KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
Sara stand mit verschränkten Armen im Garten des Landhäuschens in Nebraska. Die Morgenluft war kühl, doch das war immer noch besser, als drinnen festzustecken. Sie fühlte sich, als fiele ihr die Decke auf den Kopf.
Es war eine grobe Untertreibung, ihn ,Garten’ zu nennen. Auf beiden Seiten waren zwar Häuser in Sicht, doch es schien, als zöge sich das Grundstück in die Wildnis dahinter hinaus, einen mit Bäumen bewachsenen, sanft abfallenden Hügel hinunter, der ihr zugegebenermaßen eine sehr hübsche Aussicht bot.
Die Nacht zuvor hatte sie nur ein paar Stunden geschlafen. Als sie aufwachte, schlief Maya immer noch und Mitch war verschwunden. Er hatte einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, dass er losgefahren war, um Vorräte, Essen, Kleidung und Hygieneartikel zu kaufen. Er versprach, bald wieder zurück zu sein.
Sara schlenderte ein wenig zwischen den Bäumen. Der Rasen musste dringend gemäht werden und der Morgentau durchnässte die Zehen ihrer Turnschuhe. Sie hatte versucht, sich mit etwas in dem kleinen Häuschen zu beschäftigen, doch langweilte sich schon bald und entschied sich, nach draußen zu gehen. Sie sah kein Problem dabei. Niemand ,da draußen’ wusste, wo sie waren - ,da draußen’ bezog sich auf alles in der entwickelten Welt, außerhalb der kleinen Hütte und dem Garten.
Sie trat vorsichtig durch das Gras, wunderte sich, ob sie sich über Zecken Sorgen machen sollte, als sie einen Lichtblitz am Rande ihres Sichtfeldes wahrnahm. Sie blickte schnell auf, gerade rechtzeitig, um eine Form hinter einen Baum springen zu sehen.
Sara erstarrte. In diesem Augenblick überzeugte sie ihr Gehirn, dass der Lichtblitz das Sonnenlicht war, das vom Zielfernrohr eines Gewehrs reflektiert wurde.
Das sind diese Männer von der Division. Irgendwie haben die uns gefunden.
Dann atmete sie tief ein und erinnerte sich daran, dass niemand wusste, wo sie waren. Niemand folgte ihnen.
„Hey!” sagte sie laut, mit der entschiedensten Stimme, die sie aufbringen konnte. „Wer ist da? Ich habe dich gesehen. Komm raus, langsam.”
Sie hielt ihren Atem an, als die Figur hinter dem Baum heraustrat. Dann seufzte sie erleichtert auf, als sie sah, dass es nicht die Division war.
Es war ein Junge.
Er sah etwa so alt wie sie aus, mit braunem Haar, dass ihm in die Stirn fiel.Er trug einen grauen Kapuzenpulli und Jeans, die über einem Knie gerissen waren. Er war groß, mindestens zehn Zentimeter größer als sie und in seiner rechten Hand hielt er ein Smartphone.
„Wer bist du?” wollte sie wissen.
Der Junge zeigte mit seinem Daumen über seine Schulter. „Ich lebe da drüben.”
„Ach ja?” sie verschränkte ihre Arme herausfordernd. „Nun, du begehst Hausfriedensbruch.”
Der Junge runzelte die Stirn. „Nee. Dein Hinterhof hört da hinten auf. Technisch gesehen bist
du diejenige
, die Hausfriedensbruch begeht.”
Sara blickte hinter sich, ihre Schultern fielen vornüber. „Oh.” Dann drehte sie um und sträubte sich erneut. „Hast du gerade ein Bild von mir gemacht?”
„Nein.”
„Ich habe einen Blitz gesehen.”
Der Junge zögerte. „Wie heißt du?”
Die Frage überraschte sie. „Äh... Sam. Samantha. Doch alle nennen mich Sam.” Sie gäbe ihm sicherlich nicht ihren wirklichen Namen, nicht, wenn sie doch eigentlich untergetaucht waren.
„Und wie heißt du?”
„Ethan.” Er zeigte auf die Hütte. „Ist deine Familie gerade eingezogen?”
„Äh, ja”, antwortete Sara. „Ich, meine Schwester und mein Vater.”
„Niemand hat da für Jahre gelebt”, sagte Ethan. „Das muss eine richtige Müllhalde sein.”
„Wir bleiben da nicht lang.”
Ethan trat müßig nach einem Stein. „Das ist schade.”
Sara fühlte, wie ihr Gesicht rot wurde.
Flirtet der mit mir?
„Ich muss wieder zurück”, murmelte sie.
„Ja, OK.”
Anstatt in die Richtung zurückzugehen, in der angeblich sein Haus war, fuhr Ethan fort, den sanften Hügel hinunterzugehen und wich großen, wilden Grasbüscheln dabei aus. „Bis später, Sam.”
„Warte. Wohin gehst du?” fragte sie.
„Oh. Ich treffe mich mit ein paar Freunden. Wir treffen uns immer am gleichen Ort, um Musik zuhören und zu reden und so.”
Er dachte für einen Moment nach. „Willst du vielleicht mitkommen?”
Sara biss sich auf die Unterlippe. Sie blickte über ihre Schulter zurück zur Hütte und sah keine Zeichen von Bewegung. Es dauerte mindestens noch eine Stunde, bis Mitch zurückkäme. Und Maya schlief tief. Sie befanden sich mitten im Niemandsland. Ihre Ortungsgeräte waren weg. Ihre Telefone hatten sie zurückgelassen.
„Ja”, stimmte sie zu. „Ich komme ein Weilchen mit.”
*
Sara folgte Ethan, als er sich seinen Weg den abfallenden Hügel hinabbahnte und einen weiteren wieder hinauf. Sie unterhielten sich gelassen und Sara war überrascht, wie einfach es ihr fiel, Lügen zu erfinden, nachdem sie erst einmal damit angefangen hatte.
Ja klar kannte sie Sonic Youth. Ja, Schule war ganz fürchterlich. Und ihre Familie auch total langweilig.
Am Scheitelpunkt des zweiten Hügels zeigte er auf eine kleine Schlucht, die von einem ausgetrockneten Fluss gefurcht worden war. „Da unten”, sagte er ihr, während er voranging. Unten konnte Sara zwei weitere Jugendliche sehen, die sich unterhielten und über etwas lachten.
„Hey”, grüßte sie Ethan, als sie ankamen, „das ist Sam. Sie ist gerade erst hergezogen. Sam, das sind Trudy und Mix.”
„Hi”, sagte Sara leise. Das Mädchen, Trudy, hatte ein rundes Gesicht mit Pausbacken und trug viel zu viel Makeup auf den Augen. Der Junge war schlaksig und groß, mit abstehendem blonden Haar.
„Entschuldige... sagtest du Mix?”
„Er heißt Mike”, verbesserte Trudy. „Er meint, ,Mix’ klänge cool.”
„Tut es ja auch”, murmelte der große Junge.
„Ist doch egal”, unterbrach sie Ethan laut, „auf jeden Fall ist Sam hier, um mit uns abzuhängen.”
Sara schaute sich in der engen Schlucht um. Da waren ein paar umgekehrte Baumstümpfe, ein paar Verpackungen von Süßigkeiten und ein paar zerdrückte Bierdosen, deren Etiketten durch die Witterung und den Verlauf der Zeit weiß gebleicht wurden.
„Was macht ihr hier unten?”
„Ach naja”, antwortete Trudy. „Ein bisschen unseren Eltern aus dem Weg gehen. Abhängen. Musik hören.” Sie wandte sich an Ethan. „Hast du deinen Bluetooth Lautsprecher mitgebracht?”
Er stöhnte. „Verdammt, den habe ich vergessen.”
„Na toll”, erwiderte Trudy und ließ sich auf einen Baumstamm fallen. „Also keine Musik.”
„Wart mal, ich habe was anderes.” Mike, oder Mix, oder wie er auch immer hieß, öffnete den Rucksack zu seinen Füßen und zog zwei Aluminiumbüchsen heraus. „Die habe ich aus dem Garagenkühlschrank meines Papas geklaut.”
„Zwei Bier?” schnaubte Trudy verächtlich.
„Mehr konnte ich nicht mitnehmen, ohne dass er es bemerkt hätte”, gab Mix abwehrend zurück. „Wir können ja jeder eine Hälfte trinken.”
„Oh... äh, ich äh...” stammelte Sara, „ich trinke nicht.”
Alle drei Paar Augen blickten sie an.
Hinterfragten, urteilten, fühlte sie.
„Ist schon OK”, sagte Ethan. „Aber du wirst doch mindestens einen Schluck trinken.”
„Ja klar, damit du den Rest von uns nicht verpetzen kannst.”
Mix öffnete eine der Dosen. „Hier, du zuerst.
Nur einen Schluck. Dann wissen wir, dass du keine Petze bist.”
Geh einfach nach Hause.
Die Stimme in Saras Kopf sagte ihr, dass sie gehen sollte, weg von hier, wieder zurück zur Hütte wandern und dort bleiben sollte. Doch wieder waren alle Augen auf sie gerichtet.
Das machen normale Kinder nicht. Oder?
Es schien ihr, als wäre sehr viel Zeit verstrichen, seitdem sie sich das letzte Mal wie ein normales Kind gefühlt hatte.
Doch bevor ihr klar wurde, was sie tat, hatte sie die Dose in ihrer Hand. Sie hielt sie an ihre Lippen.
Trink einfach einen Schluck. Das macht nichts.
Und dann setzte sie an -
„Sara Jane!” Die Stimme war schrill und befehlend und kam so überraschend, dass Sara die Dose auf den Boden fallen ließ, wo das Bier dann herausfloss.
„Wer zum Teufel ist das?” rief Mix.
Sara wusste schon, wer das war. Ein Angstknoten bildete sich in ihrem Magen, als Maya wütend die Schlucht hinunterstapfte. Ihr Haar war immer noch vom Bett zerzaust, was ihren Anblick noch imposanter als gewöhnlich machte. „Ich bin ihre Schwester, das bin ich zum Teufel.” Sie bückte sich und hob die fast leere Bierbüchse vom Boden auf. „Was ist das?”
„Gott, das ist doch nichts Schlimmes”, sagte Trudy.
May warf ihr einen der Blicke zu, mit denen sie töten konnte. „Mit dir habe ich nicht geredet. Geht heim, ihr drei.”
Der große Junge, Mix, schnaubte verächtlich. „Du glaubst wohl, dass du hier einfach herkommen kannst und uns vorschreiben kannst, was wir tun?”
Maya drehte sich sofort zu ihm um. Obwohl er größer als sie war, bemerkte Sara, dass er unter ihrem Blick sichtbar schrumpfte. „Ich trete euch allen dreien in den Hintern, wenn ihr nicht sofort heimgeht.”
Die beiden Jungs blickten einander an. Sara konnte ihren Gesichtsausdruck klar lesen, sie schienen zu überlegen, ob sie gegen ein Mädchen kämpfen wollten und, wichtiger noch, ob sie einen Kampf gegen ein Mädchen
verlieren
wollten.
„Ist ja gut”, murmelte Ethan. „Deine Schwester ist sowieso ein Verlierer. Macht schon.” Die drei trollten sich aus der Schlucht, gingen den Trampelpfad wieder hinauf, ohne dabei zurückzublicken.
Nachdem sie fort waren, lenkte Maya ihren wütenden Blick auf Sara und auch sie spürte, wie sie - genau wie der Junge - schrumpfte. „Was zum Teufel, Sara? Was machst du hier draußen?”
„Nichts”, murmelte Sara und wagte es nicht, ihrer Schwester in die Augen zu blicken. „Ich habe nur...”
„Nur was? Wir sind angeblich untergetaucht. Wir sollen uns versteckt halten. Und du gehst in den Wald mit verdächtigen Jungs? Um zu trinken?” Maya schüttelte die fast leere Dose in der Nähe von Saras Gesicht.
„Nein! Ich habe nicht...”
„Doch du warst kurz davor.”
„War ich nicht...”
„Ich habe dich gesehen!”
„Es tut mir leid!” rief Sara. Sie war über die Lautstärke ihrer Stimme überrascht, genauso wie ihre Schwester, was man an dem kleinen Schritt merkte, den Maya bei ihrem Ausbruch zurücktrat. „Ich wollte mich nur daran erinnern, wie es sich anfühlt, normal zu sein!”
„Sind wir aber nicht”, erwiderte Maya. „Wir verstecken uns in diesem lächerlichen Hinterland, weil unsere Leben
wirklich
davon abhängen.”
„Ich habe nicht darum gebeten”, murmelte Sara. „Ich will einfach nur, dass die Dinge wieder so sind, wie sie mal waren.”
„Ich weiß Mäuschen.” Maya verbesserte sich schnell.
„Sara. Das will ich doch auch.
Aber wir müssen uns beide der Tatsache stellen, dass die Dinge nie wieder so sein werden, wie sie waren. Das wird einfach nicht passieren.”
Sara starrte zu Boden. Welke Blätter und zerstampfte Bierdosen. Normalerweise hätte sie jetzt wahrscheinlich geweint, doch das fühlte sich wie ein anderes Leben an. Ihr kamen keine Tränen.
„Mach schon”, forderte Maya sie auf, „lass uns zurückgehen.” Sie drehte sich um und ging voraus, um aus der Schlucht zu wandern.
„Entschuldigung, meine Damen.” Sie blickten beide schnell auf. Eine Frau stand am Rand der Schlucht. Sie trug dunkle Hosen und ein beiges Hemd mit Kragen. Ein goldenes Abzeichen war an ihre Brust geheftet.
Eine Polizistin, bemerkte Sara düster.
„Warum kommt ihr zwei nicht hier raus, damit wir uns ein bisschen unterhalten können”, rief die Polizistin hinunter. Sie klang gar nicht freundlich.
Maya schien zu bemerken, dass sie immer noch die Bierdose in der Hand hielt und ließ sie blitzschnell fallen. „Oh, verdammt”, murmelte sie.
*
Deputy Direktor Ashleigh Riker saß hinter ihrem Schreibtisch und las sich die Dokumente durch, welche die Division von Cartwright erlangt hatte, als ihr Handy klingelte.
„Riker”, antwortete sie hastig und hoffte, dass jemand einen Hinweis über Johansson oder die anderen Flüchtigen hatte.
„Bradbury hier, Madam.” Bradbury war der neue Assistent Direktor, den Mullen ernannt hatte, um ihre ehemalige Position zu übernehmen. Er war zwei Jahre älter als sie, doch hatte das gleiche Ziel, sich hochzuarbeiten. Wenn das alles vorbei wäre, würde sich Mullen zur Ruhe setzen und Riker die Zügel als Direktorin der CIA übergeben. Dann füllte Bradbury ihren Posten als Deputy Direktor. „Wir haben was über Nulls Kinder.”
Riker blinzelte. Das waren gar nicht die Neuigkeiten, die sie erwartet hatte, doch sie war sicherlich sehr dankbar dafür. „Woher?”
Das Social-Network-Account eines Jungens wurde markiert. Ein Handy in Nebraska stellte kürzlich ein Foto eines jugendlichen Mädchen ins Netz. Gesichtserkennung gibt uns einen siebenundneunzig prozentigen Treffer mit Sara Lawson.”
„Nebraska”, sagte Riker gedankenverloren. So weit hätten sie es nicht ohne Hilfe geschafft. Sie bezweifelte sehr stark, dass sie allein waren. „Wem gehört das Telefon?”
„Irgendeinem Teenager, der am Ende der Welt lebt”, antwortete Bradbury. „Doch der Junge hat das Foto zusammen mit einer Schlagzeile über ,ein neues Nachbarmädchen’ hochgeladen. Wir überprüfen gerade jede Adresse in der Nähe.”
„Gut”, sagte Riker. „Schicken Sie ein Team der Division dorthin, sobald Sie einen Standort haben.”
Bradbury war einen Augenblick lang still. „Bei allem Respekt”, sagte er letztendlich, „glauben Sie nicht, dass wir einfach nur einen Agenten losschicken sollten, um sie abzuholen und festzunehmen? Das sind doch nur ein paar Kinder -”
„Nur ein paar Kinder?” Riker schnaubte verächtlich. „Bradbury, das sind Agent Nulls Kinder. Die mögen zwar minderjährig sein, doch sie sind allein in den letzten vierundzwanzig Stunden mit vier Mordfällen in Verbindung gebracht worden. Möglicherweise sogar sechs. Man muss sie als bewaffnet, gefährlich und möglicherweise nicht allein betrachten. Sagen Sie der Division, dass sie mit äußerster Vorsicht und der notwendigen Gewalt vorgehen sollen. Die ,Kinder’ werden auf die eine oder andere Weise dafür gerade stehen müssen - tot oder lebendig.”
„Yes, Madam”, gab Bradbury leise nach. „Ich halte Sie auf dem Laufenden.”
Riker legte auf und lehnte sich lächelnd zurück. Bald schon wäre es ihr möglich, sich endlich der Lawson Familie zu entledigen
-
und auch die ganzen anderen Verrätern, die sich hinter Agent Null gestellt hatten, loswerden.