AUFWACHEN
Ich stapfe durch den Garten. Hinter mir höre ich Dennis schnaufen. Plötzlich legt er seinen Arm um meine Schultern, stützt sich auf mich. Ich wanke unter seinem Gewicht, ziehe ihn mit über die Terrasse des heruntergekommenen Hauses, drücke ihn durch die Hintertür. Er steckt fest, ich stemme mich gegen diesen Riesen, muss drücken, quetschen, dann löst er sich, und wir stolpern nach drinnen.
Es stinkt fürchterlich. Eine Fifty-fifty-Mische aus Kotze und Kot. Mein Magen zieht sich zusammen. Speichel sammelt sich. Ist das ekelhaft. Gleich flute ich das gesamte Wohnzimmer mit meiner Kotze.
Eine Frau sitzt mit einer halb leeren Wodkaflasche auf dem Sofa und singt. Ich kenne das Lied, aber ich erkenne es nicht. Sie verschluckt einzelne Silben. Sie wirkt ungepflegt. Hat eine Frisur wie der Clown Pennywise aus ES . Sie ist völlig betrunken.
Lose bunte Pillen auf dem Beistelltisch. Ich bin mir nicht sicher, aber liegt da nicht auch eine Spritze? Die Frau hat verwaschene Tattoos auf ihren Oberarmen. Ist das die Patientin?
Der Nachbar ruft: »Nach oben, nach oben!«
»Was soll denn da noch sein?«, frage ich.
»Nach oben«, wiederholt er nur.
Der Boden ist dreckig, vollgeschmiert mit Kot. Mich umschwirren Schwärme winziger Fliegen. Ich wedele vergeblich mit den Armen, sie setzen sich auf meinen feuchten Nacken und krabbeln in der Spur der Schweißtropfen meinen Rücken hinab.
Ich muss gehen, ich kann hier niemandem helfen. Aber ich komme nicht vom Fleck. Stehe mitten in der Scheiße. Klebe fest.
Die Frau singt laut. Ich halte mir die Ohren zu, aber es hilft nichts. Die Töne werden höher, schriller. Ich drücke fester auf die Ohren. Keine Wirkung. Die Ohren schmerzen. Die Frequenz ist kaum noch auszuhalten.
Ich schreie. Ich schreie dagegen an. Frequenz gegen Frequenz. Es quillt warm zwischen meinen Fingern hindurch, am Handgelenk und Hals entlang. Blut. Mein Blut.
»Es ist wieder da. Jetzt bin ich sogar deswegen aufgewacht«, flüstere ich. Marie hat sich eh schon unruhig hin und her bewegt. Draußen ist es hell.
»Der Tinnitus? War der denn je weg?«, fragt Marie schläfrig, ohne die Augen zu öffnen. Stimmt eigentlich. Hat das Piepen jemals gestoppt? Keine Ahnung. Gestern, beim Einsatz, habe ich den Ton nicht gehört. Oder habe ich ihn einfach überhört? Wirklich ruhig war es da ja nicht. Ist es nie bei Einsätzen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das angefangen hat. Mal ist der Ton lauter, mal leiser. Nachts, kurz vor dem Einschlafen, nervt er besonders. Es sei denn, ich bin komplett müde. Und dieser Zustand kommt immer öfter vor. So einen Tinnitus hatte ich ja schon immer mal, nach Partynächten und Festivalbesuchen. Nicht drum kümmern, geht wieder weg. Dieses Mal aber nicht. Das Piepen bleibt. So laut, dass ich jetzt sogar davon aufwache.
Marie blickt mich an. »Jetzt geh doch mal zum Arzt. Kannst du doch heute machen.«
»An meinem freien Tag? Da setz ich mich doch nicht ins Wartezimmer. Ich krieg so spontan eh keinen Termin. Und ich geh auf keinen Fall in die Notaufnahme.« Ich denke an Schwester Kerstin, wie sehr sie sich über meinen »Notfall« freuen würde und mich bis zum Abend auf dem Gang schmoren lassen würde. Wäre zwar ein guter Gag, allerdings wäre ich der Leidtragende. Darauf habe ich jetzt keinen Bock. Aber ich will auch nicht, dass dieser Ton mich mein Leben lang schikaniert. Wie bei diesem Schauspieler. Ich hab mal ein Interview gelesen. Darin hat er über seinen Tinnitus erzählt und dass er in Hotels immer das Zimmer zur Straße nehmen müsse. Nur mit geöffnetem Fenster zur Straße sei es ihm überhaupt möglich, mit dem Tinnitus einzuschlafen. Arme Sau, habe ich mir damals gedacht und mich gefreut, dass ich so was nicht hab. Fuck.
»Okay. Ich such mir wenigstens mal einen HNO -Arzt raus«, sage ich und beende den Flugmodus meines Smartphones. Eine Sprachnachricht. Von Benny.
»Hey Kim, Teampartner, äh … lass mal treffen. Gibt Neuigkeiten. Also, isch küss dein Auge.«
Isch küss dein Auge. Bennys Satz klingt nach, leicht verstellte Stimme, Prollstraßenslang. Das mag ich an Benny: Er hält sich kurz. Reduziert Sprachnachrichten aufs Wesentliche. Im Gegensatz zu vielen anderen.
Überhaupt Benny. Den habe ich viel zu lange nicht gesehen.
Wir haben uns gleich am ersten Tag in der Berufsschule kennengelernt. Vor gut vier Jahren. Und wenn ich jemanden interessant finde, dann ist meine erste Frage immer diese eine – ich wollte wissen, was für einen Musikgeschmack Benny hat. Was für Bands er hört.
»Guns n’ Roses und Ozzy Osbourne. Zu den Konzerten geh ich jetzt auch bald«, hat Benny geantwortet. Wie absurd! Zwei alternde Acts, die ihren Zenit längst überschritten haben, aber trotzdem einen Anfangzwanzigjährigen dazu bringen, für siebzig Euro ein Konzertticket zu kaufen. Ich habe beide Bands früher auch gehört. Wobei, früher? Wann war das eigentlich genau? Ich bin zehn Jahre älter als Benny, aber mit Anfang zwanzig war ich schon längst mit Guns n’ Roses und Ozzy durch.
Im Lauf der Ausbildung habe ich ihn dazu gebracht, deutschen Rap zu hören. Politischen Rap. Antilopen Gang. Sookee. Neonschwarz. Benny hat sich darauf eingelassen. Er ist sogar noch weiter gegangen. Hat sich selbst was rausgesucht, prolligen deutschen Hip-Hop, ohne tiefe Botschaften. Gzuz. Apache 207. Nur zum Scherz sogar Money Boy. Und irgendwann konnte ich nicht mehr sagen, ob er das jetzt wirklich noch ironisch meint oder ob er einfach Fan geworden ist. Das Hip-Hop-Projekt mit Benny war außer Kontrolle geraten. Dieses Rapperimitieren, ist das nicht schon seit gefühlt Jahrzehnten überholt? Seit jeher eher peinlich? Nicht für Benny. »Was geht, Bro!?« war noch harmlos. »Bitte, gib mir die Shisha. Shishasheesh!« war schon schwieriger zu handhaben. Ich hab immer gehofft, dass keiner mithört. Aber morgens waren immer schon genügend andere Auszubildende im Raum.
Einmal kam ich in die Klasse, da hat Benny sich vor mir aufgebaut, eine pseudolässige Rap-Körperhaltung eingenommen und mit ernster Miene und seinem Straßenslang gesagt: »Abrakadabra, dreimal schwarzer Kater!«
Ich hab mich nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Ich hab sogar noch gelacht, als Benny den Gag nach der vierten Stunde zum bestimmt zwanzigsten Mal wiederholt hat. Es kommt mir so vor, als hätte ich damals eine ganze Woche lang durchgelacht.
Die Flüssigkeit verschwindet in meiner Vene. Tropfen für Tropfen. Cortison. Hoch dosiert. Die einzige Chance, einen Tinnitus medikamentös zu bekämpfen.
Ich darf mich nicht auf das Piepen konzentrieren, sonst wird es lauter. Ich kann mir gut vorstellen, wie manche Menschen wegen dieses Dauerlärms durchdrehen und versuchen, diesen Ton irgendwie zum Schweigen zu bringen. Fenster auf, Autolärm rein. Wie sie sich als letzten Ausweg einen spitzen Bleistift ins Trommelfell rammen.
Die Hals-Nasen-Ohren-Praxis hatte einen Termin frei, ein anderer Patient hatte abgesagt. »Sie können sofort vorbeikommen.« Jetzt habe ich es Schwarz auf Weiß. Beziehungsweise Blau auf Hellrosa. Das Ergebnis des Hörtests. Eine Kurve, ausgedruckt, auf meinen Knien.
»Sehen Sie«, hat der Arzt erläutert, »bei der zweithöchsten Frequenz fällt die Zacke steil nach unten. Bei beiden Ohren. Hier sorgt Ihr Tinnitus dafür, dass Sie den eingespielten Ton verzögert wahrnehmen. Die Frequenz ist besetzt. Durch den Tinnitus. Stellen Sie sich das vor wie mit Ihren lieben Mitmenschen im letzten Urlaub. Der Tinnitus hat sich die Liege am Pool bereits morgens mit einem Handtuch reserviert. Befestigt mit einer Klammer. Kennen Sie die, diese überdimensionierten Wäscheklammern? Damit bloß keiner wagt, das Handtuch beiseitezuschieben.«
Mein Tinnitus hat reserviert, mit Klammer. Ist gekommen, um zu bleiben. Jeden Tag muss ich nun eine einstündige Infusion bekommen. Eine ganze Woche lang.
»Jetzt gucken Sie nicht so unglücklich!«, fuhr der Arzt fort. »Keiner will Cortison. Und, ja, hoch dosiert kann es Stimmungsschwankungen hervorrufen. Vielleicht auch Bluthochdruck. Und: ein Mondgesicht. Kein Scherz. Manche schwemmen auf. Besonders im Gesicht. Aber das soll Sie jetzt nicht beunruhigen. Sie sind ja noch jung. Und es ist Ihre einzige Chance. Gut, dass Sie das jetzt in Angriff genommen haben.«
Was für ein Glück, dass das mit dem Termin so schnell geklappt hat. Wahrscheinlich bin ich der einzige Kassenpatient auf dem Planeten, dem es je gelungen ist, einen Facharzttermin noch am selben Tag zu bekommen.
»Aber soll ich Ihnen mal was sagen?«, hat der Arzt nachgesetzt und keine Antwort abgewartet. »Eigentlich kommen Sie zu spät. Am besten fängt man mit der Therapie ganz früh an. Warum kommen Sie erst jetzt, Monate später?«
Ich hätte mit meinen Arbeitszeiten argumentieren können. Dass Zwölf-Stunden-Schichten einfach einiges unmöglich machen. Dass ich in letzter Zeit so müde bin und mich kaum noch freiwillig aus dem Haus schleppe. Aber ich hab einfach nichts gesagt. Zu anstrengend.
»Na ja, wir versuchen unser Glück«, hat der Arzt gemeint und mir auf die Schulter geklopft. Dann hat er mich zurück zur Anmeldung geschickt, ich habe meine EC -Karte über den Tresen gereicht und meine PIN ins Gerät getippt. Tschüss zweihundertfünfzig Euro. Erst dann hat die Arzthelferin meine Vene punktiert. Und jetzt lieg ich hier.
Wie soll ich das jetzt eigentlich schaffen, eine Woche lang jeden Tag für eine Stunde diese Prozedur über mich ergehen zu lassen? In der Arztpraxis. Ich kann mich deswegen doch nicht krankschreiben lassen. Nicht nach dem heftigen Einsatz gestern. Das würde viel zu viele Fragen aufwerfen. Das würde ja so aussehen, als hätte ich den nicht verkraftet. Abrakadabra, dreimal schwarzer Kater. Benny. Scheiße, Benny. Den habe ich ganz vergessen anzurufen.