WEISSER ORDNER
Benny gewinnt. Schon wieder. Wut. Ich fege die kleinen bunten Plastikhütchen vom Brett. Fang den Hut. König Benny fängt das goldene Hütchen auf. Es ist groß und schwer und diamantenbesetzt. Er setzt sich die Krone auf den Kopf und wird zu einer Frau. Die kenne ich doch. Sitzt völlig übertrieben geschminkt auf einem Sofa. Wie ein Clown. Feuerroter Mund, feuerrote Backen, dunkle Augen. Die Schminke ist verschmiert. Hat sie geweint? Sie summt.
Der Boden ist übersäht mit stinkenden toten Ratten. Ich darf sie nicht berühren, das ist klar. Sonst sterbe auch ich.
»Oben sind keine Ratten«, haucht der Nachbar mir ins Ohr.
Ein verzweifelter Schrei. Es ist Saskia. Sie ist oben. Wir haben einen Einsatz. Ich erschaudere. Was ist passiert? Hat jemand sie verletzt? Ich eile zur Treppe und verharre. Saskia schluchzt. Das Schluchzen ist laut. Es geht mir durch Mark und Bein. Vielleicht ist Saskia wirklich in Gefahr. Vielleicht hat der Nachbar sie angegriffen. Vielleicht ist das in Wahrheit gar nicht der Nachbar? Angst nagt an mir, nackte Angst. Die Treppe ist lang, die Stufen sind riesig. Egal. Ich muss. Ich gehe einen Schritt zurück und lande mit einem großen Satz auf der ersten Treppenstufe. Nutze den Schwung und springe weiter, noch eine Stufe und noch eine. Als ich die letzte Stufe nehmen will, passiert es. Mein rechter Fuß, mit dem ich abspringen will, glitscht weg, auf einem Haufen schmierigem Kot. Ich verliere den Halt, knalle auf die Treppe. Höre ein Knacken, als ich mit dem Unterkiefer ungebremst auf dem Treppenabsatz aufschlage. Blut im Mund. Dann wird alles schwarz.
Nichts ist gut. Nichts ist besser. Es fiept. Dauerrückkopplung. Heilung my ass. Ich stöhne und öffne die Augen. Dieser Traum verfolgt mich. Lässt mich nicht los. Kommt immer wieder. Vielleicht sollte ich doch mal mit einem Therapeuten darüber reden. Vielleicht mache ich das wirklich.
Im Bad klatsche ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Das Handtuch müffelt. Dunkel geränderte Augen blicken aus dem Spiegel zurück. Das ist doch keine Erholung. Warum kann ich nicht wenigstens im Schlaf mal abschalten? Warum ist der Schlaf genauso stressig wie eine Zwölf-Stunden-Schicht?
Ich schlurfe in die Küche, die Sprudelflasche zischt nicht beim Öffnen, fülle Früchtemüsli in eine Schüssel. Keine Milch da. Fange an, die trockenen Rosinen aus der Schüssel zu picken. Ein Glas labbriges Wasser und Rosinen, was für ein Festmahl.
Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Wie soll ich das aushalten? Texel und der Metalhead haben mir doch gutgetan. Das habe ich gefühlt. Ja, wirklich. Ich habe etwas gefühlt. Das war doch ein Fortschritt, und jetzt zeigt es trotzdem keine Wirkung.
Ein böser Traum. O nein, Mami, bitte hilf mir.
Mami, wo bist du? Darf ich zu dir ins Bett? Ich hatte einen Albtraum.
Dir auch einen schönen guten Morgen, H. P. Kinski. Nee, ist ja schon früher Nachmittag.
Kim, werd erwachsen. Bist immer noch ein weinerliches kleines Dreckschwein. Zieh doch zurück zu deiner Mami. Darfst auch am Daumen nuckeln, du Hosenscheißer. Hat der kleine Kimmi etwa Angst?
Wieso Angst? Angst ist doch der Grund für das alles hier. Ich wollte mich mit der Ausbildung meinen Ängsten stellen und habe es getan. Oder etwa nicht? Ich habe Mut gezeigt, ich habe gekämpft, ich war im OP -Saal Krankenhausstunden sammeln. Um Notfallsanitäter zu werden und meine Angst zu besiegen.
Ich schiebe den Stuhl nach hinten und gehe rüber ins Arbeitszimmer. Auf dem Regal verstaubt ein dicker weißer Ordner. Das Rückenschild ist mit einem Blaulicht bemalt. Das war Marie. Darin sind die Kopien meiner Dokumentationshefte. Die Hefte selbst musste ich abgeben, um zur Prüfung zugelassen zu werden. Ich hatte so eine Panik, dass irgendwas davon verloren geht und ich alles noch einmal neu schreiben muss. Deshalb hab ich alles kopiert.
Ich hole den Ordner herunter und nehme ihn mit in die Küche. Zerbeiße Bananenchips und blättere. Meine ersten Krankentransporte sind noch minutiös dokumentiert. Schon ein paar Seiten weiter wird die Schrift krakeliger, die Beschreibungen sind knapper. Ich lese die Berichte über den ersten Krankenhausblock. Station im Zentral-OP . Ich musste frisch operierte Patienten im Aufwachraum betreuen und natürlich bei Eingriffen zuschauen und den Anästhesisten zuarbeiten.
Wie ich beim ersten Mal dastand. Es war kühl im OP -Saal, aber ich hab trotzdem geschwitzt. Der Brustkorb eines Mannes mit Lungenkrebs sollte geöffnet werden. Die Oberärztin ließ sich von ihrem Assistenten eine große Schere geben. Sie setzte an, und als sie die erste Rippe vom Brustbein des Patienten trennte, knackte es. Ich sah meine Mutter, wie sie feierlich die Auflaufform mit der dampfenden Martinsgans auf den Tisch stellt, die Geflügelschere nimmt und den Braten in der Mitte zerteilt.
Ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus. Erleichterung. Was sich damals im OP vor mir abspielte, war eigentlich eine eklige Angelegenheit. Aber ich spürte keinen Ekel. Ich saugte alles auf, was ich zu sehen bekam. Alles, was ich hörte. Alle Handgriffe. Das war pures Handwerk. Die Ärztin reparierte jemanden. Unter dem Tuch und mit seinen zugeklebten Augen hatte der Patient einen Teil seines menschlichen Antlitzes verloren. Und das war gut so. Nur so konnten wir die Situation ertragen. Bei diesem Ding war etwas kaputt. Aber nun nahm sich die Klempnerin des Problems an.
Ich war einfach nur erleichtert. Davor habe ich mir monatelang Sorgen gemacht? Vor dieser Situation? Ich hatte befürchtet, dass meine Ausbildung am Krankenhaus scheitern könnte. Dass meine OP -Angst alles zu Fall bringen würde. Meinen Masterplan. Und plötzlich stand ich dort und verspürte nicht den Hauch von Angst. Ich dachte nur, ich werde es schaffen. Ich bin stark. Mein Plan wird aufgehen. Alles wird gut werden. Alles muss gut werden.
Die Oberärztin griff in den Brustkorb des Patienten. Suchte nach dem Herzmuskel. »Man kann das Herz jetzt einfach umfassen«, erklärte sie mir.
Faszinierend. Ich war total baff. Was die Menschheit alles kann. Einen lebendigen Menschen aufschneiden, sein Herz in der Hand halten, und er lebt weiter.
Die Lunge des Patienten war unheilbar vom Krebs zerfressen.
»Tja, Raucher eben«, kommentierte die Oberärztin.
Ich fröstelte, damals wie heute am Küchentisch. Gieße mein Wasserglas in der Schüssel aus, um die Haferflocken aufzuweichen.
Es war die Kälte in der Aussage der Ärztin. Das hatte etwas von »selber schuld«. Sollten sich Ärzte nicht neutraler verhalten? Im Lauf der Ausbildung habe ich mitbekommen, dass solche Kommentare recht üblich sind. Langjährige Raucher und sehr dicke Menschen stoßen weder beim Pflegepersonal noch bei den Ärzten auf sonderlich viel Verständnis oder Mitleid. Sie werden natürlich trotzdem medizinisch versorgt, wie jeder andere Patient auch. Aber ich hab da immer einen kleinen Vorwurf gespürt. Nach dem Motto: Hätten Sie nicht so viel geraucht oder gegessen, müssten Sie jetzt nicht hier sein. Und ich hätte nicht die Arbeit. Natürlich müssen Pfleger und Ärzte auf eine gewisse Distanz zu ihren Patienten gehen, wir dürfen all das Leid nicht zu sehr an uns heranlassen. Aus Selbstschutz. Aber zu diesen speziellen Patienten, die mit einer vermeidbaren Krankheit, ist die Distanz häufig extragroß.
Ich fand das zuerst befremdlich, aber im Lauf der Monate habe ich Verständnis für die Ärzte und vor allem für das Pflegepersonal entwickelt. Die Arbeit ist hart. Die Schichten sind lang, und es herrscht eine extrem enge Taktung. Es bleibt generell nur ganz wenig Zeit für einen zwischenmenschlichen Austausch. Der Zeitdruck ist groß. Sie stehen am Fließband. Patientenfließband. Da brennt man schnell aus. Und verliert den Glauben an die Schönheit des Lebens. Wenn dann noch obendrauf Patienten kommen, die eigentlich ihre Krankheit nicht haben müssten, frustriert das. Irgendwann beginnt man zu denken: Warum haben diese Leute nicht einen Hauch Selbstdisziplin gezeigt? Sie wussten doch, dass ihr Verhalten nicht gesund ist. So aufgeklärt sind sie doch. Aber sie haben eben gehofft, dass es sie nicht trifft.
Auch wenn ich es zuerst nicht wollte, ich hab auch angefangen, so zu denken, wurde kritischer den Patienten gegenüber. Nicht nur in der Klinik, auch bei meinen Rettungseinsätzen. Wenn ein Raucher über Luftnot klagt, behandele ich ihn natürlich ganz gewissenhaft wie vorgesehen. Aber ich ärgere mich darüber, dass ich seinetwegen in der Nachtschicht aufstehen musste, mich hochquälen musste. Seine Krankheit ist vermeidbar. Er hat es selbst in der Hand. Gerät man unverschuldet in einen Unfall, ist das eine ganz andere Nummer. Dann ist man dem Schicksal ausgeliefert.
Trotzdem verkneife ich mir Kommentare.
Das Wassermüsli schmeckt grausig. Ich schiebe die Schüssel von mir, drehe den Ofen an. Dann eben Tiefkühlpizza.
Es gab auch Momente in der Klinik, in denen ich eine gewisse Macht verspürte. Nach einiger Zeit durfte ich die Narkosemedikamente verabreichen. Propofol in die Vene spritzen, das Zeug, das Michael Jackson gekillt hat. Ein milchiges Narkotikum, ein Schlafmittel, das rauschartige Zustände erzeugen kann. Sexuelle Erregung hervorruft. Aber wie bei allem: Auf die Dosierung kommt es an. Propofol hat nämlich einen kleinen Nachteil. Die Atmung setzt bei einer bestimmten Menge aus. Für die Narkose ist das kein Problem. Für den Hausgebrauch schon.
»Haben Sie sich schon einen Traum ausgesucht?«, lächelte ich die Patienten an. Nur noch wenige Sekunden. Dann würde ich den Kolben der Spritze herunterdrücken.
Die meisten von ihnen wollen ans Meer. Da dürfte es bereits ziemlich voll sein. Massen-Narkose-Tourismus. Bett an Bett am Sandstrand. Blick aufs Wasser. Mit einem Propofol-Cocktail in der Hand.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise«, sagte ich dann. Der gesamte Inhalt der Spritze verschwand in der Vene. Sekunden später hatten die Patienten das Bewusstsein verloren.
Ich musste wirklich aufpassen, dass mir diese Macht nicht zu sehr gefiel.
Es ging nie um die Bewältigung deiner Angst. Du hast doch nur Bestätigung gesucht. Willst wohl ’n tougher Kerl sein. Der toughe Typ vom Rettungsdienst. So selbstlos und heldenhaft. Dabei bist du ’n minderwertiges Arschloch. Noch immer.
Schäle die Pizza aus ihrer Plastikhülle. Als ich sie in den Ofen lege, komme ich mit dem Daumen gegen den glühend heißen Rost. Fuck.
Rote Pizzasoße schmiert an den Verband. Vielleicht hätte ich doch Messer und Gabel nehmen sollen. Egal. Endlich essen.
Mit der anderen Hand blättere ich durch meinen Ordner. Lande bei den Krankentransporten. Krankenwagen, Rettungswagen. Die meisten Leute sehen in den beiden Bezeichnungen keinen Unterschied. Dabei ist der gewaltig. Ein Krankenwagenfahrer muss fast nie therapeutisch eingreifen. Der muss hauptsächlich schleppen. Kranke Menschen, die es nicht mehr selber schaffen, zum Haus- oder Facharzt zu kommen. Und dann fährt er sie wieder zurück. Treppauf, treppab. Taxifahrer und Umzugsunternehmer in einem.
Ich musste in meiner Zeit als Krankenwagenfahrer in der ersten Hälfte meines ersten Ausbildungsjahres nie medizinisch eingreifen. Nicht einmal. Trotzdem hab ich Situationen erlebt, die ich nur schwer wieder aus dem Kopf bekommen hab. Transporte schwerkranker Menschen ins Hospiz. Ihre allerletzte Reise. Der letzte Road-Trip. Begegnungen mit todgeweihten Patienten, denen nur noch zwei Wochen zu leben bleiben. Worüber spricht man hinten im Wagen mit dem Menschen? Meistens hab ich geschwiegen und gewartet, dass sie den ersten Schritt machen, wollte keinen zuquatschen.
Ich blättere um und erkenne den Fall sofort wieder. Wir sollten einen älteren Herrn von zu Hause abholen. Er musste umziehen, ins Pflegeheim. Er litt unter Demenz und kam nicht mehr ohne Hilfe zurecht. Seine Kinder konnten die Pflege auch nicht länger ermöglichen. Zu anstrengend. Sie hatten ja auch noch ihr eigenes Leben zu bewältigen.
Opa sollte ins Heim, und mein Kollege und ich waren die Vollstrecker. Als wir die Wohnung betraten, war die ganze Familie anwesend. Seine drei Kinder. Auch seine Nachbarn. Sie alle füllten die Wohnung. Im Flur an der Wand standen zwei Koffer.
Der alte Herr war verwirrt: »Was sollen die hier?«, fragte er seine Kinder und zeigte auf uns.
»Papa, die begleiten dich jetzt in dein neues Zuhause. Das hatten wir doch besprochen«, erklärte ihm eine seiner Töchter. Sie hielt ihn am Arm. Seine Beine zitterten.
»Ich will nicht weg. Ich will hierbleiben. Zu Hause«, sagte der Alte. Die Worte trafen mich mitten ins Herz. So verwirrt er auch sein mochte, gerade hatte er einen klaren Moment. Das spürte ich. Er war wach. Er wollte wirklich nicht weg.
»Jetzt zieh dich mal an, Papa. Hier ist deine Jacke. Hier dein Hut«, sagte der Sohn. Die beiden Töchter brachten ihren Vater Richtung Tür, drückten ihn vorwärts.
»Bitte helfen Sie mir!«, rief der Mann uns zu. Ich konnte nichts sagen. Konnte mich nicht bewegen. War erschüttert. Mein Kollege schnappte sich die Koffer und ging voraus. Ich wartete, bis alle an mir vorbei waren, und ging als Letzter. Ich hoffte inständig, dass der Mann sich nicht wehren würde. Dass er sich nicht einfach fallen ließ. Auf keinen Fall wollte ich Zwang anwenden müssen. Ich sollte dafür sorgen, dass es dem Patienten gut geht. Aber das konnte ich in dem Moment nicht. Nichts konnte ich ausrichten, damit es diesem Herrn wieder gut geht. Nichts.
Unten angekommen, flüsterte ich meinem Kollegen zu: »Am liebsten würde ich einfach davonfahren.«
»Nein, da müssen wir jetzt durch«, flüsterte er zurück.
»Ich werde ihn aber jetzt nicht in den Krankenwagen zwingen.«
»Das übernimmt die Familie«, antwortete mein Kollege.
Und so war es dann auch. Die Kinder schoben ihren Vater regelrecht in den Wagen. Ich musste nichts tun.
Schließlich saß ich hinten alleine neben ihm.
»Wo fahren Sie mich hin? Ich will nicht weg von zu Hause«, wiederholte er mehrmals. Er wurde dabei nicht laut oder ausfallend. Er klang traurig.
»In ein Heim«, erklärte ich. »Zu Hause kommen Sie leider nicht mehr alleine zurecht.« Ich wollte ehrlich sein, nichts beschönigen. Mit einem erwachsenen Mann keine Kinderspiele veranstalten. Dieser Herr hatte die Wahrheit verdient.
Er fing an zu weinen.
Ich war überfordert. Schwieg.
Als der Krankenwagen das Pflegeheim erreichte, warteten die Kinder bereits auf ihren Vater. Mein Kollege und ich mussten nichts weiter tun, als seine Koffer zu schleppen. Ein ganzes Leben in zwei Koffern. Die Kinder hakten ihren Vater unter und betraten vor uns das Heim. Er wehrte sich nicht. Sagte auch nichts mehr. Er hatte aufgegeben. Was für eine bedrückende Szene.
Du kannst nix. Noch nicht einmal Krankenwagen fahren. Gib endlich auf.
Auf keinen Fall. Mit Schwung knalle ich den weißen Ordner zu und schiebe ihn weg.