METALHEAD
Ich stapfe durch den Garten. Der Nachbar kommt mir entgegen: »Hier hinten geht es rein, die Terrassentür ist auf.«
Wieso bin ich allein? Wo ist mein Kollege? Warum kommt der nicht hinterher? Ich ärgere mich. Man bleibt zusammen. Immer. Ein Team.
Es riecht abgestanden. Nee, es stinkt fürchterlich beißend. Ich stehe in der Halle einer Schlachtfabrik, Männer schneiden mit langen Messern hängende Schweinekörper kopfabwärts auf. Die Gedärme plumpsen heraus.
Eine Frau sitzt auf einem Sofa. Tattoos auf den Armen, Haare zerzaust. Sie lallt. Eindeutig angetrunken. Vielleicht noch mehr. Irgendwas liegt auf dem Beistelltisch, bedeckt von einem fleckigen Taschentuch.
Die Frau liest laut aus einem dicken Buch vor: »Der
HÄÄÄRR
ist mein
HIIRRRTTTE
.« Ansonsten nur Wortfetzen. Sie klappt es auf und zu und auf und zu.
Ich kenne dieses Haus und diese Scheißfliegen.
Die Frau weint laut, schluchzt.
Ich möchte nach oben. Ich muss nach oben. In den ersten Stock führt eine hölzerne Wendeltreppe. Den Weg dahin bedecken zahlreiche braune Häufchen. Ist das Scheiße?
Von oben ist nichts zu hören. Ich trete auf die erste Stufe, sie knarzt unter meinen stahlverstärkten Schuhen. Mich überkommt ein ungutes Gefühl. Das gefällt mir hier gar nicht. Ich sollte nicht alleine hochgehen. Trotzdem nehme ich die nächsten Stufen.
Vor mir eine Fratze. Der Nachbar. Entstellt. Sein Gesicht hat keine Haut mehr. Sehe nur blutiges Muskelfleisch. Ein Dämon! Ich schreie. Auch die Fratze reißt das Maul auf, aber es kommt kein Laut. Ein stummer Schrei aus der Unterwelt.
Das Kopfkissen ist durchgeschwitzt, das Laken auch. Ich hasse diesen
Albtraum. Er ist so intensiv. Die Drogenbude, diese schreckliche Frau, der schreckliche Nachbar, Scheißhaufen. Gestank. Und diese Treppe macht mir Angst. Da oben wartet nichts Gutes. Warum bin ich mir da so sicher? Es ist doch nur ein Traum. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal versuchen, es bis zum Ende der Treppe zu schaffen, mich der Angst zu stellen. So Wachtraum-Style.
Ich rolle mich zusammen. Fühle mich, als wäre ich eben in einen Abgrund gestürzt und hätte mir alle Knochen gebrochen. Eigentlich müsste ich noch mal versuchen einzuschlafen. Mir meine Texel-Erholung erhalten. Darf ich aber nicht. Es geht wieder los: 4.43 Uhr. In zwei Minuten schreit mein Wecker. Ich schwinge mich aus dem Bett, schiebe die Vorhänge beiseite und schaue in völlige Dunkelheit.
Viel zu viele Leute hier, sie stehen im Weg, verstopfen den Flur und den Aufenthaltsraum. Es ist Übergabe, sowohl die alte als auch die neue Schicht ist da.
Ich schlängele mich quer durch die Wache in die Küche und fange an, die Geschirrspülmaschine auszuräumen. Wenn ich mich nützlich mache, kann mich wenigstens keiner auffordern, mich nützlich zu machen.
Ich wäre gern allein mit mir und meinen Gedanken an Texel, mit dieser Ruhe, die noch in mir nachklingt. Ein Schatz, der zwischen den Fingern verrinnt, zermalmt von dieser Horde Menschen hier.
Immerhin, nur wenige Einsätze heute, ein Verdacht auf Gehirnerschütterung und ein Blinddarm. Wir haben Zeit zu kochen, aber klar, kaum steht die Reispfanne auf dem Tisch, gehen die Melder.
Der Anruf kam aus einer Sportsbar. Schlaganfall. Durchs Fenster sehe ich Flatscreens, auf denen Fußballspiele laufen. Warmer Zigarettendunst schlägt uns entgegen, wir drängen durch den Pulk zum Patienten. Um uns herum stehen ungefähr dreißig Leute und reden wild auf uns ein.
Ein Mann stellt sich als Sohn des Patienten vor: »Was machen Sie jetzt mit meinem Vater? Sie müssen mir alles erklären, sonst bekommen Sie meine Erlaubnis nicht.«
»Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Vater morgen nur noch sein Totenhemd verwetten kann, lassen Sie uns einfach mal arbeiten«,
raunzt Dennis.
Wir können allerdings nichts machen, weil zu viele Leute zu dicht am Patienten stehen. Wir können nicht mal unseren Rucksack, den C3
und die Sauerstoffflasche abstellen, so eng ist es. Das ist das Letzte, was ich heute brauche.
Dennis bleibt äußerlich ruhig. Laut und deutlich ruft er: »Sie müssen jetzt alle mindestens drei Schritte nach hinten gehen. Sonst können wir den Patienten nicht versorgen.«
Sie rücken einen kleinen Schritt zurück.
»Bitte mehr Abstand! Sie schaden sonst dem Patienten.« Wieder ein Stückchen mehr Platz. Jetzt können wir wenigstens die Geräte abstellen. Wir beginnen mit der Versorgung. Ich lege dem Mann eine Sauerstoffmaske an, Dennis versucht, einen Zugang zu stechen.
»Ist das wirklich nötig?«, fragt der Sohn.
Dennis setzt zur Antwort an, da rempelt ihn einer von hinten an. Er verfehlt die Vene. Blut quillt aus dem Handrücken des Patienten.
»Was machen Sie denn da? Wissen Sie überhaupt, was Sie tun? Wie lange arbeiten Sie denn schon in dem Job?«, ruft der Sohn.
Ich beobachte Dennis, innerlich explodiert der gerade, lässt sich aber nichts anmerken. Ich bewundere ihn dafür.
»Gehen Sie alle sofort einen Schritt zurück! Sonst muss ich die Polizei rufen«, sagt Dennis laut, aber völlig unaufgeregt.
Wieder treten sie einen kleinen Schritt nach hinten. Da stürzt ein junger Mann durch die Tür. Er arbeitet sich durch die Menschenmenge und kommt auf uns zu. Lederjacke, Muskeln, teure Uhr, Gel in den Haaren, die Seiten kahl rasiert.
»He! Sie!«, schimpft er. »Sie haben mich zugeparkt. Ich muss jetzt los. Fahren Sie Ihren Krankenwagen weg.«
Dennis ringt um Fassung: »Es geht hier gerade um Leben und Tod! Wir können den Rettungswagen nicht wegfahren.«
»Sie fahren jetzt sofort weg. Ich habe einen Termin. Ich muss los. Ich sage das nicht noch einmal!«, droht der Mann.
Jetzt schalten sich die Gaffer in die Diskussion ein. Die Situation scheint komplett zu entgleiten.
Dennis beugt sich zu mir. »Ruf die Polizei«, flüstert er.
Ich zwänge mich durch die Menge zurück Richtung Tür und funke die Leitstelle an: »Wir brauchen dringend polizeiliche Unterstützung.
Wir werden bedroht«, sage ich ins Funkgerät, leider etwas zu laut. Der junge Mann mit Gelfrisur ist mir gefolgt und baut sich vor mir auf.
»Wer wird bedroht? Ich bedrohe keinen. Und Sie rufen nicht die Polizei. Die Angelegenheit können wir so regeln.« Er schüttelt den Kopf. »Wie ein feiges Mädchen. Einfach die Bullen rufen.«
Ich rieche den Kaugummiatem des Mannes, so nah kommt er mir, kann aber nichts sagen. Habe Angst, dass jedes Wort die Situation weiter eskalieren lässt. Außerdem bin ich wütend. Richtig wütend. Ich habe hier einen Patienten, und den kann ich nicht versorgen. Warum ist dieser Typ so ein verdammter Egoist? Warum begreift er nicht, worum es hier gerade geht? Scheiß doch auf den Termin.
Ich höre Dennis, wie er die Leute in der Bar ein weiteres Mal auffordert zurückzutreten. Jetzt klingt er ungeduldig und zornig. Das geht hier alles gar nicht. Ich drehe mich wortlos um und schlüpfe zurück zu dem Patienten. Wir müssen jetzt zusammenbleiben. Die Minimalversorgung des Patienten aufrechterhalten. Es geht aber auch um Eigenschutz. Ich sehe mich schon in Notwehr das Sauerstoffgerät schwingen.
Auf einmal herrscht Unruhe um uns herum. Die Menge löst sich auf wundersame Weise auf. Auch von dem Geltypen ist nichts mehr zu sehen. Die Polizei ist da.
Endlich können Dennis und ich den Patienten angemessen versorgen. Wir haben sehr viel Zeit verloren.
Vor der Notaufnahme gönnen Dennis und ich uns eine Verschnaufpause. Er sieht aus, wie ich mich fühle: vollkommen erschöpft. Wir teilen uns einen Müsliriegel.
Plötzlich stupst er mich an. Jemand eilt auf uns zu, eine Notärztin. Ich kenne sie, aber mir fällt der Name nicht ein.
»Kim«, spricht sie mich an. »Erinnerst du dich? Wir haben kürzlich bei einem Verkehrsunfall zusammengearbeitet. Diese Reanimation auf der Straße.«
Natürlich, der Metalhead. An den hab ich gar nicht mehr gedacht. Wahrscheinlich haben wir ihm sein Lieblings-Metallica-Shirt zerschnitten. Viel zu jung für einen Herzinfarkt.
»Kim, Herr Liebold liegt hier immer noch auf Intensiv, aber ihm geht es wieder besser. Er kann kommunizieren und möchte dich
sehen«, erklärt die Notärztin.
Er kann kommunizieren. Er möchte mich sehen. Mir wird heiß.
»Er … er möchte mich sehen?«, stammele ich.
»Ja, das hat er seinem Pfleger mitgeteilt. Und der hat mir gesagt, dass der Patient diejenigen sehen möchte, die ihn gerettet haben. Ich war gestern schon kurz oben, und jetzt hab ich dich gerade gesehen und dachte, ich sag’s dir mal.«
»Ja, aber …«
»Fahr ruhig mal hoch und frag nach. Versuch dein Glück.«
Nie, wirklich noch nie, wollte mich ein Patient nach einem dramatischen Notfall persönlich kennenlernen. Einmal haben Kollegen einen Dankesbrief erhalten von einem, den sie Wochen vorher nach einer Verbrennung versorgt hatten. Aber sonst? Nichts. Dankbarkeit wird selten offen ausgesprochen. In der Regel ist ein Einsatz gut gelaufen, wenn es im Nachhinein keine Beschwerden gibt und der Wachleiter mich nicht zu sich zitieren muss.
Das ist ja auch in Ordnung. Ich will für meine Arbeit nicht abgefeiert werden. Mir ist es wichtig, dass ich dazu beitrage, dass der Patient überlebt. Das zählt. Wenn ich vom Krankenhaus eine Rückmeldung bekomme, spüre ich so etwas wie ein unsichtbares Schulterklopfen. Und eine tiefe Befriedigung. Hält leider nie lange an.
Warum also will mich der Metalhead jetzt sehen? Will er wirklich Danke sagen? Oder nachfragen, ob Fehler passiert sind? Vielleicht kann er sich auch an nichts mehr erinnern und möchte, dass ich ihm noch einmal den kompletten Ablauf des Geschehens erzähle.
Der RTW
steht noch auf Status 8. Das bedeutet: nicht einsatzbereit am Zielort. Eigentlich müssen wir das Material auffüllen und den Wagen desinfizieren. Das verschafft mir tatsächlich Zeit, kurz zu verschwinden.
»Mir egal. Ich krieg die Zeit schon rum«, brummt Dennis. Ich atme tief durch und mache mich auf den Weg. Die Fahrstuhltüren schließen sich, mir wird mulmig. Bei Einsätzen weiß ich zwar auch nie, was mich erwartet, aber da habe ich Geräte und Algorithmen, die für Ordnung und Struktur sorgen. Über ein Patientengespräch im Nachhinein haben wir in der Ausbildung nicht gesprochen. Darf ich ihm überhaupt etwas vom Einsatz berichten? Besteht da nicht die Gefahr, dass ich mich oder die Kollegen unnötigerweise juristisch belaste?
Die Fahrstuhltüren öffnen sich. Na gut, meine Neugier siegt. Ich klingele.
»Ja, bitte?«, scheppert es durch die Sprechanlage.
»Kim vom Rettungsdienst hier. Ich wollte Herrn Liebold besuchen, der hat nach mir gefragt«, sage ich deutlich in den Lautsprecher. Es surrt, die Tür klappt automatisch auf. Keiner kommt. Und jetzt?
»Hallo?«, rufe ich den langen weißen Gang hinunter. Links und rechts stehen die Türen halb offen. In den Zimmern liegen Patienten. Über etliche Schläuche und Kabel sind sie an die Gerätetürme um sie herum angeschlossen. Es piept und brummt, es zischt und blubbert. Sonst rührt sich nichts. Mithilfe von Spritzenpumpen bekommen sie viele Medikamente gleichzeitig verabreicht.
Nichts ist hier klar, kein Überleben gesichert. Das ist der Übergang, aber es gibt einen Weg zurück. Einen beschwerlichen. Viele Patienten auf dieser Station leiden unter einer schweren Sepsis, einer fehlgesteuerten Immunreaktion. Haben Entzündungsprozesse im ganzen Körper. Die Endstufe des Leidens. Äußerst schwer zu therapieren. Angehörige sitzen teilweise stundenlang schweigend am Bett und weinen. Hoffnung verzweifelt gesucht. Jedes Mikrogramm Noradrenalin weniger für den Patienten ist ein erfreulicher Fortschritt. Doch die Ärzte lassen sich nie festlegen. Nirgends bekommt man eine eindeutige Aussage über den Gesundheitszustand, weil eben nichts eindeutig ist. Es kann jederzeit kippen.
Diese Momente sind besonders hart. Wenn der Zustand des Patienten sich plötzlich verändert, verschlechtert, und Hoffnung in Verzweiflung abgleitet.
Wie bei diesem Mann während meiner Ausbildung. Er hatte morgens noch mit mir gescherzt, war erst vor wenigen Tagen operiert worden, Bauspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte hatten den Kopf der Drüse, den Zwölffingerdarm, die Gallenblase, Teile der Gallenwege und des Magens entfernt. In nur einer OP
. Ein Wunder, dass man trotz dieser unfreiwilligen Organspende überhaupt weiterleben kann. Völlig verrückt. Bauch auf. Alles raus. Bauch zu. Mensch lebt weiter. »Whipple«-OP
nennt man diese OP
offiziell. Whipple. Das klingt nach einem neuen Tanzstil. Eben noch Macarena und Zahnseide, beim nächsten Song bittet der Mallorca-DJ
alle Whipple-Styler auf die Tanzfläche.
Mein Whipple-Patient war ein älterer Mann mit weißen Augenbrauen, deren einzelne Härchen weit in den Himmel wuchsen und wie dünne Tentakel aussahen. Ein lustiger, liebevoller Kerl, der mit mir gerne mal über die hübschen Pflegerinnen schnackte.
»Die Hannah. Ist die noch zu haben? Meinst du, ich hätte eine Chance bei ihr?«, fragte er mich an dem besagten Morgen.
»Große Chancen«, stieg ich ein. »Soll ich beim schicksten Italiener der Stadt schon mal einen Tisch reservieren?« Wir mussten beide lachen.
Nachmittags hieß es, der Mann leide unter Verstopfung. Ich solle darauf achten, dass er seinen schwarzen Tee trinkt.
»Junge, der schmeckt scheußlich. Willst du nicht mittrinken?«
»Ich würd so gerne, ich muss aber leider los. Schichtwechsel. Bitte trinken Sie alles aus. Wir sehen uns morgen.«
Ich habe ihn gesehen, ja, aber wir sprachen nie wieder miteinander. Denn als ich am nächsten Morgen kam, war er auf dem Weg in den OP
. Er wurde noch einmal aufgeschnitten, weil seine Verstopfung nicht besser geworden ist. Die Ärzte wollten überprüfen, ob alles in Ordnung ist. Was sie sahen, überraschte selbst die Ausgebufftesten unter ihnen. Der Verdauungstrakt des Patienten war komplett schwarz. Ein schwarzer Dünndarm. Ein schwarzer Dickdarm. Alles abgestorben. Nichts war mehr durchblutet. Eine Folge der OP
. Sein Todesurteil. Der Mann hatte nur noch Stunden zu leben. Höchstens ein, zwei Tage.
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob man ihn nach der Untersuchungs-OP
nicht wieder hätte aufwecken sollen. Dann hätte man ihm die Todesnachricht ins Gesicht sagen müssen. Dass er nur noch wenige Stunden zu leben habe. Wäre das menschlicher gewesen? Oder einfach nur grausam? Er hätte noch einmal seine ganze Familie versammeln können, hätte sie alle ein letztes Mal umarmen können, ein letztes Mal mit Hannah flirten können. So schlief er einfach weiter. In seinen Tod hinein. Dabei hätte man ihn wenigstens kurz zurückholen können. Medizinisch wäre das möglich gewesen.
Jetzt war es zu spät. Der Kollege vom hausinternen Transport kam, und wir brachten den Whipple-Patienten zusammen in die Leichenhalle des Krankenhauses. Ein düsterer Raum. Viel enger als in Krimis. Der Kollege und ich und der leblose Körper auf der Metalltrage – für mehr war in dieser Kammer kein Platz. Dann öffnete
der Kollege eine Klappe und schob den Leichnam in das dahinterliegende Fach. Ich zitterte. Nicht vor Aufregung. Es war einfach saukalt dort.
Schritte reißen mich aus den Gedanken. Ein Pfleger kommt den langen weißen Gang der Intensivstation herunter auf mich zu.
»Du bist Kim? Du warst auch bei der Reanimation dabei? Herr Liebold ist gerade wach. Hier geht es lang.« Er führt mich ein paar Türen weiter, bleibt stehen, deutet in ein Zimmer.
Ich mache einen Schritt hinein. Wie in den anderen Räumen auch stehen Geräte und Spritzenpumpen neben dem Patientenbett. Im Bett der Metalhead, Herr Liebold. Er sitzt aufrecht, im weiß-blau gemusterten Krankenhaushemd. Das Gesicht bärtig, seine langen Haare nach hinten gekämmt, die Augen geschlossen. Permanent piept es, er wird beatmet.
»Herr Liebold kann noch nicht schlucken oder suffizient atmen«, sagt der Pfleger leise. »Aber er kann seine Hände bewegen und schreiben. So hat er mit mir kommuniziert. Auf einem Zettel stand: Ich möchte sehen, wer mich gerettet hat.
Deshalb bist du da.«
Herr Liebold schlägt die Augen auf. Der Pfleger geht ganz nah zu ihm ans Bett und spricht laut: »Herr Liebold, da ist jemand für Sie. Der war bei Ihrer Reanimation auf der Straße dabei.«
Die Augen des Metalhead weiten sich, er zieht die Brauen hoch. Der Pfleger winkt mich heran.
»Ich lass euch jetzt mal kurz alleine.« Er nickt mir zu, verlässt den Raum und schließt die Tür.
Zögerlich gehe ich auf das Bett zu. Spüre, dass er mich beobachtet, mich mit seinen Augen fixiert. Schließlich erwidere ich den Blick.
Es haut mich um. Einfach so. Der intensivste Moment meines Lebens. Da ist er. Wir sehen uns an. Selbst wenn er könnte – der Metalhead muss gar nichts sagen. Sein Blick sagt alles: tiefe Dankbarkeit. Unendliche Dankbarkeit. Ich schaudere. Ein Schwall aus Ehrfurcht und Stolz, aus Ungläubigkeit und Glück geht auf mich nieder. Ich bekomme kein Wort heraus. Herr Liebold hebt den linken Arm, er zittert. Ich verstehe nicht ganz. Wage mich noch einen Schritt näher. Er berührt meinen Arm, ganz sacht, dann ergreift er meine Hand. Hält sie fest. Ich erstarre. Das hier werde ich nie mehr vergessen, es wird sich in mein Großhirn einbrennen. Bin vollkommen
überwältigt von der Wucht dieser Begegnung. Sekunden verstreichen. Wir sehen uns einfach an und halten uns an den Händen.
Schließlich kriege ich doch ein paar Worte über meine trockenen Lippen: »Ist schon okay. Ich habe nur meinen Job gemacht.«
Der Metalhead will noch nicht loslassen. Ich auch nicht. Dafür habe ich vier Jahre durchgehalten. Genau dafür. Etwas unverhofft Echtes. Etwas Großes. Etwas Bedeutsames. Alles hat plötzlich einen Sinn. Vier Jahre Lebenszeit, um ein paar Sekunden so etwas erleben zu dürfen. Ich würde es alles genau so wieder machen. Das hier gibt es für kein Geld der Welt zu kaufen. Jetzt kann der Gangster kommen und mich auf offener Straße erschießen. Ich habe mein Werk vollbracht. Ich bin keine leere Hülle mehr.
Ich kann noch nicht ins Bett gehen. Es ist zwar schon spät, aber mein Körper ist noch immer voll auf Adrenalin. Voller Euphorie!
Das Wetter draußen ist Mist. Egal. Ich ziehe meinen Regenparka über, die Kapuze tief in der Stirn, trete ich vor die Haustür. Leuchtreklamen spiegeln sich auf dem nassen Asphalt. Aus den Bars dringt Musik. Ich biege ab, weg von dem Krach, hin zum Park. Mitten auf der großen Wiese bleibe ich stehen, hebe die Arme in die Luft. Der Regen kitzelt meine Finger. Ich strecke mich, die Kapuze rutscht, ich lege den Kopf in den Nacken und schaue geradewegs in den dunklen Himmel. Tropfen trommeln mir kalt aufs Gesicht. Ich hole tief Luft und schreie. Schreie wie Luzi in den Wind. Wie in meinem letzten Traum. Brülle gegen den Dämon an. Scheißegal, wer mich jetzt sieht. Ich bin laut. Ich bin stark. Ich bin frei.