KAPITEL ZWÖLF
Emilia Sanders, oder wie auch immer sie wirklich hieß, fuhr auf den Parkplatz eines Mini-Marktes mit Tankstelle und schaltete den Motor ab.
„Was machen wir hier?” fragte Null.
„Autos wechseln. Es kann gut sein, dass das Weiße Haus ein Bild von diesem hat. Die werden nach uns suchen.” Sie ließ den Schlüssel im Zündschloss stecken, als sie die Tür aufdrückte. „Machen Sie schon.”
Null schnaubte etwas verächtlich, doch er stieg ohne eine weitere Fragen aus. Obwohl Sanders ihn vor Hillis und der Division gerettet hatte, wusste er nicht genug über ihre Beweggründe, um abzuschätzen, ob er ihr vertrauen konnte. Dennoch folgte er ihr, als sie über den Parkplatz auf die Tanksäulen zuging. Dort war eine schwarze Limousine geparkt. Sie war sauber, ein neues Modell und unauffällig. Und neben ihr stand eine athletische Frau in einem roten T-Shirt an der Zapfsäule. Ihr blondes Haar war zu einem lässigen Pferdeschwanz zusammengebunden und sie trug eine Sonnenbrille über ihren Augen, von denen Null wusste, dass sie schiefergrau waren.
„Maria.” Er seufzte gleichzeitig aus Erleichterung und Sorge.
„Was machst du denn hier?”
Sie blickte scharf auf und ihr eigener Gesichtsausdruck glich dem seinen
-
erleichtert aber besorgt.
„Kent.” Sie umarmte ihn schnell, doch fest. „Mein ukrainischer Kontakt rief mich an. Er sagte mir, dass du hier wärst...” Maria warf einen Blick auf Emilia Sanders. „Wer ist sie?”
„Ich bin Emilia Sanders, Hilfskraft des Präsidenten.”
„Sie ist FIS”, unterbrach Null sie. Er hatte schon vermutet, dass Marias ukrainischer Kontakt dieselbe Person war, die für Sanders seine Dokumente in Richmond aufbewahrte.
Maria schnaubte. „Ich kann euch einfach nicht loswerden, was?”
„Du solltest nicht hier sein”, sagte Null ihr. Während er noch sprach, kam die Erinnerung an ihre gemeinsame Nacht wieder in sein Gedächtnis.
In einem Hotelzimmer, während eines Einsatzes, vor Kates Tod...
Er verdrängte sie. „Es gibt einen Grund dafür, dass ich dich nicht anrief.”
Maria zog die Stirn in tiefe Falten. „Entschuldigung, es erschien mir, als könntest du etwas Unterstützung brauchen, wenn man bedenkt, dass du ganz oben auf der Fahndungsliste der CIA stehst.”
Null blinzelte. „Was? Warum?”
„Gerüchte besagen, dass du das Leben des Präsidenten bedroht hast...”
„Das habe ich nicht”, widersprach Null.
„Und dass du den Direktor des nationalen Nachrichtendienstes Hillis angegriffen hast...”
„Das war ich nicht!” rief Null.
„Und dass du zwei Mitglieder der Division in der Stadtmitte von Arlington umgebracht hast.”
„Niemals - halt, doch, das war ich.” Er seufzte. „Wen schicken sie mir auf die Fersen? Jemanden, den wir kennen?”
„Nein”, antwortete Maria und steckte den Kolben zurück in die Zapfsäule. „Es ist weder Watson noch Strickland, doch beide sind bereit und willens, dir jederzeit zu helfen. Ich bin auch mit Cartwright in Kontakt. Er steht bei dieser Sache draußen und schaut nach innen.”
„Toll. Hast du seine Nummer?”
„Ja. Hier.” Maria reichte ihm ein altes Handy.
Null holte aus und warf es so weit wie er konnte über den Parkplatz in ein kleines Feld, das mit hohem Gras bewachsen war.
Maria starrte ihn unverständig an. „Warum hast du jetzt mein Telefon weggeworfen?”
„Cartwright kann man nicht vertrauen”, gab er einfach zurück. Er hatte Reidiggers ernste Warnung vor dem Deputy Direktor nicht vergessen.
„Wie sieht es mit der Situation im Iran aus? Irgendwelche Entwicklungen?”
„Nein”, antwortete Maria. „Pierson hat noch nicht mal eine Ansprache an die Nation gehalten. In den Medien wird über Probleme im Weißen Haus berichtet, doch sie wissen nicht, worum es geht.
Man weiß nur, dass der Präsident an einen anderen Standort gebracht wurde. Nach dem Attentat in New York werden jetzt alle möglichen Theorien verbreitet. Doch ich weiß, dass Holmes, der Stabschef des Weißen Hauses, die CIA kontaktiert und sie informiert hat, dass Agent Null sein Leben bedroht hat.”
„Ja. Holmes, diese Schlange, steckt da auch mit drin”, murmelte Null. „Das war es, was sie wollten. Ich habe genau das getan, was ihnen recht ist.”
„Was meinst du damit?”
„Ich bin ein Risiko eingegangen, als ich versuchte, Pierson von der Wahrheit zu überzeugen. Nicht nur ist es ihnen dadurch gelungen, mich zur Persona non grata zu machen, sondern sie haben es auch geschafft, den Präsidenten aus dem Weißen Haus zu bekommen. Aus der Entfernung können sie ihn leichter manipulieren.” Er wandte sich an Sanders. „Ich brauche diese Dokumente. Können wir uns mit ihrem Kontaktmann in Richmond verabreden?”
„Ich werde darum bitten.” Sanders zog ihr Telefon heraus und setzte sich auf den Rücksitz der schwarzen Limousine, um den Anruf zu tätigen.
Maria schloss den Tankdeckel, bevor sie sich ernst an ihn wandte. „Wir sind drei Leute mit ein paar Pistolen und jede Strafverfolgungsbehörde im Land sucht nach dir. Wir werden es nicht mal schaffen, bis auf einen Kilometer an den Präsidenten zu kommen, während Verschwörer in sein Ohr flüstern. Was zum Teufel sollen wir nur tun?”
Null starrte auf den Boden.
„Ich bin mir noch nicht sicher.” Selbst wenn er die Dokumente von den Ukrainern zurückbekäme, war er sich nicht sicher, was er mit ihnen tun könnte.
Vielleicht war es an der Zeit, dachte er, sich an höhere Instanzen zu wenden. An die Vereinten Nationen oder Interpol. Er könnte seinen Freund Vicente Baraf anrufen. Doch all diese Möglichkeiten bedeuteten längere Fahndungsverfahren und sie hatten einfach nicht die Zeit dazu.
„Hey”, sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Wir finden schon einen Weg. Gemeinsam.”
Die Erinnerung ging ihm bei ihrer Berührung wieder durch den Kopf - sie beide zusammen. Bevor Kate gestorben war. Er schloss seine Augen, doch es hörte nicht auf. Er wusste, dass es lächerlich war, darüber zu grübeln, wenn man bedachte, was sonst noch so vor sich ging. Doch die Erinnerung war da, sie steckte in seinem Kopf fest wie ein Kern im hohlen Zahn und er kriegte sie einfach nicht raus.
„Ich weiß, dass dir das nicht gefällt”, fuhr sie fort, „doch wir sollten Cartwright kontaktieren.”
„Nein”, sagte Null sofort, „ich habe es dir schon gesagt. Man kann ihm nicht vertrauen.”
„Warum nicht? Wir wissen beide, dass er damit nichts zu tun hat. Er sollte darüber informiert werden. Er hat Verbindungen, die wir nicht -”
„Er hat Dinge getan, Maria.”
„Das haben wir alle”, argumentierte sie. „Du und ich, auch wir haben Dinge getan. Und darüber keinen Schlaf verloren. Cartwright kam sofort zu mir und sagte mir, was er wusste. Wir sollten ihm sagen, was wir wissen -”
„Ich erinnere mich, Maria.” Er platzte mit den Worten heraus, bevor er es nochmal überdenken konnte.
Sie blickte ihn für einen langen Moment an. „Was meinst du? An was erinnerst du dich?”
„Alles. Heute, im Oval Office, als ich fast zusammenbrach? Da kam alles zurück. Mein ganzes Gedächtnis kam wieder.”
„Wow.” Maria fuhr sich mit der Hand durch das Haar und überdachte den Schweregrad dessen, was er ihr gerade anvertraut hatte. „Das ist... gut. Das sind doch tolle Nachrichten, Kent. Oder nicht?”
„Sag du es mir”, antwortete er leise. Er versuchte, ihre Reaktion einzuschätzen, herauszufinden, ob sie besorgt war, dass er sich erinnern konnte. Doch sie schien nur darüber besorgt, wie verdrießlich er wegen der Enthüllung erschien.
„Was soll das bedeuten, Kent?”
„Du hast mir gesagt, dass du und ich nur eine Nacht zusammen verbracht haben, nachdem Kate starb, als du mich in Rom aufgesucht hast. Doch das stimmt nicht, oder?” Er versuchte, etwas Ärger heraufzubeschwören, doch es gelang ihm nicht. Vielleicht hatte sie ihn angelogen und war Teil des Verrates, doch er war es auch. Auch er war schwach gewesen. Schließlich war er es, der zu dem Zeitpunkt verheiratet war.
Er erwartete Zorn oder möglicherweise Reue von ihr, doch in Marias Gesicht stand nur Verwirrung. „Das
ist
die Wahrheit, Kent. Himmel,
darüber
willst du jetzt sprechen? Über die Nacht, die wir zusammen verbracht haben?”
„Ja. Weil es ständig wieder in mir hochkommt und ich mir nicht sicher bin, ob wir das hier weitermachen können, jetzt nachdem ich weiß, was wir ihr angetan haben.”
Maria schüttelte ihren Kopf. „Kent, ich habe es doch schon gesagt. Das ist die Wahrheit. Es war ein Mal und es geschah, nachdem sie starb.” Sie hatte versucht, seine Hand zu nehmen, doch er zog sie weg. „Schau mal, wir haben jetzt keine Zeit, um das alles zu verarbeiten, OK? Doch du musst wissen und vertrauen, dass das, an was auch immer du dich über uns erinnerst, nicht geschehen ist. Es ist nicht geschehen, Kent. Ich kann es dir nicht beweisen. Doch was immer in deinem Kopf spukt, ist nicht real.”
„Aber ich...”
Falls das hier funktioniert, dann könnten einige der Dinge, an die Sie sich erinnern, unterbewusst sein.
Das hatte Dr. Guyer ihm in Zürich gesagt.
Er erinnerte sich so lebhaft daran. Das Gefühl der Laken. Der Blick aus dem Hotelfenster.
Fantasien, Wünsche, Verdächtigungen von Ihrem vergangenen Leben. All diese Aspekte, die nicht mit der Erinnerung zusammenhängen, wurden gemeinsam mit Ihren tatsächlichen Erinnerungen entfernt.
Null atmete in seine Faust. Es fühlte sich so real an, selbst jetzt, wo er daran zurückdachte.
Sie werden für Sie real sein.
Wie sollte er jetzt jemals handeln wegen etwas, das er zuvor wusste, wenn er sich nicht einmal sicher sein konnte, ob es real war oder nicht? Was nützte es ihm, dass sein Gedächtnis wieder funktionierte, wenn er nicht vertrauen konnte, was in seinem eigenen Kopf war?
„Sag mir, was du denkst”, drängte Maria.
„Ich denke...” Er atmete tief ein. „Ich denke, dass ich nicht mehr weiß, was real ist.”
„Dann lass mich dir helfen”, beschwörte sie ihn. „Wir lösen all dies zusammen.”
Er nickte. Er brauchte sie hier, wurde er sich plötzlich bewusst, er brauchte jemanden, der ihm helfen könnte, die Tatsachen und Fiktion auseinander zu halten. „OK”, stimmte er leise zu.
„Entschuldigt.” Emilia Sanders hatte ihr Fenster heruntergefahren und steckte ihren Kopf zu ihnen heraus. „Ich möchte Sie ja nicht unterbrechen, bei dem, was hier gerade geschieht, doch wie lange sitzen diese Polizisten schon da?”