WARUM?
Ich am Steuer. Versuche, mich auf die Straße zu konzentrieren. Mein Herz pocht. Laut. Lauter als das Martinshorn. Jeder Schlag durchfährt meine Brust, meine Arme bis in die Fingerspitzen, die schweißig am Lenkrad kleben. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen. Schwierig. Unmöglich.
Ich bin im Tunnel. Mein Sichtfeld ist verengt auf den Ausschnitt genau vor mir. Rechts und links ist es dunkel. Ich biege in eine dreispurige Straße ein, der Wagen legt sich in die Kurve. Keiner im Weg hier.
Ich bemühe mich, an nichts zu denken, zu fokussieren. Es ist hoffnungslos. Ich höre den Beat meines Herzens und ein einziges Wort, eine Frage, im Rhythmus des Beats. Ein kleiner H. P. Baxxter brüllt sie wieder und wieder in sein Mikro. Der Boxenturm steht mitten in meinem Kopf. Ich mag die Band Scooter nicht. Sie verkörpert alles, was den Menschen so hässlich macht. Stumpfe Plastikscheiße. Schnapskoma und Grölen. Und montags wieder schön einreihen in die lebenslange Arbeitsschlange bis zum Tod. Aber solange am Wochenende mal ordentlich die Sau rausgelassen wird, lässt sich das Dasein ertragen. Irgendwie. Muss ja.
Es gelingt mir ganz und gar nicht, an nichts zu denken. Der Song läuft in Dauerschleife. Der kleine H. P. Baxxter fängt wieder an zu schreien: WARUM?
Immer dieses eine Wort, diese eine Frage. WARUM? WARUM? WARUM???
Ja, warum eigentlich? Das frage ich mich in solchen Momenten oft. Warum zur Hölle tu ich mir das an? Warum dränge ich gerade mit siebzig Sachen die Autos in der Innenstadt zur Seite, nur Zentimeter zwischen Crash und der Weiterfahrt? Warum rieche ich schon wieder meinen eigenen sauren Schweiß? Das ist doch nicht normal, was ich hier mache.
Ich sehe Menschen, die sich die Ohren zuhalten, die hoffen, dass ich
schnell wieder aus ihrem Leben verschwinde. Ich nerve, ich irritiere. Ich reiße sie für einen kurzen Moment aus ihrem Alltag. Jederzeit kann alles vorbei sein. Ich erinnere sie daran, dass sie sterben werden. Sie alle. Und dann ist all das, was sie sich mühsam erarbeitet haben, auf einen Schlag bedeutungslos. Ich sehe nur Tote. Ich bin der kleine Junge aus The Sixth Sense
. Aber über mich wird man nie einen Film drehen. Und wenn, dann würde niemals Bruce Willis mitspielen. Vielleicht Ralf Bauer, aber nicht fucking Bruce Willis.
Blick nach rechts zum Beifahrersitz. Da sitzt Dennis. Kann ich mich auf ihn verlassen? Schläfrig sitzt er da. Wieso ist Dennis so tiefenentspannt und ich nicht? Ihm ist einfach alles egal. Sogar er selbst, so wie er aussieht. Wird immer fetter und zynischer. Immer diese fiesen Sprüche. Das macht mich wütend. Aber es darf heute nicht eskalieren. Bitte nicht. Ich fühle mich nicht gut. Möchte nur ins Bett. Oder zu Hause den Kühlschrank öffnen und überlegen, was ich mir koche. In aller Ruhe.
WARUM?
Warum sitze ich hier? Welche Wendung hat mein Leben genommen, dass ich mir das antun muss?
VU
. Verkehrsunfall. So viel weiß ich. Steht auf der Einsatzdepesche. Über Funk hieß es: eine schwer verletzte Person. Die Laienreanimation sei bereits auf der Straße eingeleitet worden. Das war der Moment, der den Sound meines Herzschlags auf »MAX
« gedreht hat. In diesem Moment dachte ich fest daran, an nichts zu denken. Eine Sekunde später bekam der kleine H. P. Baxxter seinen Einsatz.
Ich lenke den Rettungswagen durch die wartenden Autos.
»Siehst du was?«, fragt Dennis.
Ich recke den Hals. »Jepp. Wir haben es gleich geschafft. Da stehen Leute. Und da liegt einer. Und einer drückt.« Drei Autofahrer sind ausgestiegen, haben sich näher gewagt und gaffen. Mein Blick fällt auf den verformten Wagen, der zusammen mit dem Baum eine seltsame Einheit bildet. Eine hässliche Skulptur, Thema: »Verschmelzung von Natur und Technik«.
Ich halte den RTW
an, schaue rüber zu dem Verletzten.
»Scheiße, der ist ja noch richtig jung«, murmele ich.
»Was stimmt nicht mit dir? Aussteigen!«, faucht Dennis. Ich zucke, schnappe unseren Rucksack, hole tief Luft. Jetzt müssen wir öffentlich
arbeiten. Vor aller Augen. Alle, die hier rumstehen, sind unsere Zuschauer, beobachten jeden Handgriff. Aber das hier ist keine Show. Das ist der intimste Moment im Leben eines Menschen, der Moment, in dem der Schritt zwischen Leben und Tod gemacht wird. Der Übergang. Der Zustand zwischen Tag und Nacht. Das letzte Glühen, bevor die Sonne endgültig im Meer abtaucht und den Himmel ein letztes verzweifeltes Mal blutrot färbt. Dieser Moment gehört einem Menschen ganz allein. Zuschauer, Gaffer, die nichts, aber auch gar nichts mit ihm verbindet, sind vollkommen fehl am Platz. Das ist würdelos.
Ich bin mir sicher, dass der Mann da vor mir auf dem Boden den Schritt zwischen Leben und Tod noch nicht machen will. Es ist zu früh für ihn. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig, jünger als ich. Viel Bart, etwas dicklich, Metallica-Shirt. Dieser Mann will sich auch nächstes Jahr noch in Wacken im Moshpit blaue Flecken holen. Und dafür sind wir da. Dennis und ich. Wir müssen diesen Menschen jetzt zurückholen, den Übergang verhindern.
Der Ersthelfer drückt den Brustkorb in der richtigen Frequenz und Tiefe. Erleichtert lächelt er uns an.
»Sie machen das gar nicht so schlecht«, sagt Dennis. »Noch einen Augenblick, wir übernehmen gleich.«
Was hat der Metalhead nur für ein Glück. Ohne den beherzten Helfer wäre ihm ein Hirnschaden garantiert. Würde er zu einem Deckengucker im Pflegeheim. Wäre das eine würdevolle Alternative zum Tod?
Warum hören diese nervigen Gedanken nicht auf?
Ich muss jetzt funktionieren! Drücken und pusten. Dafür bin ich da. Retten und reanimieren. Warum verliere ich mich in Gedanken? Warum zögere ich? Das ist doch nicht meine erste Rea. Ich sehe, wie Dennis sich zu dem Verletzten kniet, dessen T-Shirt aufschneidet, die Patches des C3
klebt. Das EKG
zeigt: PEA
, pulslose elektrische Aktivität. Der Herzmuskel arbeitet nicht mehr. Kreislaufstillstand. Der Metalhead hat den Übergang eigentlich schon hinter sich.
Ich kämpfe mit meinen Gummihandschuhen, sie wollen nicht über die Schweißhände rüber, verdammt, wie ein Praktikant. Dennis löst den Ersthelfer beim Drücken ab und raunzt: »Kim, die Beatmung!« Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich weiß nicht, ob wir den
Sauerstoff überhaupt aus dem Wagen mitgenommen haben. Ich sehe die Flasche nirgends. Fuck. Fuckfuckfuck! Ich renne hektisch zurück zum RTW
. Aber da ist keine Sauerstoffflasche. Ich könnte schreien vor Wut. Warum funktioniert hier nichts? Haben wir sie etwa an der Wache vergessen? Was für ein Anfängerfehler. Die Kollegen dürfen das nie erfahren. Ich renne zu Dennis zurück, der drückt dem Metalhead konzentriert und rhythmisch auf den Brustkorb. Und da sehe ich sie: die Sauerstoffflasche, rechts neben dem Kopf des Patienten. Stand sie die ganze Zeit dort? Was hat Dennis gedacht, als ich noch mal zum Wagen gerannt bin? Hat er das überhaupt mitbekommen? Ich krame im Rucksack und suche die Beatmungsmaske. Ich nehme das größte Modell, stülpe sie dem Mann über Nase und Mund. Aber das Beatmen funktioniert nicht richtig. Wegen des Barts zischt die Luft an der Seite heraus. Sekunden vergehen. Ich bin wie gelähmt.
»Kleinere Maske, C-Griff. Warum nicht gleich den Larynxtubus?«, ruft Dennis. Natürlich. Ich wühle wieder, finde den Tubus. Ich öffne den Mund und schiebe den Tubus tief in den Rachen.
Warum habe ich nicht selbst reagiert? Warum musste ich mir das jetzt von Dennis sagen lassen? Er ist doch nur Rettungsassistent. Ich bin Notfallsanitäter. Meine Ausbildung war länger, mein Wissen ist auf dem neuesten Stand. Es ist einfach nur peinlich.
Ein neuer Zyklus. Rhythmusanalyse. Kein Schock per Defibrillator.
»Kim, drückst du jetzt?« Dennis greift nach dem Rucksack. »Ich lege den Zugang, dann spritzen wir Adrenalin.«
Das ist gut. Da muss ich nicht mitdenken. Nur drücken. Das hat etwas Meditatives. Ich vergesse, dass ich hier auf einem Lebewesen herumdrücke. Ich vergesse die Blicke der Schaulustigen. Ich vergesse mich. Ich werde eins mit der Bewegung. Der Shouter in meinem Kopf macht Mittagspause. Ich drücke und drücke. Dennis hat die Beatmung übernommen. Und ich drücke.
Die Notärztin ist da. Ihr Kollege hockt sich neben mich.
»Komm, ich lös dich mal aus«, sagt er.
Ich will nicht. Ich sollte aber, sonst werde ich zu langsam. Scheiß drauf. Ich mache das gut. Ich bin noch nicht müde. Doch der Kollege drängt mich sanft, aber unmissverständlich zur Seite.
Vier Minuten später darf ich wieder ran. Im fahrenden
Rettungswagen stehe ich neben der Trage und drücke. Ich drücke auch noch, als wir am Krankenhaus ankommen. Sobald der Wagen anhält, steige ich auf die Trage, knie mich über den Metalhead. Meine Unterschenkel sind rechts und links an seine Hüfte gepresst, sie passen gerade noch so daneben. Dennis zieht die Trage aus dem RTW
, obendrauf der intubierte Patient und ich. So schiebt er uns in die Notaufnahme. Schwestern, Pfleger und Ärzte warten schon, umringen und folgen uns. Wir werden quer durch den Empfangsbereich gerollt, und ich muss aufpassen, dass ich mir nicht den Kopf an der Decke stoße.
»Patient Jonas Liebold, männlich, achtundzwanzig Jahre, Verkehrsunfall, Herz-Kreislauf-Stillstand, Laienreanimation vor Ort …« Ich höre kaum, was die Notärztin runterrattert. Ich drücke. Wie befreiend. Ich bin hier, ich bin jetzt. Für diesen Moment, genau für diesen Moment bin ich Notfallsanitäter geworden. Ich kann etwas verändern, ich mache den Unterschied.
»Kim, aufhören. Es ist gut. AUFHÖREN
!«, befiehlt der Klinikarzt im Gang kurz vor dem Schockraum. »Wir schließen jetzt den LUCAS
an. Der Patient kommt sofort in den OP
.«
Ich lasse ab. Für mich übernimmt die Maschine. Fühle ich mich heldenhaft? Nein. Fühle ich mich gebraucht? Ja.
Stille.
Gegen dreiundzwanzig Uhr komme ich nach Hause. Marie schläft bereits. Ich setze mich an den Küchentisch und sacke völlig ausgebrannt zusammen. Schon wieder Überstunden. Und nach meiner Schicht wollte ich noch unbedingt bei der Klinik vorbeifahren. Wollte wissen, was aus meinem Metalhead geworden ist.
»Der Typ hatte tatsächlich einen dauerhaften ROSC
, ist also erst mal wieder da. Ist nicht klar, ob er es schafft. Ursache war wohl ein Infarkt. Er war im Katheterlabor und an der ECMO
-Anlage, jetzt liegt er auf der Intensiv«, hat mir Schwester Kerstin gesagt.
Kerstin. Sie ist bei vielen für ihre schlechte Laune gefürchtet, aber ich mag sie. Wenigstens eine ehrliche Haut. Mich wundert ihre miese Stimmung überhaupt nicht. Als ich bei ihr vorbeischaue, liegen die Leute in Zweierreihen auf dem Flur, die Zimmer sind heillos überfüllt. Ich bin froh, dass ich nach jeder Patientenübergabe wieder in meinen leeren RTW
flüchten kann. Weg von den Menschen, die die Notaufnahme mit einem medizinischen Discounter verwechseln. Mal schnell zwischendurch zum Facharzt. Ganz ohne Termin. Pech für sie, dass Schwester Kerstin dazwischengeschaltet ist.
»Hallo? Hallo!«, ruft einer vom Gang. Kerstin lehnt sich aus dem Schwesternzimmer.
»Ich warte hier schon seit acht Stunden!«, klagt der Mann. »Mein Rücken bringt mich um!«
»Ich sagte Ihnen doch, wir kümmern uns drum. Alles zu seiner Zeit!«, schnauzt Kerstin, dreht sich zu mir zurück und verschränkt die Arme.
Der Metalhead war das genaue Gegenteil. Bei ihm zählte jede Sekunde. Er bekam sofort die volle Aufmerksamkeit. Pfleger, Schwestern und Ärzte kümmern sich jetzt rund um die Uhr um ihn. Für genau solche Fälle gibt es den Rettungsdienst, die Notaufnahme und den Bereitschaftsdienst des Operationsteams, der den OP
-Saal zu jeder Tageszeit hochfahren kann.
Ich gehe den gesamten Fall noch einmal durch. Der junge Mann hatte einen Herzinfarkt und ist deshalb gegen den Baum gefahren. Wir haben die Wiederbelebung bis zum Krankenhaus durchgeführt, aber letzten Endes hat das Herzkatheterlabor dafür gesorgt, dass sein Herz wieder mit Sauerstoff versorgt werden konnte. Eine verstopfte Herzkranzarterie als Ursache. Mit Ende zwanzig.
Der Fall lässt mich nicht los. Der Patient tut mir leid. Gerettet ist er noch lange nicht. Viele sterben wenige Tage nach einer erfolgreichen Reanimation. Wacken liegt in weiter Ferne.
Und dann diese Anfahrt heute, die Probleme mit der Sauerstoffflasche, die Schwierigkeiten beim Beatmen. Ich bin unzufrieden. Wieso war ich so unaufmerksam? Warum diese handwerklichen Fehler? Dennis hat zwar in der Nachbesprechung nichts dazu gesagt, aber er muss es mitbekommen haben. Da konnte die Notärztin das gesamte Team am Ende noch so sehr für die Reanimation loben, das zählt nicht. Schließlich war sie in der Chaosphase nicht dabei. Aber ist es wichtig, dass ich in Gedanken war? Der Metalhead wurde doch ins Leben zurückkatapultiert, und nur das zählt. Außerdem haben wir tatsächlich keinen groben Fehler gemacht.
Es waren nur Kleinigkeiten.
»Was stimmt nicht mit dir?« Dennis hat die Frage des Tages gestellt. Er selbst hat funktioniert wie ein Uhrwerk. Aus dem Zen- in den Vollspeed-Modus. Aber, ehrlich gesagt, der hat auch nie was anderes gemacht in seinem Leben. Nur Rettungsdienst.
Einer der wenigen, die das durchgehalten haben. Fünfundzwanzig Jahre diese Arbeitsbedingungen, die Bezahlung, die Nachtschichten. Das hat Folgen. Gesundheitlich und bei manchen auch charakterlich. Einige der Alten werden komisch. Man sollte Dennis eine Sitcom oder Realityshow geben. Der beschwert sich lautstark, wenn die Geräte im Auto nicht den neuesten medizinischen Standards entsprechen. Seinen eigenen Körper behandelt er allerdings wie Abfall. Schokoriegel. Käsebrötchen. Currywurst. Was ein Körper am Tag halt so braucht. Für Dennis ist klar, Grünzeug und Vitamine sind etwas für verweichlichte Indie-Rock-Fans.
Ich verstehe das nicht. »Wer rettet, fettet« ist auch bei Dennis ein beliebter Spruch, und zwar während er gerade Industrieprodukte in sich reinstopft. Du bist der Nächste, den ich mit meinem RTW
einsammele, denke ich mir. Er sorgt dafür, dass mein Arbeitsplatz auch in Zukunft sicher ist. Schön. Warum bin ich nicht dankbar dafür?
Da ist noch etwas anderes. Der Job hat Dennis abgestumpft. Er scheint nichts mehr zu fühlen. Hat immer einen ironischen, zynischen Spruch auf den Lippen. Meistens lache ich mit, aber innerlich fühle ich mich schmutzig. Oder ich werde wütend und muss mir auf die Zunge beißen. Denn es braucht vor allem eines im Rettungsdienst: Empathie. Im Umgang mit Patienten und Kollegen. Sonst kann eine fragile Notfallsituation jederzeit eskalieren. Heute war Dennis Vollprofi. Und ich nicht.
Ich lasse den Kopf hängen, mein Rücken ein Buckel. Bin so müde. Nichts geht mehr. Ich kenne das, das ist jobbedingt. Es wird aber seit einigen Monaten immer schlimmer. Ich stopfe mir den letzten Bissen meines Nutella-Toasts in den Mund.
Im Schlafzimmer versuche ich, so leise und vorsichtig wie möglich neben Marie unter die Bettdecke zu schlüpfen. Sie stöhnt kurz auf und dreht sich weg. Ich umarme sie, spüre meinen Atem gegen ihren Nacken. Es dauert, bis der Schlaf kommt. Aber er kommt, und ich falle in die Dunkelheit.