SCHLECHTER SCHERZ
Epistaxis lese ich auf der Einsatzmeldung. Ich starte den RTW , schalte das Blaulicht an. Los geht’s. So schnell ich es verantworten kann. Lieber komme ich dreißig Sekunden später an als gar nicht. Vor meiner ersten Blaulichtfahrt hat mein Ausbilder mir Videos von verunfallten Rettungswagen gezeigt. Minutenlang. Die meisten lagen auf der Seite, die Scheiben zersplittert, die Karosserie verformt. Einer war frontal in eine Hauswand gerast. Aus einem anderen wurden Leichen gezogen. Diese Bilder wirken. Auf keinen Fall will ich als mahnendes Beispiel für jeden neuen Ausbildungsjahrgang herhalten müssen!
Unsere Einsatzstelle liegt in einem ruhigen Wohnviertel. Leere Straßen, gepflegte Vorgärten. Malte schnallt sich den schweren Rucksack auf den Rücken und nimmt die Absauge. Ich trage das Sauerstoffgerät und den C3 , unsere Wunderanalysewaffe – Defibrillator, EKG , Blutdruckmesser und Pulsoxymeter in einem. Ein älterer Herr öffnet uns die Haustür. Ihm steckt ein Papiertaschentuch in der Nase. Er sieht aus wie ein alter Kapitän. Kapitän mit Taschentuch.
»Ach, da sind Sie ja schon!«, begrüßt er uns. »Kommen Sie doch erst einmal rein. Darf ich Ihnen was anbieten? Ich hätte Früchtetee für Sie.«
»Nein, vielen Dank«, sage ich. Laut und deutlich, freundlich, aber bestimmt. Typisch Rettungsdienst. Wir folgen dem Mann in die Stube. Eine Standuhr tickt. In den Fenstern und Regalen stehen Buddelschiffe in allen Größen und Formen. Die Flaschen glänzen, in ihnen blähen sich die Segel filigraner Windjammer.
»Wie können wir Ihnen helfen?«, frage ich.
»Ach, wissen Sie«, erklärt der Kapitän. »Ich habe gepopelt, und dann hat es geblutet. Na, da habe ich es mit der Angst zu tun bekommen.«
Malte und ich blicken uns an. »Wie viel Blut ist denn rausgekommen?«, will ich wissen. Nach einer dramatischen Epistaxis, also Nasenbluten, sieht es mir nicht aus.
»Ach, nur ein paar Tropfen. Direkt nach dem Anruf hat es aufgehört.«
Nicht sein Ernst. »Ich fasse das noch mal zusammen: Sie haben gepopelt, es hat ein bisschen geblutet, und da haben Sie die 112 gewählt, die Nummer für Notfälle.« Ich betone jedes Wort, besonders das letzte. Doch den Subtext versteht der Mann offenbar nicht. »Und warum haben Sie, nachdem es dann wieder aufgehört hat zu bluten, nicht noch einmal angerufen und den Rettungsdienst abbestellt?« Ich habe große Mühe, ruhig zu bleiben.
»Na ja, man weiß ja nie«, sagt unser Patient, der kein Patient ist.
»Bitte machen Sie das nie wieder. Wir sind für Notfälle da, nicht für Popel.« Ich mache auf dem Absatz kehrt.
»Sollten wir nicht … vorsichtshalber … einen Blick in die Nase …?«, setzt Malte an. Dann zuckt er mit den Schultern und wendet sich an den Mann. »Wenn jetzt ein richtiger Notfall passiert, kann unser Wagen nicht alarmiert werden. Deswegen ist mein Kollege so erregt.«
»Oh … also …«, höre ich den Kapitän noch stottern, bevor ich aus der Haustür bin.
»Was war das denn für ein Kack? Das war doch echt ’n schlechter Scherz!« Ich bin so richtig in Fahrt. »Das kann doch wohl nicht sein, dass ich für so einen Shit rausfahren muss! Stell dir mal vor, um die Ecke wäre jetzt ein Unfall. Unser Wagen wäre blockiert. Und das nur wegen eines popelnden Seebären! Wir sind doch kein Serviceunternehmen, wir sind der Rettungsdienst! Ich würde dem Typen gerne mal ’ne richtig schöne Rechnung schreiben. Dann würde er uns nicht mehr so schnell rufen!« Das tut gut. Hab Wachleiter Carsten im Ohr: »Neunzig Prozent Scheiße.« Trotzdem regt mich jeder einzelne unnötige Einsatz auf.
Ich tröste mich mit der Aussicht auf heute Abend. Da sehe ich endlich Benny wieder.
Benny ist wieder früher da als ich. Wir umarmen uns.
»Teampartner«, sage ich.
»Teampartner«, erwidert Benny.
Ich vergesse, dass ich ihn zuerst nach seiner Mutter fragen wollte, es sprudelt nur so aus mir heraus. Die Geschichte mit dem Popel, ein Sinnbild für den ganzen Müll, wegen dem wir täglich rausfahren müssen. Benny regt sich mit mir über den Seebären auf, dabei geht es im Grunde gar nicht um den armen Mann. Der hatte ja einfach nur Angst, wusste das bisschen Nasenbluten nicht einzuschätzen. Aber er muss herhalten für so viele Einsätze, die wir uns hätten sparen können. Für all die Harnwegsinfekte, Brechdurchfälle, Rücken-, Bauch-, Ohren- und Zahnschmerzen und Schnupfnasen. Diese Einsätze sorgen dafür, dass wir uns mehr und mehr wie Taxifahrer vorkommen. Sie sind Ursache für unseren tiefen Frust.
»Selbst wenn der Typ unbedingt am späten Nachmittag wegen seiner Popelei einen Arzt sehen will, warum geht er dann nicht zu seinem Hausarzt? Er hat doch zwei funktionierende Beine! Oder er ruft sich ein Taxi!«, schnaube ich.
Benny winkt ab: »Ach, der könnte auch den ärztlichen Bereitschaftsdienst rufen. 116 117. Diese Nummer muss sich doch inzwischen rumgesprochen haben.«
»Oder noch besser: Warum schaltet er nicht seinen gesunden Menschenverstand ein und wartet einfach noch ein bisschen ab, ob er wirklich Hilfe braucht? Ich glaube echt, die Leute nehmen uns nicht für voll.« Ich trinke einen Schluck Bier. Schön kühl.
Dann fasse ich mir ein Herz. »Und, wie geht’s dem Taxiunternehmer Benny, wie geht es deiner Mutter?« Bitte lass den kleinen Klaus Kinski nicht wieder auftauchen.
»Es geht. Den Umzug hab ich geschafft, das ging echt schnell mit dieser Firma, im Grunde war’s nur der Samstag. Gestern hab ich ausgepackt. Die Bude ist nice. Bin froh, dass ich nicht mehr in dieser engen WG hocke.« Benny wischt sich die Hände an den Oberschenkeln ab. »Und meiner Mutter geht es den Umständen entsprechend. War jetzt ja die erste Chemo. Nimmt sie derbe mit. Sie ist ganz verändert. Aber irgendwie wird sie das durchziehen.« Er schaut an mir vorbei, wohin auch immer.
Es ist seltsam. Wir haben es fast täglich mit Krebsfällen zu tun. Wir unterhalten uns auch darüber, ganz offen. Ein normales Arbeitsgesprächsthema. Aber wenn wir dann plötzlich selbst betroffen sind, wird es schwierig. Dann fehlt die Distanz. Dann sitzt der Krebs daneben und lacht uns dreckig ins Gesicht. Wir werden sprachlos. Hilflos. Verdammter Dreckskrebs.
»Ich war heute mit ihr einkaufen«, fährt Benny fort. »Wir haben eine Perücke für sie ausgesucht.«
Wie furchtbar. Ich sehe mich mit meiner Mutter im Perückenladen stehen, während sie ein Modell nach dem anderen anprobiert. Keine Perücke ist die richtige. Mama wirkt immer fremd.
Früher, als Kind, hab ich das geliebt. Im Kostümladen stöbern, vor Karneval. Meine Eltern beobachteten mich aus den Augenwinkeln, ließen mir die freie Auswahl. Nur die teuren Modelle waren ausgeschlossen. Ich griff zu, und schon war ich der, der ich schon immer sein wollte. Batman, Spiderman, Robin Hood. Binnen Sekunden ein Superheld. Wegen einer Krebserkrankung eine Verkleidung zu kaufen muss das exakte Gegenteil dieses Glücks sein.
»Habt ihr was Passendes gefunden?«, frage ich.
»Ja, wir haben eine genommen, die ihrer jetzigen Frisur recht nahekommt. Vielleicht fallen ihr die Haare ja auch gar nicht aus. Aber sie möchte vorbereitet sein.« Benny trinkt, schluckt und sieht mir direkt ins Gesicht. »Ich wollte nur noch mal sagen, dass unser Abend letzte Woche echt groß war. Ich will mehr davon.«
»Können wir gerne machen«, lache ich. Allzu oft krankmelden können wir uns allerdings nicht. Außerdem hat die Nacht ordentlich Kraft gekostet. Kraft, die ich eigentlich nicht hab.
Benny lehnt sich zurück. »Und, wie geht’s dir so?«
Ich weiß nicht so recht, was ich antworten soll. Welches Fass will ich aufmachen? »Ach, ich hab gerade wieder ’n bisschen Stress mit Marie. Sie wirft mir vor, dass ich zu wenig zu Hause mithelfe und immer nur an mich denke.«
»Wie, du hast dich mit Marie gestritten? Redet ihr wieder? Wohnt die etwa wieder bei dir?«, fragt Benny aufgeregt.
Ich verstehe nicht ganz. »Wieso sollten wir nicht reden? Und ja, Benny, wir wohnen zusammen, seit vier Jahren. Schön, dass du das auch mal mitbekommst.« Ich grinse verunsichert und schüttele den Kopf.
»Alter, was stimmt nicht mit dir? Ich weiß nicht, welches Spiel du da treibst, aber ich find es nicht lustig«, entgegnet Benny.
Ich begreife es nicht. Warum reagiert er so aggro?
»Sorry, Kim, aber vor einem halben Jahr hast du mir erzählt, dass du nicht mehr mit Marie zusammen bist. Dass sie ausgezogen ist und wieder bei ihren Eltern wohnt.«
»Das soll ich gesagt haben? Warum?«
»Weil es so war? Kim … ich habe sie seitdem auch nicht mehr bei dir gesehen.«
»Das ist ein Scherz, oder?« Panik steigt hoch.
»Nein, Kim. Das ist kein Scherz. Ich schwöre bei meiner Mutter. Okay?«
Ich sehe mich von oben. Sehe, wie ich Benny gegenübersitze. Ich versuche, etwas zu sagen, bekomme die Wörter aber nicht in die richtige Reihenfolge. Ich schließe die Augen und höre für einen Moment nichts mehr. Keinen Fiepton. Keinen Herzschlag. Nichts.
Sitze bei Benny im Wagen. Geballte Sprachlosigkeit auf fünf Kilometern.
»Kim, du solltest dich wirklich mal ausschlafen«, rät er mir, bevor ich aussteige.
»Ja. Und danke.« Meine Stimmbänder sind nicht in der Lage, mehr hervorzubringen.
Die Haustür kracht hinter mir ins Schloss. Vor mir das prächtige Treppenhaus des Altbaus. Die Treppen schwingen sich hinauf bis in unseren fünften Stock. In meinen fünften Stock. Ich lasse das Licht aus und nehme Stufe für Stufe. Ruhige, bewusste Bewegungen im Mondlicht.
Komm klar. Bleib ruhig. Atme. Ruhig. Keine Aufregung. Nur nicht in Panik geraten. Am liebsten würde ich losrasen und immer zwei Stufen auf einmal nehmen bis nach oben, Tür auf, und dann die Erleichterung: War alles nur ein schlechter Scherz, eine groß angelegte Verschwörung, ein finsterer Traum. Solche Träume hatte ich doch in letzter Zeit öfter.
Aber ich bleibe ruhig. Stufe für Stufe. Benny hat die Wahrheit gesagt. Es gibt keine Erlösung da oben.
Ich muss fummeln, bis der Schlüssel endlich ins Türschloss gleitet, die Hände zittern. Ich lasse die Tür hinter mir zufallen und lehne mich dagegen. Es ist dunkel. Höre meinen Atem. Ruhig. Bleib ruhig. Riecht es hier nicht nach Marie?
Mein Herz macht einen Sprung, ich ziehe nicht mal die Schuhe aus und bin in zwei, drei Sätzen im Bad, Licht an, und – eine Zahnbürste. Meine Zahnbürste.
Panik.
Was ist das hier für eine kranke Scheiße? Was ist los mit dir? Wie VERRÜCKT bist du denn? H. P. Kinski ist zurück. Du Psycho!
Ich kann es mir nicht erklären. Sie war da. Sie war da!
Du hast sie dir eingebildet, du Schwachkopf! Hast wohl die Trennung nicht verkraftet, du armseliges Weichei! Einweisen sollte man dich!
Mein Herz rast, mein Atem auch. Und dann ist da diese Idee in meinem Kopf.
Nein, tu es nicht! Bist du bescheuert?!
Ich zücke mein Smartphone. 21.46 Uhr. Soll ich es riskieren?
Mach dich nicht lächerlich!
Ich wähle Maries Nummer.
Leg auf!
Es tutet. Dreimal. Scheiße, geh ran und gib mir die letzte Bestätigung. Das siebte Mal. Die Mailbox springt an.
LEG SOFORT AUF!!!
»Schade, leider niemand da. Nachrichten dürfen aber gerne hinterlassen werden.« Piep. Maries Stimme. Wie lange habe ich sie nicht mehr gehört? Ich lege auf.
Zu spät, du Idiot.
Ja, zu spät. Jetzt wird sie nicht nur sehen, dass ich angerufen habe. Sie wird auch noch eine Sprachnachricht bekommen, in der drei Sekunden lang nur mein schwerer Atem zu hören ist. Wie peinlich.
Geradezu lächerlich!
Ich wäre gern mutig gewesen. Hätte ich doch nur ausgesprochen, was ich denke. Warum hast du mich verlassen? Mehr nicht. Wäre das nicht die richtige Nachricht gewesen? Warum hast du mich verlassen, Marie?