ESKALATION
Während ich mir die Handschuhe überstreife, Schal und Mütze zurechtzupfe, streift mein Blick durch die Wohnung. Scheiße, wie sieht es hier eigentlich aus? Der Flur ein Parcours aus Klamottenhaufen. Auf dem Küchentisch ein Müllberg aus halb gelesenen Zeitschriften und Rechnungen. Ganz unten lugt der weiße Dokumentationsordner mit dem Blaulicht hervor. Wie lange liegt der da schon? Seit Wochen. Maries Pflanze auf der Fensterbank welk. Herbst draußen – Herbst drinnen. In mir drinnen.
Am Wochenende wurden die Uhren umgestellt, aber hell ist es draußen noch lange nicht. Drinnen grelles Neonlicht. Der Bus röhrt, schnauft und schwankt. Die Luft ist muffig und feucht. Jeder meidet den Blick des anderen. Keiner möchte hier sein. Keiner sagt etwas.
Ich wünschte, ich wäre auf dem Weg zum Flughafen. Mit kleinem Gepäck in die Sonne, in den Süden. Ich wünschte, mein Job wäre ein anderer. Die Frau gegenüber sieht aus wie eine Finanzbeamtin. Können wir tauschen? Ich wünschte, ich wäre auf dem Rückweg. Die Arbeit getan, das Bett vor Augen.
Stattdessen liegt der nächste Dienst vor mir, wälzt sich in meinen Eingeweiden, greift nach meinem Magen und drückt zu. Es rumort, es wird eng, es krampft.
Quatsche pflichtschuldig mit ein paar Kollegen. Lache an der falschen Stelle über ihre Sprüche. Alle gucken mich komisch an. Verkrieche mich aufs Sofa, Ohrstöpsel rein, Foo Fighters an, Welt aus. »What if I say I will never surrender?« Niemals aufgeben.
Wenn das Warten nicht wäre. Dieses ewige Warten. Wann kommt der nächste Einsatz? Wann schlägt der Melder Alarm? Habe neuerdings Panik vor dem Melder. Panik, dass er vibriert und schrillt. Da hängt er, in einem Ledertäschchen an meinem Gürtel. Eine kleine schwarze Minibombe, die jede Sekunde hochgehen kann. Jetzt. Oder jetzt.
Wäre nur die Ungewissheit nicht. Es ist nicht nur unklar, wann der nächste Einsatz kommt, sondern auch, was dabei auf mich wartet. Was das kleine Display auf dem Melder ankündigen wird. Früher mochte ich das, der Melder war mein Überraschungsei. Es wurde nie langweilig. Jetzt komme ich nicht mehr damit klar. Nicht zu wissen, ob ich den Einsatz gut bewältige und wie sehr er mich mitnimmt. Bin ich überhaupt noch einsatzfähig? Ist das hier alles noch zu verantworten? Kann ich noch für meine Patienten da sein? Noch funktionieren?
Der Melder bleibt stumm. Am liebsten wäre es mir, er bliebe lange stumm. Zwölf Stunden lang. Er soll mich gefälligst in Ruhe lassen. Aber das hieße, hier zwölf Stunden angespannt auszuharren. Die Zeit dehnt sich zu einer Ewigkeit. Die Uhr läuft rückwärts.
Scheiße. Das ist gerade überhaupt nicht gut für mich.
Ich lasse den Song noch mal laufen. »You’re the pretender!« Was mache ich eigentlich noch hier?
Irgendwann geht der Melder doch. Mir bricht der Schweiß aus. Zustand nach KV , Körperverletzung. Die Polizei wird schon vor Ort sein. Ein Einsatz in einem Bus.
Saskia fährt. Gott sei Dank Saskia. Sie hat ein gutes Gespür für ihre Kollegen. Sie weiß, dass sie mich zurzeit besser in Ruhe lässt, mich nicht volllabert. Ich ertrage das nicht. Mir ist heiß, würde gerne das Fenster aufmachen, aber das Martinshorn würde uns die Ohren wegblasen.
»Kim, du siehst echt nicht gut aus«, sagt Saskia dann doch, vorsichtig.
»Bin ein bisschen überarbeitet«, murmele ich.
Berufsverkehr. Es ist schwierig, sich durch die Blechlawine zu kämpfen, Autofahrer reagieren völlig unterschiedlich auf Blaulicht plus Horn. Manche viel zu spät, andere lenken ihren Wagen aufgeschreckt wie ein Reh mitten auf den Bürgersteig und gefährden Fußgänger und Radfahrer.
»Die können nicht mehr rational denken«, kommentiert Saskia das Durcheinander vor ihr. Sie muss permanent auf der Hut sein. Hat immer den Fuß über der Bremse. Jederzeit kann es zu einer völlig verrückten Reaktion kommen. Glücklicherweise haben die meisten aber schon von dem Wort »Rettungsgasse« gehört.
Wir erreichen die Bushaltestelle gegen 13.20 Uhr. Eine Notärztin und ein Kollege von der Feuerwehr treffen unmittelbar nach uns ein. Eine Polizistin führt uns zu dem leeren Bus. Darin liegt ein Junge auf dem Boden. Ein Teenager.
»Es gab eine Messerstecherei. Die Täter sind flüchtig«, erklärt die Beamtin.
»Das waren Jungs aus einer Klasse über mir«, stöhnt der Junge. »Die wollten mich abziehen, ich habe mich gewehrt und dann … hat … einer zugestochen.« Seine Stimme stockt. Er drückt die Hände auf den Bauch. Die Daunenjacke ist offen, darunter trägt er einen grünen Kapuzenpulli. Auf Bauchhöhe ist ein großer dunkler Fleck. Blut. Gar nicht gut. Überhaupt nicht gut.
»Wie heißt du denn?«, fragt die Notärztin.
»M-max«, stößt er hervor.
Ich hole die Kleiderschere aus dem Rucksack und schneide den Pullover von unten nach oben auf. Dann auch noch das weiße T-Shirt, das ebenfalls blutdurchtränkt ist. Max hat fünf Verletzungen im Ober- und Unterbauch. Sie sind nicht groß, scheinen aber tief zu sein. Da hat jemand fest zugestochen. Kranke Scheißwelt.
Es geht jetzt schnell. Viele Hände fangen an zu fliegen. Saskia und ich übernehmen die Basismaßnahmen. Geben Sauerstoff, checken Puls, Blutdruck und EKG , legen einen venösen Zugang im linken Unterarm, überprüfen den Pupillenstatus und suchen nach weiteren Verletzungen.
Der Feuerwehrkollege deckt die Bauchwunden mit sterilen Kompressen ab. Sie bluten nicht doll, es sickert eher, aber die Notärztin ist besorgt wegen der Tiefe der Stiche.
»Das könnten drei bis fünf Zentimeter tiefe Wunden sein«, sagt sie. Vielleicht sind lebenswichtige Bauchorgane verletzt. Vielleicht hat der Junge innere Blutungen.
Die Ärztin hat ihm bereits Schmerzmittel gespritzt: Ketanest und Dormicum. Gute Schockmedikamente, wegen ihres Nebeneffekts. Sie sorgen dafür, dass Blutdruck und Herzfrequenz nicht weiter abfallen.
»Max kann jederzeit in einen hämorrhagischen Schockzustand abrutschen«, warnt sie. Also ein Schock aufgrund hohen Blutverlusts. Dabei geht man von drei Phasen aus. Solange der Blutdruck einigermaßen stabil ist, befindet man sich in der kompensierten Phase. In der zweiten Phase sackt der Druck gefährlich ab. In der letzten Phase drei kommt es zu einem Multiorganversagen, das im Herz-Kreislauf-Stillstand mündet.
Der Junge befindet sich noch in Phase eins. Noch. Er ist ansprechbar und kann sich äußern. Über den Zugang führe ich ihm Kochsalzlösung zu. Aber nicht zu viel. Zu hoch darf der Blutdruck auch nicht steigen. Eine größere innere Einblutung wäre die Folge. Viel mehr können wir hier nicht für ihn tun. Er muss in den OP , und zwar sofort. Mit der Schaufeltrage heben wir ihn auf die richtige Trage, rein in den Rettungswagen, die Ärztin und ich hinterher, Türen zu, los.
Bin erleichtert, dass mir bisher kein Fehler unterlaufen ist. Das wär total peinlich. Vor der Notärztin. Vor dem Feuerwehrkollegen. Vor der Polizistin.
»Es tut immer noch so weh«, sagt Max, das Gesicht verzerrt. Trotz des Schmerzmittels. Die Ärztin gibt noch einmal die doppelte Menge. Max starrt mich an, greift meinen Arm, wie ein Ertrinkender: »Muss ich jetzt sterben?«
Was er sagt, trifft mich mit Wucht. Ich weiß es nicht. Ein ganz junger Mensch steht hier auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Alles ist möglich. Und jetzt will er die Wahrheit erfahren. Ich habe mir geschworen, nie etwas zu beschönigen, immer aufrichtig zu meinen Patienten zu sein. Wie die älteren Kollegen. Ein »Nein, bestimmt nicht, alles wird gut« würde den Jungen vielleicht beruhigen, aber es wäre eine Lüge. Eine dreckige Lüge. Und wenn er nach der OP nicht mehr aufwacht, ist es das Letzte, was er aus dieser Welt mitnimmt: dass ich ein Dreckslügner bin.
Die Notärztin kommt mir zuvor: »Das können wir nicht sagen, Max, aber wir geben unser Bestes.« Das ist eine gute Antwort. Und ich bin aus dem Spiel. Was für ein Glück. Ich bin unfähig, mit der Frage umzugehen und eine Antwort zu formulieren.
Gut, dass ich eine simple Aufgabe habe. Mein Job ist es, den Patienten zu beobachten und seine Vitalwerte zu protokollieren.
Max fixiert mich wieder. »Ich will nicht sterben«, sagt er weinerlich.
Mir wird heiß und kalt gleichzeitig. Ich kann damit jetzt nicht umgehen.
Natürlich kannst du damit nicht umgehen. Du kannst ja gar nichts.
Nein, jetzt nicht. Bitte nicht auch noch du.
Du bist einfach nicht gemacht für den Job. Sieh es endlich ein. Du bist gestört. Du bist kaputt.
Ich sehe Max an. Hat er was gesagt? Muss ich ihm eine Frage beantworten?
Siehst du, du wirst langsam tattrig. Vielleicht Alzheimer. In deinem Alter kann das schon anfangen.
Max sieht so aus, als würde er auf eine Antwort warten.
Du bist Abfall. Gehörst auf den Schrott. Begreif es endlich. Gib auf.
»Nein, ich gebe nicht auf«, sage ich laut. Wie unangenehm. Die Notärztin blickt zu mir rüber. Der Junge versucht sich an einem Lächeln. Ihm scheint die Antwort zu gefallen.
Ich beeile mich, heute will ich Erster sein, aber als ich in die Bar komme, sehe ich Benny in der Ecke. Verdammt.
Mein bester Freund sitzt vor einer halb leeren Flasche Bier. Gegenüber steht eine volle. Für mich.
»Hey, Teampartner«, sage ich.
»Hey, Teampartner«, sagt Benny. Es klingt blutleer. Kraftlos. Was ist los? Oder bilde ich mir das nur ein?
»Ich muss dir was sagen.« Benny kommt gleich zur Sache. »Meiner Mutter geht’s schlechter. Sie hat massive Bauchkrämpfe bekommen. Die Chemo musste abgebrochen werden«, sagt er mit erstickter Stimme. »Und jetzt sind auch noch Metastasen entdeckt worden. Hörst du, Kim? Der verdammte Krebs streut. Der ist in ihrem ganzen Körper.«
Was hat das Leben mit mir vor? Ist das eine Prüfung, ob ich hart genug bin, die heftigsten Treffer einzustecken? Bin ich nicht längst zu Boden gegangen? Und liege da, noch leicht zuckend, ohne jeden Lebenswillen? Ergeht es anderen eigentlich auch so? Oder prügelt das Leben nur auf mich und meine engsten Vertrauten ein?
»Fuck«, bekomme ich heraus.
»Kim, das ist doch nicht fair. Sie war ihr Leben lang fit. Nicht geraucht, nicht getrunken. Immer in Action, immer für andere da. Und jetzt, wo sie endlich das Leben genießen könnte, kurz vor ihrem Ruhestand, wird sie ausgelöscht. Wegradiert. Einfach so.« Bennys Augen werden feucht.
»Ey, Benny, das heißt doch nicht, dass sie schon weg ist.« Ich greife über den Tisch nach seiner Hand. »Vielleicht bleibt ihr ja noch mehr Zeit, als du jetzt denkst.«
»Der Arzt sagt, noch ungefähr ein halbes Jahr, vielleicht auch ein ganzes. Aber das ist doch kein Leben mehr mit diesem Krebs. Mit diesen scheiß Chemotherapien, die den ganzen Körper fertigmachen. Sie hat übelst Schmerzen die ganze Zeit. Und das soll jetzt ein halbes Jahr so weitergehen? Das ist pure Quälerei.«
So verzweifelt habe ich Benny noch nie erlebt. Er ist immer der Stärkere von uns gewesen. Allein wegen seines Körperbaus und seiner ruhigen Art. Er ist der, der seinen Patienten nur die große Hand auf die Schulter legen muss, um sie zu beruhigen. Benny ist der Fels, der Praktiker. Ich bin im Gegensatz dazu der Theoretiker, derjenige, der mehr weiß und fleißiger ist. Im Einsatz zählt aber das Handeln. Und da ist mir Benny voraus. Er verbreitet Optimismus und ist nicht so von Gedanken zerfressen.
Ich löse meine Hand und nehme einen Schluck aus der Flasche. Benny greift auch zu und leert seine in einem Zug.
»Und jetzt? Wie geht es weiter?« Irgendwas muss ich ja sagen.
»Ich werde reduzieren, auf eine halbe Stelle. Obwohl ich mir das kohlemäßig überhaupt nicht erlauben kann. Aber es geht nicht anders. Ich muss jetzt bei ihr sein. Bin ja der Einzige, den sie hier hat.« Der Rest von Bennys Familie lebt in Süddeutschland. Er hebt den Arm.
»Ich nehm noch eins«, ruft er dem Kellner zu.
»Und seit wann weißt du das alles?«, frage ich.
»Seit zwei Wochen. Aber ich wollte dich nicht stören. Du bist ja immer voll im Stress«, antwortet Benny.
Ein weiterer Fausthieb, direkt in die Magengrube. Seit zwei Wochen, und er hat mir nichts gesagt, um mich nicht noch mehr zu stressen? Ich bin so ein schlechter Freund. Selbst um den letzten Menschen, der mir wirklich etwas bedeutet, kümmere ich mich nicht richtig. Ich bin nur noch für mich selbst da. Und sogar diese Beziehung ist zerrüttet.
»Kim, du musst nichts für mich tun. Das kannst du auch gar nicht. Ich wollte dich nur endlich einweihen«, erklärt Benny. »Schließlich sind wir doch Teampartner.«
Vor gar nicht allzu langer Zeit hat dieses Team noch geholfen, ein Leben auf die Welt zu holen. Jetzt gilt es, füreinander da zu sein, wenn ein Leben genommen wird. Es ist komisch. Ich will für Benny da sein. Will ihn irgendwie wieder aufbauen. Aber wie kann ich ihm Kraft geben? Ich hab ja selber keine.
Habe nie lange mit Bennys Mutter geredet. Wir hatten nur kurze Begegnungen. Sie ist ein freundlicher, offener Mensch. Hat ein Lachen, das einen mitreißt. Ich sehe sie vor mir, mit Perücke und Bauchkrämpfen. In diesem Gesicht gibt es kein Lachen mehr.
Ich stehe auf und gehe zu Benny um den Tisch.
»Benny, komm mal hoch.« Als Benny auch aufsteht, umarme ich ihn. Ganz fest.
»So eine verfickte Scheiße. Das tut mir so leid«, sage ich in seinen Pulli.
Zwei Männer, die sich im Arm halten. Es muss für die übrigen Gäste eine wunderliche Szene sein. Ich kann nichts anderes tun. Die Umarmung bekomme ich noch hin, so viel Kraft habe ich noch. Wir halten uns, klammern uns aneinander fest, als würden wir zusammen in ein tiefes, schwarzes Loch fallen. Schneller und schneller werden wir hinabgezogen. Wie weit geht es hinunter, wann prallen wir auf? Wir wissen beide, es wird nicht gut ausgehen. Es ist niemand da, um uns aufzufangen. Außer uns gibt es niemanden mehr. Zumindest nicht bei mir.