte dabei, dass es ihm kalte Schauer über den Rücken jagte.
»Keine Bange, Friedehelm!«, sagte das Käuzchen. »Ich bin ja in der Nähe.«
Dann flog es auf, und als Friedehelm ihm nachschaute, sah er, wie es sich ganz oben aufs alte Mühlrad setzte.
Die Quietschetür war jetzt halb offen, und Friedehelm hörte das Käuzchen noch »Vorsicht!« rufen, da blies es ihn schon davon. Ein eisiger Windhauch war aus der finsteren Mühle herausgeweht und hatte Friedehelm voll erwischt. Zum Glück stand kein Baum in der Nähe, sonst hätte er sich bestimmt ein paar ordentliche Beulen geholt. So blieb es bei der kleinen von der Stuhllehne, und er purzelte nur in die Wiese und rappelte sich schnell wieder auf.
»Du musst Anlauf nehmen!«, rief das Käuzchen.
»Das hättest du auch gleich sagen können!«, rief Friedehelm zurück.
Dann zog er den Kopf zwischen die Schultern und düste los. Das wollte er doch mal sehen, ob ihn ein Windhauch bremsen konnte.
Zum Glück machte Friedehelm nicht die Augen zu, sonst hätte er vielleicht gar nicht gemerkt, dass die Tür ganz langsam wieder zuging. Ohne zu quietschen! Friedehelm konnte sich gerade noch dünn machen und seitwärts durch den Türspalt witschen, der offen blieb, weil die schief in den Angeln hängende Tür nicht mehr ganz schloss.
»Spitze!«, hörte er draußen das Käuzchen rufen.
Dann stieß er, kurz bevor er sowieso angehalten hätte, gegen was Weiches. Sehen konnte er es nicht. An die Dunkelheit im Innern der Mühle mussten sich seine Augen erst gewöhnen.
Das Erste, was Friedehelm nach einer Weile sah, war der Streifen Licht, der durch den Türspalt kam. Und noch ein paar solche Streifen gab es, nur kleinere, die kamen von den Fenstern mit den windschiefen Läden. Und in allen tanzte der Staub, als wäre es in der Mühle irgendwie lustig.
Das war es aber kein bisschen. Im Gegenteil! Richtig gruselig war es darin. Von überallher hörte Friedehelm es wieseln und wuseln, aber alles, was er sah, waren die Lichtstreifen mit dem Staub und schwarze Balken, die sich kreuz und quer durch den hohen Raum zogen und dann irgendwo im Dunkeln verschwanden. Ecken konnte Friedehelm gar keine erkennen, aber das war ihm nur recht.
Und das Weiche, wogegen er gestoßen war? Das war ein Riesenstapel leere Säcke. Mehlsäcke, wie Friedehelm merkte, als er vorsichtig mit dem Finger dagegenstupste und eine kleine Wolke aufstob. Ganz weiß war die, das sah man sogar im Dämmerlicht, und sie kitzelte schrecklich in der Nase. So schrecklich, dass Friedehelm niesen musste. Er wollte es noch unterdrücken, aber da war nichts zu machen.
»HAAATSCHIII!«
So laut hatte Friedehelm im ganzen Leben noch nicht geniest.
»Gesundheit!«, hörte er draußen das Käuzchen rufen.
Das war natürlich nett vom Käuzchen, aber drinnen in der alten Mühle war von da an der Teufel los.