»Friedehelm?«
»Ja, Papa?«
»Du hast den Pullover falsch herum angezogen.«
Sie standen noch im Flur, und Friedehelm schaute an sich herunter. Papa hatte recht. Die Elche, die sonst vorne über die Brust liefen, fehlten. Aber eigentlich machte das ja nichts. Bei dem Nebel draußen würde den Pullover sowieso niemand sehen.
»Ist es schlimm, wenn ich ihn so anlasse?«, fragte Friedehelm.
Bei Mama hätte er den Pullover in jedem Fall richtig anziehen müssen, aber bei Papa konnte er es ja mal versuchen.
»Nein«, sagte Papa. »Es heißt zwar, dass einem dann die Hexen nachlaufen, aber das ist wahrscheinlich nur ein dummer Aberglaube.«
Der Gespensterpapa schmunzelte, aber Friedehelm fand das mit den Hexen gar nicht komisch. Hexen waren das Schrecklichste, was er sich überhaupt vorstellen konnte. Seine großen Schwestern spielten manchmal, sie wären welche. Dann musste er sich in einen großen Pappkarton setzen und durch ein Gitterfenster, das sie hineingeschnitten hatten, den Finger herausstrecken, damit sie prüfen konnten, ob er schon fett genug für eine leckere Mahlzeit war. Hänsel und Gretel nannten sie das Spiel, obwohl es gar keine Gretel gab, weil keine von ihnen sie spielen wollte. Friedehelm fand das Spiel entsetzlich doof und machte nur mit, weil sie sonst Rotkäppchen und die drei bösen Wölfinnen mit ihm spielten, und das war noch viel doofer.
»Ich zieh ihn lieber richtig an«, sagte er und zog den Pullover über den Kopf. »Falsch herum kneift er sowieso ein bisschen.«
Der Pullover kniff überhaupt nicht, dafür war er viel zu groß, wie alle Pullover, die Friedehelm besaß, weil er sie immer von seinen großen Brüdern erbte. Aber Papa sagte nichts. Er wartete nur, bis Friedehelm fertig war, dann machte er die Haustür auf und ließ ihn vorbei.
Während der Gespensterpapa die Haustür schloss, schaute Friedehelm sich um. Ihr Gespensterhaus stand ganz allein mitten auf einer großen Wiese, und die Wiese lag genau zwischen dem dunklen Finsterwald und dem schaurigen Moor mit den Weidenbäumen, die immer aussahen, als streckten sie die Arme nach einem aus.
Friedehelm mochte beides nicht: nicht den dunklen Finsterwald und nicht das schaurige Moor. Aber im Wald kannte er sich wenigstens aus. Durch den führte nämlich der Weg zur Gespensterschule, wo er seit ein paar Wochen in die erste Klasse ging. Friedehelm ging gern zu Schule und machte sogar gern Hausaufgaben. Nur den Unterricht im Heulen und Zähneklappern mochte er nicht. Da wurde ihm immer ganz mulmig, und am liebsten hätte er sich unter die Bank verkrochen und sich die Ohren zugehalten, damit er das schreckliche Geheule und Geklappere nicht hören musste.
»So«, sagte Papa. »Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wohin …«
»Vielleicht in den Wald?«, sagte Friedehelm. »Neblig ist es ja überall.«
Das stimmte, und außerdem war der Nebel so dicht, dass man gerade noch den Dachfirst des Gespensterhauses sehen konnte. Vom Schornstein sah man zwar den Anfang, aber nicht das Ende, wo der Rauch herauskam. Auch den Wald und die Weiden im Moor sah man nicht. Es war, als bräuchte man nur ein paar Schritte vom Haus wegzuschweben und die Welt wäre zu Ende.
»Hm«, machte der Gespensterpapa. »Ehrlich gesagt, wäre mir das Moor heute lieber.«
»Und … und warum?«, piepste Friedehelm.
»Ich hätte da was zu besprechen«, sagte Papa.
»Und … und mit wem?«, piepste Friedehelm.
»Mit den Weiden«, sagte Papa, und schneller, als Friedehelm erschrecken konnte, schwebte er los.
Papa hatte immer einen ordentlichen Zacken drauf. Er konnte anscheinend nicht anders, und Mama schimpfte immer, wenn beim Spazierenschweben am Sonntag alle hinter ihm herwetzen mussten. Aber da sah man ihn wenigstens und verlor ihn nicht aus den Augen. Jetzt, im dichten Nebel, musste Friedehelm höllisch aufpassen, dass ihm das nicht passierte. Mit Karacho ging es über die Wiese und an den Gartenmöbeln vorbei, die noch vom Sommer im Freien standen, und schon bevor sie auch nur den Rand des Moors erreichten, hörte Friedehelm es leise wispern.
Das Wispern waren die Weiden. Sie streckten nicht nur die Arme nach einem aus, sondern wisperten auch noch dabei.
»Pst!«, wisperten sie. »Pssst! Pssssst!«
Sonst sagten sie nichts. Nie. Immer nur »Pst! Pssst! Pssssst!«, auch wenn sonst weit und breit niemand einen Mucks machte. Richtig schaurig war das. Auch jetzt wieder. Friedehelm hörte es ganz deutlich und kriegte trotz des dicken Norwegerpullovers eine Mäusehaut, wie die Gespenster zu Gänsehaut sagen. Am liebsten wäre er umgekehrt. Oder hätte wenigstens angehalten, um zu warten, ob das Gewisper vielleicht irgendwann aufhörte. Aber er musste ja hinter Papa her.
»Pst! Pssst! Pssssst!«
Jetzt klang es schon ganz nah! Und komisch: Es hörte sich an, als käme es von allen Seiten. Sogar von hinten! Dabei war dort doch die Wiese, und auf der stand bestimmt keine Weide, das wusste Friedehelm genau. Trotzdem schaute er jetzt über die Schulter, nur ganz kurz, aber das war schon zu lang. Als er nämlich wieder nach vorne schaute, war Papa verschwunden.
»Papa?«, piepste Friedehelm.
»Pst! Pssst! Pssssst«, kam es von allen Seiten zurück.
»PAPA?«, rief Friedehelm.
Keine Antwort.
Oder doch: »Pst! Pssst! Pssssst!«
Diesmal klang das Gewisper so nah, als müssten jeden Moment Arme aus dem Nebel auftauchen. Mit Händen, die ihn packen wollten!
Das war so schaurig, dass Friedehelm nur noch losdüsen wollte. Aber er konnte nicht. Es war, als wäre er am Boden festgewachsen. Dabei schwebte er doch! Er versuchte es mit aller Kraft, aber es war nichts zu machen. Sein Hemd flatterte wie wild, aber er blieb immer am selben Fleck. Es war fürchterlich.
»Pst! Pssst! Pssssst!«, wisperten die schrecklichen Weiden, und da konnte Friedehelm es nicht mehr ertragen. Er hielt sich die Ohren zu, und damit er auch ganz bestimmt nichts mehr hören musste, fing er an zu singen. So laut er konnte! Er sang einfach nur drauflos und merkte erst gar nicht, dass er dabei ein richtiges Liedchen dichtete.
La, la, la, ihr Weiden,
niemand kann euch leiden!
Wisper, wisper, la, la, la,
besser, ihr wärt gar nicht da!
Dreimal hintereinander sang Friedehelm das Liedchen, und die ganze Zeit wartete er darauf, dass ihn die schrecklichen Weiden packten. Aber es passierte nichts! Er sang das Liedchen vorsichtshalber noch ein viertes Mal, dann war er still und nahm die Hände von den Ohren. Nichts! Nicht das kleinste Wispern.
Die schrecklichen Weiden gaben Ruhe, und Friedehelm war darüber so froh, dass er fast vergessen hätte, wo er war. Erst als er sich umschaute und überall nur weiße Nebelsuppe sah, fiel es ihm wieder ein. Am Rand des schaurigen Moores war er. Und auch noch mutterseelenallein. Auweia! Was sollte er jetzt bloß machen? Warum kam denn Papa nicht zurück? Irgendwann musste der doch merken, dass er Friedehelm verloren hatte!
Aber der Gespensterpapa merkte es anscheinend nicht. Und da beschloss Friedehelm, umzukehren und zu Hause auf ihn zu warten. Das war bestimmt das Beste. Er brauchte sich ja nur umzudrehen und immer geradeaus zu schweben, dann musste er genau bei der Haustür herauskommen. Jawohl, so würde er es machen!
Friedehelm holte tief Luft, dann drehte er sich um, und genau da spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Sie packte ihn nicht, sondern berührte ihn nur ganz sanft, aber das war fürchterlich genug. Friedehelm tat einen leisen Seufzer, und hätte die Hand nicht zugepackt und ihn festgehalten, dann wäre er wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen, so sehr fuhr ihm der Schreck in die Glieder! Er konnte ja nicht wissen, dass es Papas Hand war. Das merkte er erst, als er die vertraute Stimme hörte.
»Aber mein Junge, was hast du denn?«, fragte der Gespensterpapa.
»Die … die Weiden …«, schniefte Friedehelm.
Dann musste er erst mal ein bisschen weinen.