TAG 2
Es ist viel zu früh. Liege im Dämmerlicht und lausche dem Konzert in meinem Ohr. Endloses metallisches Piepen. Lauter als sonst. Die Euphorie, die uns gestern noch lange wach gehalten hat, ist fort.
Ich schlüpfe unter der Decke hervor und schleiche ins Bad. Betrachte mein Gesicht im Spiegel. Bilde ich mir das ein oder bin ich runder geworden? Sehe ein bisschen so aus, als hätte man mir die Weisheitszähne gezogen. Die Folge von fünf Tagen hoch dosiertem Cortison. Geholfen hat das Scheißzeug nicht. Bin austherapiert. Unheilbar, ein hoffnungsloser Fall. Tinnitus mit Dauerkarte für den Liegestuhl am Pool.
»Konzentrieren Sie sich nicht allzu stark auf das Geräusch. Entspannen Sie sich lieber«, hat mir der HNO -Arzt geraten. Was bleibt mir anderes übrig? Entspannen Sie sich. Wie hilflos ist das denn?
Ich steige wieder ins Holzbett. Entspannen. Entspannen heißt atmen. Auf den Atem konzentrieren. Schon beim dritten Atemzug kommt mir Marie dazwischen.
»Ey Teampartner, du hast ja ’nen gesunden Schlaf!«
Ich hebe den Kopf und blinzele. Es ist taghell in unserer Hütte. Die Luft ist kühl und duftet nach Ozean.
»Ist dir eigentlich klar, dass wir jetzt zum ersten Mal wirklich Teampartner waren?« Benny scheint schon länger wach zu sein. Er ist frisch geduscht und angezogen. »Allein dafür hat sich der Trip doch schon gelohnt, oder?«
Ich drehe mich auf die Seite und kuschele den Kopf auf meinen Unterarm. »Und dann auch noch eine Geburt«, sage ich leise. Wir grinsen uns an. Ich gähne. »Bin echt fertig. Lass uns bitte heute kein wildes Programm machen.«
»Yep. Heute wird gechillt«, verkündet Benny. »Wenn du willst, kannst du Schafe kraulen. Viel mehr kann man hier eh nicht machen.« Er schiebt die Terrassentür ein Stückchen weiter auf und tritt nach draußen. Ein neuer Schwall Kälte kommt herein. Aus der Ferne höre ich das Rauschen der Wellen, sanft legt es sich über das Fiepen und verscheucht es vom Liegestuhl. Befreiend. Perfekt zum Einschlafen, wenn da nicht die Kälte wäre.
Es ist schon früher Nachmittag. Unter der Dusche drehe ich das Wasser so heiß wie möglich. Beim Abtrocknen fällt es mir auf. Es rumort in meinem Magen. Schmerzt regelrecht. Wahrscheinlich beginnt mein Körper gerade, sich selbst zu verdauen.
Bisher ist der Tag perfekt. Johan hat uns mit einem üppigen späten Frühstück überrascht – als Dank für unseren Einsatz gestern. Danach haben wir uns im Supermarkt des nächsten Orts mit Bier und Zwiebelbrot eingedeckt und uns in dicken Jacken an den Strand gelegt. Wenig geredet. Waren einfach da. Im Moment. Kein Psychoscheiß. Es ist jetzt eine unausgesprochene Regel. Benny darf mich nicht nach Marie fragen, und ich frage Benny nicht nach seiner Mutter. Nicht, dass das wirklich verboten ist, aber es ist unser Wochenende. Vier Tage frei sein von allem.
Zurück in der Hütte. Nicht mehr lang, bis die Sonne hinter der Düne im Meer versinkt.
Es klopft. Ich öffne die Tür und schaue in Luzis Lächeln. Sie trägt dieselben Sachen wie gestern. Und auch nicht. Ihre Füße sind immer noch nackt.
»Wir machen bei uns gleich ein kleines Feuer, und ich wollte fragen, ob ihr vorbeikommen wollt«, sagt sie.
Benny gesellt sich zu uns. »Na, wen haben wir denn da?«, freut er sich. Und blickt mich auffordernd an: »Wollen wir?«
»Ist das jetzt eine Frage oder ein Befehl?«, entgegne ich trocken. Schon wieder stört einer. Es geht doch um Benny und mich. Keiner hat was von einer Dreierkonstellation gesagt. Aber Luzi abzuwimmeln ist auch unangenehm. Benny wäre sicherlich enttäuscht, außerdem ist sie wirklich ganz witzig. »Aber nur, wenn es nicht so anstrengend wird wie die letzte Nacht!«, gebe ich mich geschlagen. Benny lacht.
»Warum? Was war denn letzte Nacht?«, fragt Luzi verwundert.
»Das heben wir uns fürs Lagerfeuer auf«, sagt Benny.
Wir spazieren rüber zum Campingplatz. Auch er liegt mitten in den Dünen. Geschützter als unsere Hütten, es ist nahezu windstill hier. Luzi führt uns zwischen Zelten und Wohnwagen bis an den Rand des Geländes. Dort sitzen zwei Männer an einem Lagerfeuer vor einem großen Camper. Sie scheinen mir etwas älter als ich, schulterlanges Haar, sportlich. Beide stehen von ihren Klappstühlen auf, als wir uns nähern.
»Das sind Andi und Chris«, erklärt Luzi. »Die beiden kommen aus Berlin und sind hier zum Kitesurfen. Sie haben mich aufgenommen. Ich darf in ihrem Zelt pennen.« Wir schütteln uns die Hände.
»Eigentlich ist das ja unser Versorgungszelt«, sagt Andi. »Aber da Luzi so nett gefragt hat, haben wir’s freigeräumt.«
»Und so viel zum Versorgen haben wir eh nicht mehr«, sagt Chris. Die beiden sind erstaunlich groß. Sie überragen selbst Benny.
»Luzi kam uns gerade recht«, fährt Chris fort. »Wir sind schon ein paar Wochen hier, da ist ein bisschen Abwechslung mit interessanten Leuten doch ganz schön.«
»Habt ihr so lange Urlaub?«, fragt Benny.
»Ich will es mal so sagen: Wir sind für eine Weile ausgestiegen. Mal ein bisschen runterkommen. Down to earth, Mutter Natur spüren. Waren echt busy vorher, aber jetzt arbeitet unser Geld für uns.« Er grinst. »Nächste Woche wollen wir nach Portugal.«
O nein. An welche Möchtegern-High-Society-Hippies sind wir denn hier geraten? Aufschneider, Labertaschen, schwer erträgliche Draufgänger. Ich verfluche Luzi, würde mich am liebsten umdrehen und gehen. Meinetwegen auch alleine. Stattdessen mache ich es mir auf dem freien Plastikstuhl am Feuer bequem, Benny und Luzi haben sich daneben auf eine Decke gesetzt.
»Wollt ihr was rauchen?« Andi hält uns einen Joint hin, und Luzi greift zu. Benny zieht nach ihr. Echt jetzt?
Chris kommt mit Gläsern aus dem Wohnmobil. »Moscow Mule. Wer möchte?«
Ich winke ab. Habe seit dem Nachmittag drei Biere getrunken. Das reicht. Mehr – und ich werde redselig. Noch mehr – und es wird unangenehm, für mich und meine Umwelt. Kontrollverlust. Manchmal gut, heute nicht. Will keine Gläser zertrümmern und die Scherben als Andenken in den Dünen zurücklassen.
»Und wir haben auch noch das im Angebot.« Chris holt ein kleines Metallkästchen hervor und öffnet es. Darin liegen bunte Papierquadrate. LSD -Pappen, bedruckt mit den rosa Elefanten aus Dumbo . Inzwischen habe ich den Film sogar ganz gesehen. Dumbo fällt in einen Wasserbottich voll Champagner und bekommt den Trip seines Lebens. Sieht lauter tanzende Elefanten.
Das ist ja noch mal eine ganz andere Art von Kontrollverlust. Keiner greift zu.
»Na, ihr könnt es euch ja noch überlegen«, lacht Chris. Er schließt die Box und legt sie auf das Tischchen zwischen uns.
»Und, wie viele Kinder und Frauen warten zu Hause auf euch?« Andi lehnt sich nach vorn, die Ellenbogen auf den Unterschenkeln.
Benny sieht mich an. »Keine«, antwortet er.
Meine Laune sinkt weiter. Hab keinen Bock auf das hier. Will weg. Sehne mich nach Marie. Sehe ihr Gesicht vor mir. Verschwommen. Traurig.
»Und was macht ihr so, wenn ihr nicht gerade auf dieser Insel gestrandet seid?«, bohrt Andi weiter.
»Rettungsdienst«, sagt Benny knapp. Er will genauso wenig drüber reden wie ich.
»Das ist ja krass! Und was war euer heftigster Einsatz bisher?«
Ich schließe die Augen. Nicht auch noch das.
Tu es! , zischt H. P. Kinski. Soll ich? Ja.
»Darf ich?« Ich warte die Antwort nicht ab und greife nach dem Metallkästchen. Lege einen rosa Elefanten auf meine Zunge. Das Plättchen löst sich auf. Auf Dumbo!
Ich rieche das Feuer, das Salz in der Luft, die Alkoholfahnen von Chris und Andi. Das Holz knackt in der Glut. Die Flammen winden und schlängeln sich in die Höhe. Tanzende Elefanten sehe ich nicht. Das Löschpapier hat gelogen. Da sitzen noch immer vier Menschen um mich herum. Links von mir Benny und Luzi. Rechts von mir Chris, gegenüber Andi. Ihre Haut ist gelb. Gelb vom Feuerschein. Gelb wie die Simpsons. Oder ein Emoji. Sie scheinen eine gute Zeit zu haben. Sie kichern und brabbeln. In welcher Sprache denn?
Ihre Gesichter leuchten. Dahinter ist Schwarz. Nichts ist zu sehen von den Dünen, vom Wohnmobil. Die Dunkelheit verschluckt alles. Kriecht überallhin. Breitet sich auch in mir aus. Ich bin ihr ausgeliefert, völlig wehrlos. Melancholie wird Verzweiflung. Mir kommen die Tränen. Endlich kann ich weinen. Weine leise. Lautlos. Die Tränen rinnen meine Wangen und den Hals hinab. Es macht mir nichts aus. Es fühlt sich gut an. Es fließt aus mir heraus, ich zerfließe. Löse mich auf, lasse mich gehen. Heule und schluchze. Ist doch egal, was die anderen denken. Will mich nicht mehr verstecken. Ich lasse es geschehen. Glücklich. Und tieftraurig.