TAG 1
Benny hat nicht lockergelassen. Hat drauf bestanden.
Ich hole dich ab, und dann fahren wir ans Meer. Von Donnerstag bis Sonntag. Mehrere Nachrichten, immer der gleiche Inhalt. Das Meer ruft. Donnerstag geht’s los. I’m your ride. In immer kürzeren Abständen. C’mon, Bruda! Wahrscheinlich will er nur klären, ob er mich nicht doch noch einweisen sollte. Auch Benny wirkte ganz schön verstört, als er mich über Maries Abwesenheit aufklärte.
Marie. Ich vermisse Marie. Vermisse ihre Ruhe und ihre Lebensfreude. Ich habe ihr nicht genug Zeit gewidmet. Hab sie zu wenig unterstützt, war übertrieben mit mir selbst beschäftigt. Aber reicht das aus, um einfach so zu verschwinden? Mich einsam in der Wohnung zurückzulassen? So fühle ich mich: einsam. Wenn ich fix und fertig nach Hause komme, ist keiner da, der mich zumindest wieder ein bisschen aufbaut. Keiner da, der sagt: Das, was du gerade erlebt hast, kommt nicht mit in diese Wohnung.
Ich habe jetzt nur noch Benny. Und Benny hat einen Plan. Er will weg mit mir, weg von Krankheit und Tod. Zumindest vier Tage lang.
Keine Ahnung, ob das ein guter Plan ist, aber es ist ein Plan. Und so habe ich in die Kollegen-WhatsApp-Gruppe geschrieben, dass ich die nächsten vier Tage dringend frei brauche, aus »familiären Gründen«. Das war der einzige Joker, den ich hatte. Die einzige Möglichkeit, ohne Krankschreibung freizubekommen, obwohl ich fest im Dienstplan stehe. Aus »familiären Gründen«. »Dringend«. Das klingt nach: Papa ist tot. Und genau deshalb hat es funktioniert.
Innerhalb von zwei Stunden war ich meine Schichten los. Die Kollegen erwarten allerdings, dass ich ihnen in den nächsten Wochen auch einmal eine Schicht abnehme. Wie ich das genau hinkriegen soll, darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Ich fühle mich gerade etwas schmutzig, weil ich meine Kollegen getäuscht habe. Und gleichzeitig den Tod meines Vaters vorweggenommen habe.
Aber so stehe ich jetzt mit einem ziemlich großen Hartschalenkoffer bei mir im Hausflur. Ich sehe aus, als ob ich für zwei Wochen geschäftlich nach Neuseeland fliege. Aber was soll ich machen? Ich hab sonst nur eine kleine Tasche, in die nicht mal eine dickere Jacke und eine zweite Hose passen. Deshalb habe ich nur zwei Modelle zur Auswahl: Bleibe ich nur eine Nacht, greife ich zur Tasche. Bleibe ich länger, muss der große Koffer ran.
Ob das mit Benny überhaupt funktioniert? Wir sind noch nie zusammen verreist. Wir haben mal beieinander übernachtet, aber nie länger als eine Nacht. Die kleine Tasche hat immer gereicht. Diesmal definitiv nicht. Hab jede Menge warme Sachen dabei. Denn wir fahren wohl nicht ans Mittelmeer. Nordsee, Ostsee, da kann es jetzt schon rau sein. Der Herbst greift um sich. Jeder Tag ein Stückchen kürzer und kälter. Ich hasse die Kälte.
Ping. Bin da. Komm raus. Ich stecke mein Smartphone ein und schließe die Wohnungstür ab. Greife den Koffer und blicke nicht zurück. Ich hab nicht mal meine »Arschlochrunde« gemacht. Ein letztes Mal checken, ob alle Fenster zu sind, ob der Herd auch wirklich ausgeschaltet ist. Soll die Bude doch abfackeln. Vielleicht kann ich die Erinnerungen auch so löschen. Ich kann mir nicht merken, dich zu vergessen. Seit Tagen geistert das Zitat aus Memento in meinem Kopf herum.
Benny sitzt in seinem alten Polo und lacht über mein »Handgepäck«, das ich versuche in den Kofferraum zu schieben.
»Du weißt schon, dass wir nicht drei Monate weg sind? Oder ziehst du um?«
»Sag mir lieber, wo genau wir eigentlich hinfahren«, stöhne ich. Der Koffer passt gerade so, aber Bennys Sporttasche muss jetzt auf die Rückbank.
»Wirst schon sehen, Teampartner, wirst schon sehen. Ich war mir übrigens nicht sicher, ob du wirklich hier auftauchst«, sagt Benny.
»Ich auch nicht.« Ich lasse mich auf den Beifahrersitz plumpsen.
Benny nimmt die A1 Richtung Bremen. Es geht also nicht zur Ostsee.
»Entspann dich, Teampartner. Wir haben Zeit.«
Eines muss man Benny lassen: Er hat sich gut vorbereitet. Auch auf Sprachlosigkeit. Er erwartet nicht, dass wir stundenlang angeregt quatschen. Dafür sind wir nicht die Typen. Im Gegenteil. Also hat er eine zehn Stunden lange Playlist erstellt. Gerade läuft Californication von den Red Hot Chili Peppers.
Ich blicke hoch in den grauen Himmel. Nichts sieht hier nach Kalifornien aus. Egal. Ich lasse den Sitz nach hinten rucken und strecke die Beine aus. Selbst auf dieser trostlosen Autobahn, vor uns und hinter uns Sattelschlepper, fühle ich eine Freiheit und Weite, als könnte ich wieder atmen.
Ich stelle die Musik leiser. »Benny, warum machen wir das hier eigentlich?«
»Weil ich das Gefühl habe, dass du das brauchst. Ich brauche es auf jeden Fall.«
Ich drehe den Lautstärkeregler wieder hoch. »Kein Probleeem. Keine Sorge, Mama, ganz normal, so wollt’ dein Sohn doch leben«, rappt Apache 207 aus den Boxen. So wollt’ dein Sohn doch leben. Fuck. Voll ins Schwarze. Freiheit und Weite ziehen sich zusammen, werden Enge und Angst, Kloß im Hals, H. P. Kinski im Kopf.
Von wegen kein Problem. Du bist das verdammte Problem. DU . Erst hast du deinen gut bezahlten Job aufgegeben. Freiwillig. Ohne Not. Ein Job, bei dem du nach Feierabend nicht völlig zerstört warst. Und dann verlierst du auch noch Marie. Die erste Frau, bei der du es ernst gemeint hast. Kümmerst dich nicht richtig um sie. Lässt sie einfach gehen. Jetzt hast du nichts mehr. Du bist ein Verlierer. Auf ganzer Linie. Du bist ein trauriger, im Selbstmitleid versinkender Pisser. Ein Pisser!
Pisser, denke ich und erzähle Benny in bunten Farben von dem Diabetiker, der vorletzte Nacht unseren Wagen vollgestrullert hat.
»Ich hol ihn jetzt raus!!!«, ruft Benny wieder und wieder, und jedes Mal prusten wir los.
Irgendwann fragt er dann doch. »Kim?«
»Anwesend.«
Benny dreht die Musik leise. »Wie kann es sein, dass du die Trennung mit Marie einfach vergessen hast?«
»Ich hab keine Ahnung.«
»Wie kann es sein, dass du gedacht hast, sie wohnt noch bei dir?«
Ich drehe mich abrupt zu ihm um. »Sie war da! In meinem Kopf war sie da! Ich weiß, es ist megapsycho. Es ist unfassbar verrückt, ich kann es mir nicht erklären. Ich muss es geträumt haben. Ich hab eh so verrückte Träume im Moment. Alles spielt verrückt! Mein ganzes Leben ist komisch geworden. Strange! Einfach strange.«
»Hast du dir mal überlegt …« Benny zögert. Ich weiß genau, was jetzt kommt. »Meinst du nicht, du solltest … mit einem Profi darüber sprechen?«
»Mit einem Psychologen? Ach! Warum? Ich weiß es doch jetzt. Ich weiß doch jetzt, dass sie nicht mehr da ist. Jetzt kann ich darüber nachdenken und es verarbeiten. Ich werde schon klarkommen. Ich bin schon immer klargekommen.«
»Hm.« Benny sagt nichts mehr.
Bei Leer, nach drei Stunden Fahrt, machen wir einen ersten Stopp.
»Wir müssen unbedingt noch mal tanken, die Preise in Holland sind pervers«, erklärt Benny. Aha. Holland. »Ich zahl die Hinfahrt, du die Rückfahrt. Okay? Wir machen immer fifty-fifty. Egal, was kommt.«
Egal, was kommt? Was hat der denn noch vor? Ich freue mich aber, dass wir Deutschland verlassen. Anderes Land, andere Sprache. Nichts finde ich im Urlaub schlimmer, als Gesprächen am Nebentisch zuhören zu müssen. All das dumme Zeug, das sich Menschen erzählen.
»Seid ihr Vergewaltiger, oder kann ich euch trauen?« Frauenstimme von hinten. Benny und ich, die Arme voller Knabbertüten aus dem Tankstellenshop, reagieren nicht.
»Keine Antwort ist auch eine Antwort. Könnt ihr mich mitnehmen? Ich bin Luzi«, stellt sich die Stimme vor. Ich drehe mich um. Sie muss so Ende zwanzig, Anfang dreißig sein. Einen Kopf kleiner als ich, lange braune Locken, Kapuzenpulli, vollgepackter Rucksack. Das Auffälligste: ihre Füße. Die sind nämlich nackt.
»Wo fahrt ihr hin?«, fragt Luzi. Benny geht rüber und flüstert ihr ins Ohr. »Nicht dein Ernst? Kein Scheiß? Wie geil, da will ich auch hin. Nehmt ihr mich mit? Ich kann auch nichts bezahlen.«
Benny lacht. Ich weiß nicht so recht.
»Ich muss mich mal kurz mit meinem Kumpel besprechen«, sagt Benny, wirft die Tüten ins Auto und zieht mich ein paar Meter weiter.
»Was meinste? Ich bin dafür, alles passieren zu lassen, was halt passiert.«
»Die erzählt doch nur Scheiß.« Ich lasse den Kopf hängen. »Außerdem dachte ich, dass soll unser Wochenende sein. Wir. Als Team.«
»Das bleibt es. Geht ja nur um die Hinfahrt, und dann sind wir die auch wieder los. Sie scheint ganz witzig zu sein.«
»Jemand, der sich offensichtlich selbst witzig findet, ist nicht witzig.« Ich bin immer noch nicht überzeugt. Luzi wird viel reden und Fragen stellen. Wo auch immer wir hinwollen: Der Weg wird sich doppelt so lang anfühlen. Aber ich will auch kein Spießer sein. »Okay, aber wir hören weiter deine Playlist.«
Benny nickt und winkt Luzi heran.
»Das werdet ihr nicht bereuen! Ich werde euch gut unterhalten«, zwitschert sie. Ich schließe die Augen.
»Ihr seid so richtige Retter? Krasser Scheiß. Das ist ein wichtiger Job! Und wie viele Tote habt ihr schon gesehen?« Luzi, neben Tasche und Tüten auf der Rückbank, lehnt sich nach vorne und streckt den Kopf zwischen unsere Sitze. Das Versprechen mit der Playlist hat Benny nicht lange gehalten. Sie dudelt kaum hörbar im Hintergrund.
Ich stöhne lautlos. Diese typischen Partyfragen: Was war dein heftigster Einsatz? Oh, ich könnte das aber nicht. Mit dem ganzen Blut. Wie kommst du damit klar? Werdet ihr nicht ständig angepöbelt und angegriffen? Sie alle stehen ganz oben in der Frage-einen-Retter-Top-Ten. Hat immer etwas von Fragebogen beantworten oder sich in ein Freundebuch aus der Grundschulzeit eintragen. Die ehrlichen Antworten will eh keiner hören. Dafür hat keiner die Geduld. Die Leute wollen Schlagworte, die sie in ihrer vorgefertigten Meinung bestätigen. Dass manche Einsätze überhaupt nicht blutig sind und trotzdem belasten, kann man für sich behalten.
»Also, wie viele Tote? Führt ihr da Buch drüber?« Luzi ist hartnäckig.
»Nein«, antworte ich.
Benny ist die Freundlichkeit in Person. »Das wär ein ganz schön dickes Buch. Und es gibt einen Spruch im Rettungsdienst: Den ersten Toten vergisst du nie.«
Da liegt er. Ein alter Mann, bäuchlings, auf dem Boden. Vor dem Sofa im Wohnzimmer. Die Leichenstarre hat schon eingesetzt. Er ist übersät mit Leichenflecken. Seine Haut in blau-grauem Karo gemustert, sein rechter Arm ausgestreckt. Offensichtlich hatte er noch versucht, den Notruf zu wählen. Das Telefon liegt neben seiner Hand. Nur ein paar Zentimeter entfernt. Als habe er es greifen wollen, aber sosehr er sich auch streckte, er kam einfach nicht ran. Dann hat der Tod ihn erwischt. Ich berühre den kalten Körper und versuche, den Puls zu tasten. Ist das ein Mensch oder nur noch eine Hülle? Wie die Hülle einer Schlange, die sich gehäutet hat. Ich fürchte mich nicht. Ich fühle nichts. Nur ein leichtes Frösteln. Gänsehaut.
»Arbeitslos? Nee«, empört sich Luzi. Benny grinst. »Ich bin hauptberufliche Aktivistin. Castor, Hambi, Extinction Rebellion … Ich bin vorne mit dabei. Einheit: ziviler Ungehorsam.«
»Und davon kann man leben?«, fragt Benny.
»Wir haben ein paar Unterstützer, die Geld spenden. Und das teilen wir auf. Als ich mal in den Knast kam, war der Aufschrei groß, und wir haben echt viele Leute dazu bekommen, uns zu supporten. Ich komm aber generell mit wenig klar. Ich habe es nie verstanden, dass die Menschen ihr Leben lang Dingen hinterherrennen, die sie gar nicht brauchen.«
»Du warst im Knast? Krass!« Benny wirkt schockiert und begeistert zugleich.
»Ja, Frauengefängnis. Zwei Monate, weil ich Atommülltransporte der Deutschen Bahn aufgehalten habe. Mein Arm war in so einer kleinen Betonpyramide mit den Bahnschienen verschweißt. Die haben Stunden gebraucht, mich loszuflexen. Ich hätte auch Tagessätze zahlen können, aber das habe ich so gar nicht eingesehen. Also bin ich rein. Und hab im Netz darüber berichtet. Hat echt große Wellen geschlagen.«
Ich sehe Luzi an. Wenn sie die Wahrheit sagt, dann hab ich gerade ein bisschen Respekt bekommen vor dieser kleinen Frau. Natürlich ist sie komplett verrückt, aber dass sich jemand so dem gängigen System verweigert und damit durchkommt, verdient Anerkennung.
»Und was ist das für ein Fetisch mit deinen Füßen?«, frage ich.
»Das ist kein Fetisch, ich brauche keine Schuhe. Ich mag es einfach, den Boden, auf dem ich laufe, zu spüren. Und ja, wenn es richtig kalt ist, trag ich auch Schuhe.«
»Und warum biste jetzt alleine unterwegs?«, will Benny wissen.
»Ich lebe in Bremen in einer großen WG . Musste mal da raus. Ich hab ja nichts, was mich hält. Die nächste geplante Aktion ist noch etwas hin. Vielleicht schreibe ich ein Buch über meine Erlebnisse, aber dafür brauche ich ein bisschen Ruhe«, antwortet Luzi.
Ruhe brauch ich jetzt auch. Zu viel Gequatsche. Ich drehe die Musik wieder lauter. Thees Uhlmann singt über das Laichen und Sterben der Lachse.
Landesgrenze. Benny hupt. Dieser Proll. Ich schäme mich ein bisschen.
Das ist ja die verrückteste Autobahn aller Zeiten. Ein Deich im Nichts. Dreißig Kilometer lang, sagt Benny. Trennt das IJsselmeer von der Nordsee. Links Wasser, rechts Böschung, dahinter Ozean. Haben eben Pause gemacht und unsere Nasen in den salzigen Wind gehalten.
Jetzt fahre ich. Höchstgeschwindigkeit hundertdreißig Kilometer pro Stunde. Wie angenehm. Keiner knallt von hinten heran.
Den Helder. Benny dirigiert mich zum Hafen. Das Verkehrsleitsystem hier ist auf ein Ziel ausgelegt. Man kann kaum anders, als auf dem Parkdeck der Fähre nach Texel zu landen. Texel. Da soll es also hingehen. Den Namen der Insel habe ich schon mal gehört. Benny übernimmt das Ticket für Luzi, sie ist gar nicht so redselig, wie ich erst dachte.
Möwen fliegen um unsere Köpfe. Wir stehen an der Reling. Zerzauste Haare, rote Wangen, unter uns die aufgewühlte Nordsee. Die dicke Jacke ist noch im Koffer, mir ist kalt, aber es ist zu schön, um reinzugehen.
Ein kleiner Junge füttert die Möwen mit Pommes. Hoffentlich scheißt mir keine auf den Kopf.
Wie grün diese Insel ist. Üppig und weit. Der Himmel riesig, ein Wolkenchaos. Immer wieder blitzt die Sonne durch, lässt die Farben leuchten. Erstaunlich, wie viele Töne es gibt zwischen Hellgrün und Dunkelbraun.
Benny fährt uns durch Dünen, Felder und kleine Dörfer. Ich sehe Horden von Schafen, windschiefe Büsche und Bäume. Den Kopf frei pusten lassen. Wenn, dann hier.
»Wo schlaft ihr eigentlich?«, fragt Luzi.
»Wo schläfst du eigentlich?«, murre ich.
Benny ignoriert mich. »Wir sind fast da. Da vorne, in den Dünen in einem kleinen Bungalowpark. Wenn man der Website glauben kann, gucken wir direkt aufs Meer.« Das letzte Geheimnis ist gelüftet.
»Wisst ihr was, lasst mich mal hier raus«, sagt Luzi plötzlich. Am Straßenrand das Schild eines Campingplatzes. Hinter einer Schranke sehen wir Zelte und Wohnwagen.
»Wie toll, dass wir uns getroffen haben. Vielen Dank. Das war ein feiner Trip.« Luzi lächelt. Dann schnappt sie sich ihren Rucksack und winkt. Der Wind wirbelt ihre Locken wild durcheinander.
»Kannst dich ja mal blicken lassen!«, ruft Benny ihr hinterher.
»Aah! Sie sind der Brandwehrmann, der für drei Nächte gebucht hat!«
»Äh, ja, also, eigentlich sind wir vor allem Notfallsanitäter, also, Rettungsdienstler.« Benny scheint etwas überrumpelt zu sein.
Das Gesicht des älteren Herrn an der Rezeption hellt sich auf: »Ambulanzdoktor? Das ist schön! Das kann man immer gut gebrauchen. Herzlich willkommen auf Texel und im kleinen Hütthotel! Ich bin der Johan.«
Er spricht Deutsch mit niederländischem Akzent, das hört sich lieb und lustig an. Unschuldig. Selbst ein Todesurteil würde so irgendwie schön klingen. Johan ist braun gebrannt. Schulterlange schwarzgraue Haare, an den Spitzen gebleicht von Sonne und Meer. Ein Blitzen in den freundlichen Augen. Gleichzeitig alt und jung geblieben. Garantiert ein Surfer.
Woher weiß er das mit der Feuerwehr? Wahrscheinlich hat Benny seine dienstliche Mailadresse angegeben. Feuerwehr Hamburg. Kommt immer gut.
Die Sonne geht unter. Ihr rotgoldenes Licht flutet den Bungalow. Die Hütte ist extrem spartanisch eingerichtet und klein. Zwei Betten mit Holzrahmen, ein Holzregal, eine Duschecke direkt neben der Toilette, eine Nachtspeicherheizung, an der man nicht drehen kann. Sie ist an, aber mir ist jetzt schon zu kalt.
Der Ausblick aufs Meer ist dafür umwerfend. Über unsere Terrasse und eine große Düne hinweg kann man es sehen. Ich ahne die peitschenden Wellen. Naturgewalt. Selbst vom Klo aus kann ich das Panorama genießen. Sehr originell.
»Ey, machste mal die Tür zu?«, raunzt Benny mich an. »WG -Regel Nummer eins!«
Wir drücken die große Glasschiebetür zur Terrasse beiseite und dann schnell wieder zu. Es ist zu windig. Ich setze mich auf die Heizung.
Aus einem kleinen Seitenfenster kann ich ein paar der anderen Hütten sehen. In einigen brennt Licht. Ganz hinten, beim Parkplatz, steht das Haus mit Rezeption und Frühstücksraum plus Bar wie eingekuschelt in die Dünen.
Mein Koffer liegt auf dem Bett. Ich weiß nicht, wohin damit. Das Ding steht überall im Weg. Ich stelle ihn neben das Klo in die Dusche.
Benny kommt und legt den Arm um meine Schulter. »Warum schiebst du ihn nicht unters Bett?«
Es klopft. Benny und ich schauen uns an. Sind gerade vom Essen und Strand zurück und haben es uns in Trainingshosen und dicken Socken bequem gemacht.
Hoffentlich nicht Luzi. Benny springt auf. Offenbar hat er auch an Luzi gedacht, seinem enttäuschten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, als er die Tür öffnet. Ein Mann steht im Dunkeln vor unserer Hütte, unser Alter, aufgeregt.
»Sind Sie der Notarzt?«, fragt er. Ein Deutscher.
»Äh, nein. Also, ja. Notfallsanitäter. Mein Freund hier auch.«
»Ich brauche Ihre Hilfe. Können Sie mitkommen? Es geht um meine Frau«, sagt der Mann.
Benny und ich sind sofort im Alarmmodus. Jetzt verfolgt uns der Job schon bis in den Urlaub.
Wir streifen Sneakers und Jacken über und folgen dem Mann in die Nachbarhütte. Auf dem Doppelbett liegt eine Frau, hochschwanger. Neben ihr, auf dem Laken, ist ein großer nasser Fleck.
»Meine Fruchtblase ist geplatzt«, sagt sie entschuldigend. Die Frau stellt sich als Elif vor. Ihr Mann heißt Jakob. Die beiden wollten sich noch einen kurzen Urlaub gönnen, einen »Babymoon« – was für ein Kackwort –, bevor das zweite Kind kommt. Das erste ist bei Oma und Opa. Ein letztes Mal Erholung, ein letztes Durchatmen vor dem großen Ereignis. Sie sind schon seit ein paar Tagen da und wollten Anfang nächster Woche zurück. Dann hätten sie noch drei Wochen bis zum errechneten Geburtstermin gehabt. Die Rechnung ist nicht aufgegangen.
»Verdammt, Liebling, ich habe doch gesagt, dass das Risiko viel zu groß ist«, jammert Elif.
»Haben Sie Wehen?«, frage ich.
»Ja.«
»In welchem Abstand?«, fragt Benny.
»Etwa alle zehn Minuten oder so«, antwortet Elif. »Wir haben das eben gestoppt.«
Ruhig bleiben. Wir haben alle Zeit der Welt. Geburten dauern Stunden. »Haben Sie den Rettungsdienst gerufen?«
»Natürlich. Deshalb war ich ja an der Rezeption«, sagt Jakob. »Aber die haben hier auf der Insel nicht so viele Wagen. Alle sind unterwegs. Zwei sogar auf der Fähre Richtung Den Helder. Da ist das nächste Krankenhaus. Es gibt wohl noch eine Hebamme, aber auch die ist im Einsatz. Der Helikopter vom Festland kann bei dem Wind nicht fliegen, deshalb hat der Typ mich zu euch geschickt.«
Elif stöhnt auf und konzentriert sich, ruhig zu atmen. Krampfhaft. Panisch.
Ich schaue auf die Uhr. Entscheidend ist jetzt der Abstand zwischen den Wehen. Ich hatte noch nie einen Geburtseinsatz, Benny auch nicht. Besonders wäre es schon. Ich hab die Kollegen im Ohr, noch Tage später völlig euphorisiert: das winzige Wesen, das Glück in den Gesichtern der Eltern. Doch das holländische Rettungsteam trifft sicherlich gleich ein. Und dann geht es in die Klinik aufs Festland. Und wir sind raus.
Jakob hat sich zu seiner Frau aufs Bett gesetzt, streicht ihr eine feuchte Strähne aus dem Gesicht. Abrupt dreht er sich zu uns um: »Wenn es jetzt hart auf hart kommt, können Sie uns doch helfen, oder?« Ein Flehen in der Stimme. Was soll ich darauf antworten? Theoretisch ja?
»Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird nicht so weit kommen«, sagt Benny.
Elif stöhnt wieder auf. Erneut eine Wehe. Blick auf die Uhr. Okay. Wir haben doch nicht alle Zeit der Welt. So eine verfickte Scheiße.
»Sechs Minuten«, sage ich laut. Jetzt ist auch Benny klar, dass wir uns auf den Ernstfall vorbereiten müssen.
»Wir brauchen saubere Handtücher. So viele wie möglich!«, ruft er.
Jakob verschwindet hinter der Badtür und kommt mit drei kleinen Tüchern zurück.
»Das reicht nicht. Frag schnell bei der Rezeption!«
Benny stopft Elif Kissen in den Rücken, damit sie sich etwas aufrichten kann. Sie atmet schwer. Jakob kommt zurück. Wir breiten einige der Handtücher auf dem Bett aus. Jakob hilft Elif aus der Unterhose. Sie schiebt ihr langes Schlafhemd über den riesigen Bauch und stellt ihre Knie aufrecht. Offenbar vertraut sie uns.
»Wir brauchen noch eine Schere zum Abnabeln. Und vielleicht ein bisschen Schnur zum Abbinden«, sagt Benny.
Jakob eilt wieder los. Elif stöhnt heftig auf. Ich blicke wieder auf die Uhr. Fünf Minuten. Fucking hell. Warum bin ich jetzt hier? Warum musste Benny ausgerechnet hier ein Zimmer buchen? Bin überfordert. Wir haben all das, was wir im Notfall brauchen, nicht bei uns. Keinen venösen Zugang plus Infusionslösung für die Mutter. Keinen Beatmungsbeutel für das Kind. Keine Absauge. Keinen Sauerstoff. So kann man doch nicht arbeiten!
Benny funktioniert. Er ist am Waschbecken, seift seine Hände ein, spült die Klingen der Schere ab, legt die anderen Handtücher parat. Dann geht er neben Elif in die Hocke und redet ruhig auf sie ein. Es gelingt ihr jetzt etwas besser, die Wehen »wegzuatmen«.
Jakob hat sich zu Elif aufs Bett gesetzt und massiert ihre Schultern. Sie lehnt ihren Kopf gegen seinen Arm. Ich taste nach der Heizung hinter mir. Lauwarm.
Es klopft. Der Surfer von der Rezeption steckt den Kopf herein und fragt, ob wir noch etwas brauchen.
»Ja, einen Rettungswagen«, sage ich.
»Ich habe gerade mit denen gesprochen. In fünfundzwanzig Minuten sind sie da.«
Das wird knapp. Verdammt knapp. Wenn die Wehen im Abstand von unter zwei Minuten kommen, wird das Kind hier geboren, in dieser Hütte. Egal, ob der Rettungswagen da ist oder nicht.
»Wir brauchen es auf jeden Fall wärmer«, sage ich. »Könnten Sie die Heizung aufdrehen? Oder haben Sie vielleicht eine mobile Heizung?«
»Kann ich besorgen«, sagt Johan. Im Gehen dreht er sich noch einmal um: »Wissen Sie, wenn das Baby hier geboren wird, dann ist es ein echter Texelaner. Deshalb rufen viele auf der Insel den Rettungswagen zu spät oder gar nicht, weil sie genau das wollen. Ein Texel-Kind. Das ist was ganz Besonderes hier.« Jakob und Elif lächeln pflichtschuldig. Die haben gerade andere Sorgen.
»Gab es in der Schwangerschaft Komplikationen?«, fragt Benny.
»Nein«, antwortet Elif matt.
»Liegt das Kind in Schädellage?«
»Ja«, stöhnt sie. Die nächste Wehe kommt. Drei Minuten Abstand.
Johan poltert mit einer tragbaren Elektroheizung herein. Auch die Nachtspeicherheizung wird heißer. Ich ziehe meine Jacke aus, lege sie zu Bennys auf einen Stuhl und wasche mir ebenfalls die Hände. Passiert das grade, oder träume ich? Wird das jetzt unsere erste Geburt? Werde ich gleich funktionieren? Bin so langsam und Benny so cool.
»Erinnerst du dich noch? Gleich kannst du die Wehen nicht mehr wegatmen«, erklärt er Elif. »Gleich setzen die Presswehen ein. Dann drück mit. Und sei dabei so laut du willst.«
»Darauf kannst du dich gefasst machen.«
Plötzlich kommt die erste Presswehe. Elif schreit. Krass laut. Was müssen das für unglaubliche Schmerzen sein. Ich schlüpfe aus den Schuhen und knie mich vor ihr aufs Bett. Mache, was ich in der Theorie gelernt habe: einen Dammschutz. Drücke meine gespreizte Hand zwischen ihre Scheide und den Anus, versuche zu verhindern, dass Elifs Damm einreißt. Noch eine Wehe. Elif schreit wie am Spieß. Gott, ich sehe das Köpfchen. Sehe einzelne dunkle Haare auf dem Kopf des Säuglings.
»Noch ein bisschen. Gleich ist der Kopf draußen«, ruft Benny. Die nächste Wehe. Ich drücke gegen den Damm. Dann kommt der Kopf, Gesicht nach unten. Er gleitet in meine Hand, ich halte ihn ganz vorsichtig, damit er nicht abknickt. Keine Nabelschnur um den Hals.
»Gut. Sehr gut, Elif.« Ich unterstütze die leichte Drehung, die der Kopf jetzt macht. Nun müssen die Schultern raus. »Nur noch eine Wehe, Elif, nur noch eine.« Jetzt. Ich sehe erst die obere Schulter, dann die untere. Mit einem Schwall Blut und Fruchtwasser kommt mir das ganze Kind entgegen. Ich fange es auf und drehe es zu mir, und Benny schiebt weiche Handtücher unter.
Die Haut ist bläulich. Ist das normal oder schon akuter Sauerstoffmangel?
»Atme, Kind«, murmele ich.
Ich halte die Luft an. Der kleine Brustkorb hebt und senkt sich, regelmäßig und schnell. Ich atme aus. Wir reiben den Winzling trocken, wickeln ihn ein und legen ihn Elif auf den Bauch. Sie drückt das Kind an sich und betrachtet sein Gesicht.
»Hallo«, haucht sie. Tränen laufen ihr über die Wangen. Auch Jakob weint. Das Glück in den Gesichtern der Eltern, da ist es. Alles fällt von ihnen ab. Sie strahlen. Sie lieben.
Jakob lockert seinen Griff um Elifs Schultern, lehnt sich zu dem Baby, streicht über das winzige Näschen und legt seinen Zeigefinger in die Hand des Kindes. Es greift zu, es schmatzt. Bewegt zaghaft die Arme. Die Zeit steht still.
Dann blickt Jakob hoch: »Was ist es denn?«
Benny und ich schauen uns fragend an.
Elif hebt das Handtuch am Bauch des Kleinen. »Ein Mädchen!«, gluckst sie.
An der Fontanelle kontrolliert Benny den Pulsschlag. Zählt konzentriert für fünfzehn Sekunden. »Auf jeden Fall über hundert«, sagt er zufrieden. Er lächelt mich an. »Na, Teampartner?«
Es fühlt sich gut an. Nach Happy End.
»Wir können jetzt das Abnabeln versuchen«, schlägt Benny vor. Ich höre Stimmen draußen, es klopft, dann geht die Tür auf.
»Goedenavond!«, grüßt ein Sanitäter, und ein zweiter folgt ihm in die Hütte. Der Rettungsdienst ist da. Plus Notärztin.
»Na, dann lassen wir die Schere mal stecken!«, lache ich.
Um kurz nach zwei Uhr klopft es wieder an unserer Tür.
»Ich habe bei euch noch Licht gesehen«, sagt Jakob. »Ich wollte noch mal sagen, wie dankbar wir euch sind.«
»Alles gut«, meint Benny. »Ist ja unser Job.«
»Wir müssen nicht ins Krankenhaus und bleiben jetzt noch die restlichen Tage hier. Meine Mutter kommt mit unserem Sohn nach. Eine Hebamme wird uns versorgen«, erklärt Jakob und richtet sich auf. »Ein echtes Texelaner Mädchen. Ich hab gehört, das ist was ganz Besonderes«, zwinkert er.
Benny lacht.
»Wie heißt sie?«, frage ich.
»Marie«, antwortet Jakob, »Marie-Leona.«