MARIE
»Du kümmerst dich um überhaupt nichts mehr. Wann hast du zum letzten Mal die Wäsche gewaschen? Oder die Spülmaschine ausgeräumt? Wann hast du das letzte Mal eingekauft?« Marie sieht mich herausfordernd an. Es sind immer die Kleinigkeiten, die einen Sturm entfachen. Erst ging es nur darum, wer die Einkaufstaschen auspackt, die Marie mit nach Hause gebracht hat. Hätte ich es doch einfach gemacht.
Ich gucke zu Boden, sage nichts.
»Das geht so nicht mehr, Kim. Ich hab da keinen Bock mehr drauf. Das ist jetzt wieder genauso wie während der Ausbildung. Ich spiele aber nicht mehr die verständnisvolle Frau an deiner Seite. Das hab ich gern getan über all die Zeit. Ich hab dir gerne den Rücken freigehalten, dich gerne unterstützt, wo ich nur konnte. Aber das ist jetzt vorbei.« Marie ist aufgewühlt, aber sie spricht ganz ruhig. Das macht die Worte umso schärfer.
»Ich find’s unfair, Kim. Das haben wir anders abgemacht. Du hast es mir versprochen. Ich arbeite auch den ganzen Tag und will mich danach nicht nur um deinen Scheiß kümmern. Und vielleicht geht’s mir auch mal schlecht. Oder gut. Was auch immer, dich scheint’s ja nicht zu interessieren!« Sie atmet tief durch. »Am Ende geht es immer nur um dich. Um deine Pläne. Deine Träume. Dein Ego.«
Wie kann ich es ihr nur erklären? Sie hat ja recht. Ich kümmere mich nicht. Nicht um sie, nicht um unser Zuhause. Aber das hat nichts mit unserer Beziehung zu tun. Das hat nichts mit ihr zu tun und auch nichts mit meinem Ego. Im Gegenteil. Ich komme einfach mit mir selbst nicht richtig klar. Ich bin so oft einfach nur fertig, sodass ich keine Energie mehr hab.
Ich habe so sehr für meinen Traum gekämpft, und meine Kollegen schaffen das doch auch! Wieso sollte ich es nicht schaffen? Das ist doch keine Geschichte des Scheiterns. Das ist die Geschichte vom Glück.
»Manchmal weiß ich gar nicht, was du denkst. Was du fühlst. Ob du überhaupt etwas fühlst. Du bist einfach nur kalt. Zu dir selbst und besonders zu mir.« Ganz leise fragt sie: »Liebst du mich überhaupt noch?«
Ich stehe auf, gehe zu ihr und nehme Marie fest in den Arm. Sie fängt an zu weinen. Ich versuche es auch. Es klappt nicht.
»So, so sehr«, sage ich und drücke sie noch fester an mich. »Hab Vertrauen in uns. Ich mach gerade irgendwie ’ne harte Zeit durch.«
Marie flüstert: »Dann sprich mit mir. Sag mir, warum das gerade eine harte Zeit ist. Erklär mir, warum ich das Gefühl habe, dass du gar nicht da bist, obwohl du neben mir stehst. Wenn ich weiß, was los ist, dann habe ich doch auch Verständnis.«
Ich löse meinen Griff, halte sie an den Schultern, blicke ihr ernst ins Gesicht. »Eine nicht ausgeleerte Spülmaschine wird uns nicht entzweien.«
Marie fängt an zu lachen: »Aber bei einer nicht ausgeleerten Spül- und Waschmaschine wird es schon kritisch.« Dann verschwindet ihr Lächeln. »Wir müssen was ändern.«
Ich umarme sie wieder. Wir stehen in der Küche, und ich lasse sie lange nicht los. Ich will sie niemals verlieren. Sie ist mein Fels. Sie ist diejenige, die all die Dinge ausgleicht, die ich auf der Arbeit erlebe. Jedes Mal, wenn ich todkranke Menschen sehe, denke ich: Ich muss meine Zeit mit ihr noch besser nutzen. Ich muss intensiver leben. Aber den Gedanken habe ich oft wieder vergessen, wenn die Schicht sich dem Ende zuneigt.
Ich habe Marie auf einer Weihnachtsfeier im Krankenhaus kennengelernt. Ausgerechnet auf einer Weihnachtsfeier. Sie war als Physiotherapeutin angestellt, ich war der Azubi, der seine allerersten Stunden gesammelt hat.
In einer Ecke des Raums stand ein mit weißem Glitzer besprühter Plastiktannenbaum, an den Wänden blinkten Lichterketten. Das Büfett war leer, die Tanzfläche voll. »All I want for Christmas is youuuu«, schmetterte Mariah Carey. »U-u-u-uh, Baby!«, grölten die Kollegen.
Die Leute um uns gesellten sich nach und nach zu anderen Grüppchen. Wir standen zu zweit neben der Plastiktanne. Endlich allein mit der Frau, die den ganzen Abend gelächelt hatte, sobald sich
unsere Blicke trafen.
Sie verschränkte die Arme und nickte mir zu: »Wieso bist du als Azubi so alt?«
»Das ist eine lange Geschichte«, warnte ich und erzählte ihr eine einigermaßen ehrliche Version.
»Wow«, sagte sie. »Das könnte ich nicht.«
»Warum nicht? Jeder kann das. Man muss es nur wollen. Und dann auch machen.«
»Ja, aber selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht. Ich bin so froh, irgendwo angekommen zu sein. Nicht mehr die Auszubildende zu sein, die Anfängerin. Ich bin froh, dass mir mein Job liegt und ich gut darin bin. Dass ich die Kollegen und Kolleginnen kenne und dass ich weiß, wie der Hase läuft. Das gibt einem ja auch einen gewissen Halt, eine Sicherheit. Noch mal von vorne anzufangen fände ich den absoluten Horror.« Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Also, du hast meinen größten Respekt.«
Ich verbeugte mich leicht, sie grinste.
»Darf ich dich auch was fragen, Marie?«
»Immer. Alles.«
»Welche Musik hörst du?«
»Hip-Hop, Elektro, Jazz … – was Spotify so hergibt.«
»Gitarre?«
»Ich hasse Gitarrenmusik!«, strahlte sie.
Nicht ihr Ernst. Dich krieg ich, dachte ich.
Zwei Monate später ist sie bei mir eingezogen.
Marie nimmt ein Bad, und ich sitze am Küchentisch und spiele mit Krümeln, die ich eigentlich wegwischen wollte.
Vier Jahre sind wir jetzt zusammen. Nicht ein einziges Mal haben wir übers Heiraten oder Kinderkriegen gesprochen. Wir sind beide Mitte dreißig, und viele befreundete Paare produzieren schon eifrig Nachwuchs. Ich war mittlerweile auf fünf Hochzeiten. Wieso ist das kein Thema bei uns? Beziehungsweise: kein Thema für Marie?
Ich gebe nichts auf verlogene Zeremonien und Schwüre auf alle Ewigkeit. Nichts ist sicher. Das erlebe ich jeden Tag. Also geht auch jeder Schwur im Kern komplett am wahren Leben vorbei.
Und ein Kind? Das passt zurzeit gar nicht rein. Wie soll ich Vater
sein, wenn ich nicht mal ein guter Partner bin? O Gott, außerdem hieße das ja noch weniger Schlaf.
Nein, alles Blödsinn. Dafür ist noch Zeit. Und wenn der richtige Zeitpunkt da ist, dann greifen wir auch zu.
Aber vielleicht will Marie ja, dass ich sie »frage«. Und wartet. Oder sie denkt wie ich, vertraut darauf, dass der passende Moment kommen wird. Soll die biologische Uhr doch ticken. Bei mir piept’s eh so laut, ich hör sie nicht.
Ich stapfe durch den Garten, stoppe, drehe mich um. Hinter mir ist Benny. Was macht der denn hier?
Diesen Hintereingang hab ich schon mal gesehen. Schlüpfe durch die Terrassentür. Wie das stinkt. Eine Fifty-fifty-Mische aus ranziger Wurst und einer seit Monaten nicht geleerten Biotonne. Mein Mund füllt sich mit Speichel. Ekelhaft.
Auf dem Sofa sitzt eine Frau. Vor ihr eine halb leere Wodkaflasche. Was sind das für bunte Pillen auf dem Beistelltisch? Und ist das eine Spritze? Die Frau ist verdammt ungepflegt. Dreckige Bluse, die Haare wie von Krusty dem Clown. Mitte dreißig. Mein Alter. Sie sagt etwas. Hört sich an wie ein Reim.
»Benny, verstehst du das?«, frage ich.
»Sei still! Sie rappt.«
Plötzlich steht der Nachbar neben uns. »Nach oben«, sagt er.
Angst durchzuckt mich. Ich zeige auf die Frau: »Ist das nicht unsere Patientin?«
Er antwortet nicht. Benny und ich gehen Richtung Treppe.
»Scheiße. Alles voller Scheiße. Und ich bin voll reingetreten«, beschwert sich Benny.
Ich bekomme kaum Luft. Es stinkt bestialisch. Ich versuche, durch den Mund zu atmen. Langsam ein – und aus. Es surrt um meinen Kopf. Ich atme ein, tief, tief ein. Fliegen. Habe Fliegen eingeatmet! Viele Fliegen! Ich versuche, sie auszuspucken. Huste. Kräftig. Kräftiger. Würge. Übergebe mich. Ich kotze alles voll. Der Strahl hört gar nicht auf. Egal. Ich lasse es raus.
Dann ein Schrei. Ich drehe mich um und kotze Benny mitten ins Gesicht. Nicht nur Benny schreit. Alle schreien, auch der Nachbar und die Frau. Sie schreit so hoch, so schrill und laut, dass mein
Trommelfell platzt. Blut läuft mir aus den Ohren.