KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
Null hustete ein paar mundvoll Flusswasser, als er sich am dunklen, kantigen Felsen des nordwestlichen Ufers der Roosevelt Insel hochzog. Sein rechter Arm war um Piersons Schulter gelegt, er zog ihn hinter sich her, als sie das flache Wasser erreichten.
Das Gesicht des Präsidenten war fahl, seine Augen geschlossen und seine Lippen blau. Null wusste, dass er ihn aus dem Wasser ziehen und ihn wiederbeleben musste. Er hoffte, dass irgendeine höhere Macht seine Gebete erhörte, dass er noch am Leben wäre.
Direkt nördlich über ihnen brachen Stücke der Queensboro Brücke weiter zusammen und fielen, krachten in das Wasser unter ihnen. Es schien, dass die untere Etage evakuiert war, abgesehen von den unglücklichen Seelen, die in der unmittelbaren Explosionszone der Panzerfäuste waren.
Null zuckte zusammen, als drei F-16 Jets über seinen Kopf donnerten. Während er sie beobachtete, wurde eine einzige Sidewinder Rakete abgefeuert und reduzierte das entführte Küstenwachenboot zu einem sofortigen Feuerball. Die Jets flogen höher, über die Brücke und um die Insel Manhattan.
Es schien, dass der Tag größtenteils gewonnen war, doch Null hatte keine Kraft mehr in seinem Körper. Er war komplett erschöpft. Es schien ihm sogar unmöglich, sich weiter die Felsen hochzuziehen, um gar nicht zu bedenken, dass er noch Pierson Erste Hilfe leisten musste.
„Hilfe”, versuchte er zu rufen, doch seine Stimme war heiser und röchelnd, kaum mehr als ein lautes Flüstern.
„Bitte.” Es war niemand da, es schien als ob die Roosevelt Insel ebenfalls evakuiert worden war, doch es war ganz und gar unmöglich, denn das ganze Leid war in nur Minuten vollbracht worden.
„Bitte.” Er zog an Pierson, kämpfte darum, ihn auf die Seite zu drehen, falls er zu viel Wasser geschluckt hatte. Selbst wenn Null noch Kraft gehabt hätte, dann wäre es ihm mit der gebrochenen Hand schwergefallen, die Brustkorbeindrückungen durchzuführen. „Ist da wer?”
„Null!” Eine Stimme. Eine männliche Stimme. Null blickte das abfallende, steinige Ufer hinauf, blinzelte in die helle Nachmittagssonne und bemerkte eine Silhouette, die vorsichtig auf sie zukam. „Sieht so aus, als bräuchtest du Hilfe.”
Er kannte diese Stimme.
Carver kniete neben ihm und beäugte ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Ungläubigkeit. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich hier wäre.” Er kicherte ein wenig. „Ich habe gesehen, wie ihr zwei von der Brücke gesprungen seid. Verdammt, Null. Du machst keine halben Sachen, was?”
„Hilf ihm”, keuchte Null. Doch etwas in Carvers Gesichtsausdruck ließ ihn stark daran zweifeln, dass Hilfe käme.
„Wie? Ist der immer noch am Leben?” Carver schnaubte verächtlich und lehnte sich über Null, um Piersons Puls zu spüren. „Verdammt. Na, das geht aber nicht.”
Ein kalter Schauder lief Null über den Rücken.
Carver hatte niemals vor, ihm zu helfen. Er hatte Null hierhergelockt, an den Tatort gebracht.
„Hilfe!” versuchte er erneut zu rufen.
„Niemand wird dich hören”, sagte ihm Carver. „Wir haben alle auf der Insel an die Südspitze gebracht, weg von der Brücke. Fähren kommen, um sie abzuholen. Hier ist niemand, außer dir und mir.”
Null hörte das stetige Brummen von Helikoptern und für einen Moment hatte er die Hoffnung, dass Hilfe auf dem Weg war. Er reckte seinen Hals ein wenig, doch seine Muskeln schmerzten protestierend.
Die rot-weißen Rettungshelikopter flogen jedoch nicht in Richtung der Insel, sie flogen auf die Brücke zu.
„Ist es...” Null hustete heftig. „Ist es das wert?”
„Ja”, nickte Carver, „das ist es.” Er stand auf, hob einen Stiefel an und legte ihn sanft auf Nulls Kehle, drückte langsam zu, als ob er auf ein Gaspedal trat, und schnitt Null die Luft ab. Er zischte und hielt mit der linken Hand am Stiefel fest, doch er konnte ihn nicht bewegen. Genauso gut hätte auch ein Auto auf ihm liegen können.
Mit zitterndem Arm hob Null seine bandagierte rechte Hand an und zielte damit auf Carver. Er drückte auf den Abzug der LC9.
Doch nichts geschah. Die Waffe war triefnass und nutzlos.
„Auf Wiedersehen Null. Ich lege ein gutes Wort für dich ein, mal schauen, ob sie dich zum Helden machen.”
Seine Sicht verschwamm. Seine Lungen brannten nach Luft, sein Mund öffnete sich und atmete nichts ein, wie ein Fisch außerhalb von Wasser.
Carver lehnte sich über ihn. „Wir müssen aber trotzdem noch deine Freunde umbringen. Deine Kinder auch. Tut mir leid.”
Seine Sicht verdunkelte sich, als Bilder von Sara und Maya ihm durchs Gehirn schossen.
Alan wird sie beschützen.
Er musste sich das sagen. Falls dies sein letzter Moment wäre, dann müsste er das glauben.
Plötzlich schrie Carver auf. Der Stiefel hob sich von Nulls Kehle und er atmete tief ein, als Carver nach vorn auf die Felsen fiel.
„Das reicht jetzt, Jason.” Eine dunkle, bekannte Stimme, flach und fast gefühllos.
Watson.
Null stemmte sich mit einem schweren Stöhnen auf seine Ellenbogen, als Carver herumrollte. Ein dünnes Messer steckte direkt über seiner rechten Niere. Agent Watson stand auf den Felsen, eine Pistole in der Hand, doch niemand war hinter ihm.
Es schien, als wäre er alleine gekömmen.
„Oh, du Arschloch”, keuchte Carver. „In den Rücken, John?” Er riss das Messer mit einem kleinen Stöhnen heraus, während Watson über ihm verharrte und die Glock auf ihn richtete. „Wenn du mich erschießt”, grollte Carver, „dann wird die New Yorker Polizeibehörde in Sekunden hier sein. Das Sondereinsatzkommando. Das FBI. Wie willst du denen erklären, dass du einen CIA Agenten erschossen hast, der versuchte, den Präsidenten von einem Kriminellen zu retten?”
„Ich werde dich nicht erschießen”, sagte Watson passiv. Er streckte eine Hand aus und Null nahm sie, zog sich hinauf in eine sitzende Position.
Dann drehte er die Glock in seiner Hand herum und hielt sie mit dem Griff nach vorn.
Null nahm sie. „Danke”, murmelte er. „Ist Maria in Ordnung?”
Watson nickte und kniete sich neben Pierson. „Sie unterstützte die Evakuierung der unteren Etage der Brücke.” Er hob vorsichtig den Hals des Präsidenten an und begann mit der Brusteindrückung.
Null sah, dass Carver nach seiner Hüfte griff und zielte schnell mit der Pistole auf ihn. „Hör auf. Ich will dich nicht töten.” Das war nicht wirklich der Fall, natürlich hätte er Carver nur zu gern auf der Stelle erschossen. „Ich will dich verhaften. Dich zum Sprechen bringen. Dich dazu zwingen, all deine Informationen preiszugeben, all deine Kontakte in diesem Komplott.”
Carver grinste, auch als er vor Schmerz zusammenzuckte. „OK, Null. Ich gebe dir die Information. Lass uns mit diesem Detail anfangen. Du weißt, dass John und ich für lange Zeit Partner waren. Ich kannte all seine dreckigen Geheimnisse.”
Watson hielt kurz inne, blickte zu seinem ehemaligen Partner herüber, doch sagte nichts. Er drückte Piersons Nase zu und lehnte sich über ihn, um ihn zu beatmen.
„Weißt du, was er dir angetan hat?” fragte Carver. „Deiner Familie?”
„Wovon sprichst du?” fragte Null leise.
Seine Hand zitterte. Er hatte kaum die Kraft, die Glock noch hochzuhalten.
„Hat er dir das nie erzählt?” erwiderte Carver höhnisch. „Ach, natürlich nicht.”
Die haben es nicht gemeint. Die kannten nicht die Wahrheit.
„
Unser Kumpel John hier geht nicht nur gut mit Messern und Waffen um. Manchmal... na manchmal ist er richtig giftig.”
Nulls Hand zitterte, während Watson weiterhin mit der Wiederbelebung fortfuhr.
Die befolgten nur einen Befehl, genau wie auch ich. Wir wurden alle angelogen.
Mit seinem letzten bisschen Kraft hob Null die Waffe hoch und gab zwei Schuss ab.
Der erste traf Carver in sein Schlüsselbein. Der zweite direkt links neben seine Nase. Der Kopf des abtrünnigen Agenten klappte nach hinten und er fiel gegen die Steine.
Nulls beide Arme fielen schlaff zur Seite, während Watson weiterhin den Präsidenten wiederbelebte. Schließlich hustete Pierson das Flusswasser aus seinen Lungen und kam wieder zu Bewusstsein.
„Liegen Sie still, Mr. Präsident”, sagte ihm Watson.
„Versuchen Sie, sich nicht zu bewegen.”
Der Präsident hustete zwischen ihnen, lag auf dem Rücken mit dem Kopf auf die Seite gedreht. Nulls Sicht verschwamm wieder, doch dieses Mal wegen der Tränen, die sich androhten.
Doch es waren keine Tränen der Trauer oder des Leides. Sie entstanden aus Zorn.
Watson lehnte sich langsam zurück gegen einen Felsen, während Sirenen irgendwo auf der Roosevelt Insel heulten. Es war der Klang der Polizei, die auf die Schüsse reagierte.
„Ich will es von dir hören”, murmelte Null.
„Das hast du wohl verdient.” Watson seufzte durch die Nase. „Ich ging zu dem Museum, indem sie arbeitete und gab vor, dass ich ein Paket abgab. Ich vergiftete ihren Tee mit TTX. Ich wusste nicht, wer sie war oder warum die Agentur ihren Tod wollte.
Ich verstand die Wahrheit erst später, als ich die Todesanzeige las und deinen wirklichen Namen herausfand. Doch das ist jetzt egal.” Sein Blick traf Nulls und er konnte den aufrichtigen Kummer sehen, den Watson so gut zu verstecken wusste. „Ich habe deine Frau umgebracht, Kent. Ich würde dir sagen, dass es mir leid tut, doch auch das ändert jetzt kaum etwas an den Dingen.”
Null blickte auf die Glock in seiner Faust herunter. Jetzt verstand er, warum Watson sie ihm gegeben hatte. Nicht nur, um Carver zu töten. Sondern um eine Wahl zu treffen. Und auch das hatte er verdient.
Seine Hände zitterten. Dieser Mann hatte sein Leben gerettet, hatte ihm geholfen, als er es am dringendsten benötigte, hatte sogar die Leben beider seiner Töchter bei mehr als einer Gelegenheit gerettet. Null hatte das in der Vergangenheit hinterfragt, doch jetzt wusste er die Wahrheit.
Es war keine Hilfe. Es war Sühne.
„Tu, was du tun musst”, sagte ihm Watson.
„Die Polizisten werden bald eintreffen.”
Pierson keuchte, lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Null bezweifelte, dass der Präsident sich an vieles von dem, was hier am Ufer der Insel geschehen war, in seinem halbertrunkenen Zustand erinnern würde.
Also fasste er seinen Entschluss. Mit zittrigen Händen und schwachen Armen hob Null die Glock mit dem, was sich wie sein letztes bisschen Kraft anfühlte, an.
Und dann warf er sie in den East River.
„Geh.” Seine Stimme erklang kaum lauter als ein zischendes Flüstern. „Verschwinde. Komme nie wieder zurück. Wenn ich dich nochmal sehe, dann schwöre ich bei Gott, dass ich dich umbringe.”
Watson nickte einmal. Er stand auf und ging das Ufer entlang, schritt vorsichtig über die Felsen, weg von ihnen.
Die Sirenen kamen näher, als Null dort in der Nachmittagssonne stand. Es war ein wunderschöner Tag. Doch ihm war einfach nur kalt.