DARUM
Benny geht nicht ran. Ich schreibe ihm eine Nachricht. Bin jetzt erreichbar. Ruf einfach an. Und lass meine Augen in Ruhe.
Keine Häkchen. Ungewöhnlich, normalerweise antwortet er direkt. Woher er die Zeit dafür hat, erklärt sich, wenn man Bennys Arbeitgeber kennt. Benny fährt auch im Rettungsdienst. Aber für die Feuerwehr. Die eine Hälfte der Arbeitszeit ist er für den Rettungsdienst zuständig, die andere für den Brandschutz. Und da seit der Erfindung der Rauchmelder selbst in Großstädten relativ selten ein Großbrand ausbricht, hat Benny mehr Zeit, mit seinem Smartphone zu spielen.
Ich bin trotzdem alles andere als neidisch. Ich will keine Brände löschen. Feuerwehrmann sein ist für mich keine Option.
Zum Abendbrot schnippele ich mir einen Salat. Blätter, Tomaten, Mozzarella, Dosenmais. Die Gurke ist schrumpelig, sie landet im Müll. Marie hätte die vielleicht noch gegessen, aber sie ist nicht da. Mit einer Freundin verabredet.
Ich summe gegen den Tinnitus an. »Hatten Sie in der letzten Zeit vielleicht viel Stress?«, hat der Arzt gefragt.
Ich hab mit den Schultern gezuckt. »Nicht mehr als sonst.«
Am Rand der Schüssel klopfe ich den Schneebesen ab, dann gieße ich die Soße über den Salat und streue noch ein paar Kürbiskerne drüber.
Nicht mehr als sonst. Stimmt ja gar nicht. Bin viel gestresster als sonst. Nichts hat sich verändert, und doch fühlt sich alles anders an, beängstigend, bedrohlich. Auf einmal ist da diese Panik, wie beim Metalhead. Fuck, warum habe ich mir nur diesen Job ausgesucht? Wieso bin ich so blöd und tue mir das an?
Der Salat steht vor mir, aber ich mag nichts davon essen. Ich weiß es doch genau. Ich weiß, warum ich mir das antue. Ich habe mich bewusst dafür entschieden. Auch wenn das alles andere als nahelag und schwer zu erklären ist. Wenn Kollegen fragen, erzähle ich meist irgendeinen Bullshit.
Meine Lieblingsantwort ist: »Ich hab mich schon immer für Medizin interessiert und hab das nach dem Abi eigentlich studieren wollen – wenn mein anderer Job nicht dazwischengekommen wäre.« Was für ein herrlicher Quatsch.
Ich wusste damals überhaupt nicht, was ich machen sollte. Und auf keinen Fall wollte ich Medizin studieren. Ich hatte panische Angst vor medizinischen Eingriffen. Allein wenn mir Blut abgenommen wurde, musste ich mich fürchterlich konzentrieren, damit mir nicht schwarz vor Augen wurde. Ich hasse das Gefühl, wenn ich merke, wie mir das Blut langsam aus der Vene gesaugt wird. Ich bilde mir ein, ein lautes schmatzendes Saugen zu hören. So widerlich.
Ich bin nach wie vor froh, dass ich bisher noch nie eine größere OP über mich ergehen lassen musste. Die Mandeln wurden mir entfernt, da war ich sieben. Das reicht mir an OP -Erfahrung völlig aus. Ich hab mich damals wie E. T. gefühlt. Kurz davor, von Regierungsschergen bei lebendigem Leibe aufgeschnitten und seziert zu werden. Nach und nach entfernen sie die einzelnen Organe, und E. T. muss dabei zusehen. Das ist mein persönliches alternatives Ende von E. T. Und so ausgeliefert habe ich mich damals auf dem Operationstisch gefühlt. Vermummte Gestalten drückten mir eine Maske aufs Gesicht und befahlen mir, rückwärts zu zählen: zehn … neun … acht … sieben … und dann fielen mir die Augen zu. Und als ich erwachte, hatte ich höllische Schmerzen im Rachen. Ich konnte nicht mehr schlucken, ohne das Gesicht zu verziehen, ich fühlte mich misshandelt. Ich wollte nur noch raus aus dem Krankenhaus.
Ein Jahr später hatten wir Schulfest, wir tobten im Klassenzimmer, und ich wollte allen zeigen, wie groß ich bin. Dass ich schon die Decke berühren kann. Auf Zehenspitzen, die Arme gereckt, unter mir ein Stuhl, der auf einem Tisch stand. Hab die Decke nicht erreicht – und dann das Gleichgewicht verloren. Unterarmbruch.
In der Notaufnahme waren zwar alle nett zu mir, aber ich hatte ein Problem, das mich wahnsinnig machte: Es dauerte alles viel zu lang. Seit Wochen hatte ich mich auf den Abend gefreut. Im Fernsehen lief Dumbo , und meine Eltern hatten mir nach langem Quengeln erlaubt, den Film zu gucken. Obwohl er erst um 20.15 Uhr anfing und obwohl es unter der Woche war.
Und da saß ich, in der Notaufnahme, und es war 20.35 Uhr, und alle Erwachsenen hatten die Ruhe weg. Sogar meine Eltern auf der Heimfahrt, obwohl sie doch um die Brisanz der Lage wussten. Als wir zu Hause waren, konnte ich noch die letzten fünfzehn Minuten sehen. Was für eine Enttäuschung. Ich fand das schlimmer als den Bruch.
Ich erinnere mich auch noch, wie meine Großtante im Sterben lag. Da war ich elf Jahre alt. Meine Eltern mussten mich regelrecht zu ihr schleifen. Ich wollte die Tante zwar sehen, aber ich wollte nicht ins Krankenhaus.
Dann stand ich an ihrem Bett und sah ihr aufgequollenes Gesicht. In ihrem Hals steckte ein Schlauch, und die Geräte piepten, als gäbe es gleich eine Sprengstoffdetonation.
Nein, Krankenhäuser waren alles andere als positiv besetzt für mich. Ich hätte niemals Medizin studiert, damals, nach dem Abi. Ich habe einen bequemeren Weg gewählt.
Da gab es diesen Kumpel, der war ein paar Jahre älter und arbeitete in einer Werbeagentur. Ein kleines Start-up, das schnell wuchs und dringend Manpower benötigte. Dort jobbte ich nachmittags, schon in der Schulzeit. Einen Besseren hätten sie nicht finden können. Wenn ich will, kann ich Leute ganz gut überzeugen und sie für etwas begeistern, das sie eigentlich gar nicht interessiert. Ich lernte, pointierte Texte zu schreiben, Websites zu bauen, und ich war gut. Die Seiten wurden geklickt.
Das lief parallel zur Oberstufe. Meine Eltern haben immer aufs Geld geachtet, wollten nie viel von dem ausgeben, was sie sich hart erarbeitet hatten. Und auf einmal konnte ich mir Dinge leisten, die meine Klassenkameraden nicht hatten. Eine Videokamera, einen größeren Fernseher, eine Spielekonsole, das erste eigene Auto, selbst gekauft. Und natürlich: Reisen. Mit dem Skateboard im Gepäck nach New York. Das war immer mein Traum. Nach dem Abi hab ich ihn mir erfüllt.
Dann bekam ich das Angebot, bei einem großen Hamburger Unternehmen einzusteigen. Quer einzusteigen. Bei einer angesagten Klamottenmarke als Junior Assistant Product Content Manager. Oder so ähnlich. Die Titel wechselten jährlich. Der Job war aufregend, die Bezahlung unverschämt, und ich habe oft in mich hineingegrinst, dass ich mich ohne Ausbildung und Studium so weit hochgearbeitet hatte.
Nach ein paar Jahren allerdings kamen erste Zweifel: Was mache ich hier eigentlich? Ist es das, wofür es sich zu leben lohnt? Immer nur Werbung? Braucht das irgendjemand? Mach ich das jetzt noch dreißig Jahre bis zur Rente, und dann sterbe ich? Und ist es mir eigentlich völlig egal, wo, von wem und unter welchen Bedingungen diese Klamotten hergestellt werden?
Mit den Jahren wurden die Fragen quälender. Ich konnte sie nicht länger ignorieren. Ich brauchte einen radikalen Schnitt. Ich wollte einen Beruf, der das genaue Gegenteil von dem war, was ich bisher gemacht hatte. Ich wollte mutig sein. Verwegen. Ich wollte, dass meine Kollegen mich für völlig bescheuert erklären. Ich wollte einen Job, der keine oberflächliche Scheiße propagiert. Ich wollte Inhalt. Inneren Halt. Erfüllung. Wert. Nichts, aber auch gar nichts gesellschaftlich Wichtiges hatte ich bis dahin geschaffen. Was wäre passiert, wenn mich ein Verrückter auf offener Straße erschossen hätte? Mein Leben wäre wertlos gewesen. Eine leere Hülle, die in sich zusammenfällt.
Das war der Zustand vor meiner Ausbildung zum Notfallsanitäter. Bevor ich alles zurück auf null gesetzt hab. Diesmal wollte ich nicht den bequemen Weg, ich wollte den steinigen. Ein langes Medizinstudium kam mit Anfang dreißig nicht mehr infrage. Aber eine Ausbildung. Also habe ich quasi auf dem Absatz kehrtgemacht und bin in die andere Richtung gelaufen. Meiner großen Angst entgegen. Als Auszubildender musste ich in den drei Jahren allein siebenhundertzwanzig Stunden im Krankenhaus arbeiten. Besonders viele davon im OP . Guten Tag, Angst. Hier bin ich.
Aber meine Furcht ging über Krankenhäuser hinaus. Sie war wie eine dieser russischen Matroschkapuppen. Wenn ich eine Holzfigur öffnete, dann fand ich darin eine kleinere Figur. Einen Mann mit schwarzem Kapuzenmantel und Sense. Des Pudels Kern. Den Tod persönlich. Ich hatte eine Scheißangst vor dem Tod.
Das war nicht immer so. Als Kind hatte ich ein Lieblingsbuch. Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren. Krümel und Jonathan sterben beide am Anfang des Buchs. Jonathan opfert sich, um seinen Bruder zu retten, und Krümel stirbt nach schwerer Krankheit. Beide landen in Nangijala, einem magischen Ort, den man nur durch den Tod erreichen kann. Dort lebt es sich wie in einem Märchen. Und man kann der sein, der man immer sein wollte. Stark. Mutig. Schön.
Als ich klein war, glaubte ich an Nangijala. Ich glaubte, dass dieser Ort existiert. Dass man nach dem Tod dorthin kommt. Meine Mutter, die auch auf eine Art Paradies vertraute, ließ mich in dem Glauben. Sie wollte ihrem Jungen nicht unnötig Angst machen. Für mich war der Tod also nichts Schlimmes. Im Gegenteil, der Tod war nur der Übergang. Der Übergang in etwas Besseres.
Eines Tages, als Grundschüler mit vielen Fragen, die mir keiner beantworten konnte, kam die Erkenntnis: Nangijala gibt es nicht. Es gibt nur den Tod und danach nichts. Jedenfalls nichts, das man wissenschaftlich belegen kann. Das Sterben an sich bleibt zwar ein Übergang, allerdings ein Übergang ins Nirgendwo.
Ich war nicht wütend, als ich die Wahrheit realisierte. Ich bekam Angst. Eine Angst, die ich vorher nicht gekannt hatte. Und ich war tieftraurig.
Das trug ich in mir, bis die Idee mit dem Rettungsdienst kam. Natürlich. Natürlich! Es musste der Rettungsdienst sein. Ich würde verhindern können, dass die Leute ins Nichts fielen. Ich würde den Menschen helfen dazubleiben. Im Leben.
Dafür bin ich jetzt zuständig. Der Tod ist mein Endgegner, und den gilt es auszutricksen. Ist das Idealismus? Oder Selbstaufopferung? Vielleicht sogar Selbstzerstörung? Für mich ist es jedenfalls genau richtig. Ich habe mich gefunden. Ich habe mich meinen Ängsten gestellt und gewonnen. So sehe ich das.
Aber diese vollständige Version erzähle ich niemandem, die kennt auch Benny nicht. Die kennt noch nicht mal Marie. Diese Antwort kenne nur ich. Die Antwort auf die Frage: »Warum?« Oder, in voller Länge: »Warum zur Hölle fängst du mit über dreißig noch mal eine Ausbildung an? Und warum willst du ausgerechnet im Rettungsdienst arbeiten, da verdienst du doch überhaupt keine Kohle?« Darum.