HALT SIE FEST
Carsten hat heute seinen freien Tag. Wenigstens eine Erleichterung. Die Bahnhofshalle ist um eine laute Stimme leiser. Ich denke an Benny. Fühle mich machtlos. Nur eine Umarmung, mehr hatte ich nicht zu bieten. Kein erneuter Road-Trip? Keine Perspektive? Nein. Der Krebs nimmt alle Perspektiven. Der produziert nur ständige Unsicherheit und Todesangst. Es ist die Hölle, so etwas aushalten zu müssen. Für den, den es getroffen hat, und für seine Angehörigen. Ständig sitzt einem der Kapuzenmann auf der Schulter und flüstert: »Nicht mehr lang. Bald bist du fällig.« Da wird man doch verrückt. Kein Wunder, dass viele den Tod als Erlösung annehmen. Als etwas, das sicher ist.
Alarm. Mein Magen krampft. Druck im Bauch, Druck auf der Brust. Schneller, flacher Atem. Schleppe mich in den Rettungswagen.
Dennis sitzt schon hinterm Steuer und hat den Motor gestartet. »Boah, Kim, du bist aber wieder schnell heute!« Ich sage nichts.
Krampfanfall steht auf der Depesche. Wir fahren in ein Neubaugebiet. Weiße Fassaden und Klinker von beige bis anthrazit. Wir klingeln an einer Doppelhaushälfte. Eine Frau öffnet.
»Na endlich. Meine Tochter, sie braucht Hilfe«, begrüßt sie uns. Im Hintergrund steht ein Mann. Wahrscheinlich der Vater. »Kommen Sie bitte hier ins Wohnzimmer«, sagt sie und geht voran.
Auf der Ledercouch liegt eine Frau. Ihr ganzer Körper zuckt. Nicht permanent, aber immer wieder. Alle fünf Sekunden. Wie ein Schluckauf.
»Hallo, hier ist der Rettungsdienst, können Sie mich verstehen?«, fragt Dennis. Keine Reaktion.
»Sie hat das in letzter Zeit immer wieder. Aber dieses Mal hat es gar nicht mehr aufgehört«, erklärt die Mutter.
»Wie lange liegt sie hier schon so und zuckt?«, frage ich.
»Ungefähr fünfzehn Minuten«, meldet sich der Vater zu Wort.
»Hat sie Epilepsie? Ist sie damit in Behandlung?«, will Dennis wissen.
Die Mutter schüttelt den Kopf: »Nein. Sie hat das erst seit ein paar Monaten. Aber es war nie so schlimm. Nach jedem Anfall war sie wieder völlig normal.«
Ich nähere mich der Patientin, spreche sie an. Wieder keine Reaktion. Sie guckt mich nicht mal an. Ich versuche, ihre Atmung zu erfassen. Sie atmet schnell und verdreht die Augen.
»Wir müssen aufpassen, dass sie nicht runterfällt«, warne ich und stelle mich sicherheitshalber ganz nah ans Sofa. Seltsam, das ist durchaus eine Art Krampf. Aber kein richtiger. Dafür kommt das Zucken viel zu verzögert. Außerdem ist ihre Atmung noch einigermaßen okay und das Gesicht nicht blau angelaufen.
»Und die Krampfanfälle waren immer genau so?«, frage ich. Das ist doch extrem merkwürdig.
»Ja«, bestätigt der Vater.
»Check mal die Sättigung«, sagt Dennis. Ich krame den Clip hervor und versuche, das Pulsoxymeter auf einen Finger der Patientin zu stecken. Plötzlich greift sie mit der anderen Hand herüber, reißt den Clip ab und schmeißt ihn weg. Wow. Mit so einer koordinierten Reaktion habe ich nicht gerechnet. Anscheinend ist die junge Frau wacher und zurechnungsfähiger, als ich angenommen habe.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«, frage ich.
»Sie ist gerade neunzehn geworden. Vielleicht hat sie sich eine Krankheit in Singapur eingefangen«, sagt die Mutter. »Sie ist vor vier Monaten von einem Auslandsaufenthalt zurückgekommen. Da war sie ein Jahr. Vielleicht hat sie irgendeine exotische Krankheit.«
»Und vorher hatte sie dieses Zucken noch nicht?«, vergewissert sich Dennis.
»Niemals.«
Ich habe noch nie gehört, dass man sich in Südostasien chronische Krampfanfälle einfangen kann. Aber möglich ist natürlich alles. Vielleicht hat sie ja einfach hohes Fieber?
Als ich mit meiner rechten Hand ihre Stirn berühre, fängt sie an zu schreien.
»Fassen Sie mich nicht an! Hauen Sie ab!«, kreischt sie.
Springe völlig überrascht ein Stück zur Seite. Die ist ja wirklich komplett wach!
Die Mutter beugt sich herunter: »Jill, was ist denn mit dir? Warum hörst du denn gar nicht mehr auf, so komisch zu sein? Geht es dir gut?«
»Lasst mich in Ruhe!«, brüllt Jill und zuckt weiter.
Ist das real oder wieder einer meiner finsteren Träume? Hab ich eine Inszenierung der Theatertruppe Altona vor mir – oder eine Szene aus einer dieser beschissenen Vorabend-Reality-Rettungsserien? Werde ich verarscht?
Dennis zückt sein Smartphone. »Ich ruf jetzt den Notarzt dazu. Das alles kommt mir ein bisschen komisch vor.«
Ich unternehme einen weiteren Kommunikationsversuch: »Wir sind vom Rettungsdienst. Ihre Eltern machen sich Sorgen. Dürfen wir Sie ganz kurz untersuchen, nur um zu überprüfen, ob alles in Ordnung ist?«
»Sie sollen endlich abhauen, hab ich gesagt! Und fassen Sie mich nicht an!«, schreit Jill. Ihre Verzweiflung ist nicht gespielt. Jill hat definitiv ein Problem, will sich aber nicht helfen lassen. Deshalb ist der Notarzt keine so schlechte Idee. Einfach wegzufahren wäre nicht zu verantworten.
Ich bleibe in Jills Nähe und beobachte, ob sich ihr Zustand verändert. Lasse nicht locker und frage die Eltern: »Und das hat einfach so angefangen?« Fühle mich ein bisschen wie Sherlock Holmes. Band 235: Sherlock Holmes und die zuckende Frau. Was ist passiert? Deute ich alle Indizien richtig? Habe ich etwas übersehen?
»Einfach so. Ohne Grund«, antwortet die Mutter.
»Und Sie können sich das gar nicht erklären?«
»Nein«, antworten die Eltern bedrückt. Sie klingen glaubwürdig. Was macht Watson aka Dennis? Rumstehen. Warum muss ich hier die ganze Investigativarbeit machen? Das Fragen und Nachdenken strengt mich an, die ganze Situation strengt mich an. Die Tatsache, dass ich nicht zu Hause rumhängen kann, in meinem Bett.
Es klingelt. Der Notarzt ist groß, hat graues Haar und weiße Schläfen. Kurz vor der Pensionierung, aber topfit. Ich stöhne innerlich auf. Ich kenne den Typen aus dem Krankenhaus. Der war mir schon immer suspekt. Arrogant und unfreundlich, der Mann.
»So. Was ist denn hier los?«, fragt er. Hinter ihm erscheint sein Notfallsanitäter. Typisch Feuerwehr: wieder mal einen Kopf größer als ich.
Ich erkläre die Lage. Der Notarzt schaut mich nicht an, nur zur Patientin. Während ich noch spreche, nähert er sich ihr und will offenbar ihren Puls fühlen.
»Fassen Sie mich ja nicht an!«, schreit Jill. Was genau hat der Mann nicht verstanden, als ich gerade sagte, dass sich die Patientin nicht berühren ließe?
Der Arzt beobachtet das Zucken. »Das könnte ein psychogener Krampfanfall sein. Ihre Psyche hat diesen Krampfanfall ausgelöst. Ich will sie auf jeden Fall in die Notaufnahme mitnehmen.«
Darauf wäre ich nie gekommen. Diese Art Krampfanfall wird in der Schule gar nicht behandelt, und auch im Einsatz ist mir das noch nie untergekommen.
»Auf keinen Fall!«, ruft Jill verzweifelt. »Mama, Papa, bitte sagt, dass die weggehen sollen! Ich will nur meine Ruhe. Die sollen abhauen.«
»Aber die Herren wollen dir doch nur helfen, Liebes«, sagt die Mutter sanft.
Der Notarzt geht dazwischen: »Ist eine psychische Erkrankung bekannt? Hat sie vielleicht Drogen oder Alkohol eingenommen?«
»Nein, nein, nein. Überhaupt nicht«, antwortet die Mutter.
Es ist eine schwierige Situation. Jill ist volljährig. Sie ist bei klarem Verstand. Einigermaßen jedenfalls. Sie darf entscheiden.
Aber der Arzt lässt nicht locker: »Kommen Sie jetzt mit? Es ist zu Ihrem Besten.« Er berührt Jill leicht an der Schulter. Sie schlägt wild um sich. Er weicht zurück. Sie springt auf und läuft nach nebenan. Eine Tür knallt.
»Das ist mir jetzt zu blöd. Ich ruf die Polizei. Sollen die das Mädchen mitnehmen«, sagt der Notarzt zu Dennis und mir.
»Auf welcher Grundlage willst du sie denn mitnehmen?«, frage ich.
»Mögliche Eigengefährdung und Selbstverletzung. Die hat sich ja überhaupt nicht unter Kontrolle.« Jill hat sich tatsächlich nicht im Griff. Aber ob sie sich selbst verletzen würde, da bin ich mir unsicher.
»Kann ich noch einmal versuchen, mit ihr zu reden? Danach können wir ja die Polizei rufen«, bitte ich.
Der Arzt nickt. »Aber nicht zu lange.«
An der Tür des Zimmers nebenan hängt eine Sonne, gebastelt aus gelber Pappe. Darauf steht ungelenk: »Jilli«. Ich klopfe an. Keine Reaktion.
»Jill, darf ich kurz reinkommen? Ich möchte dir die Situation erklären. Du willst doch bestimmt auch nicht, dass die Polizei kommt, oder?«
»Aber nur du«, höre ich plötzlich. Ich trete ein und schließe die Tür. Jill kauert in einer Ecke ihres Betts, die Arme fest um die Knie geschlungen. Das Zucken hat aufgehört. Sie weint.
Ich hocke mich hin, um nicht von oben herab reden zu müssen: »Jill, hast du das mitbekommen? Der Notarzt sagt, du müsstest mitkommen, und wenn du das nicht freiwillig machst, ruft der die Polizei. Und das will ich auch nicht.« Ich spreche so einfühlsam ich kann.
Jill schluchzt: »Keiner darf mich anfassen. Keiner!«
»Warum ist das so schlimm für dich? Was ist denn passiert?«
Erst wimmert sie, dann bricht es aus ihr heraus: »Ich wurde vergewaltigt! In Singapur!«
Der nächste Faustschlag. Ich sacke ein. Komisch, dass ich nicht umfalle, dass ich überhaupt noch etwas einstecken kann. Mein Akku ist bei minus zehn Prozent, aber ich geb jetzt nicht auf.
»Jill, das ist ja furchtbar. Wissen das deine Eltern?«
»Jetzt wissen sie es. Die lauschen doch an der Tür. Ist mir aber auch egal. Scheißegal«, schluchzt sie.
»Jill, es ist wichtig, dass du mitkommst. Wir haben gute Psychologen in der Klinik. Mit denen kannst du sprechen.« Gut so. Ich glaube, ich habe den richtigen Ton getroffen.
»Nein. Lasst mich alle in Ruhe. Ich brauch keinen Psychologen. Ich will jetzt alleine sein!«
»Das geht nicht, dann kommt die Polizei.« Ich ahne, dass das hier nicht gut ausgehen wird.
Plötzlich sagt Jill: »Okay, ich komme mit. Gebt mir nur noch zwei Minuten.«
Ich atme tief durch, stehe auf, verlasse das Zimmer, ziehe hinter mir die Tür zu. Geschafft. Bin ein bisschen stolz. Im Wohnzimmer gucken mich alle gespannt an.
»Sie möchte noch zwei Minuten allein sein, dann kommt sie mit.« Ich lächele.
Der Notarzt blickt auf seine Armbanduhr.
Ich gehe zu ihm rüber und bedeute den Eltern, dazuzukommen: »Haben Sie gehört, was sie gesagt hat? Sie ist in Singapur vergewaltigt worden.« Ihre Augen weiten sich. Sie sind entsetzt. Shit. Habe ich gerade die Schweigepflicht gebrochen? Oder hat mir Jill dazu indirekt ihre Zustimmung signalisiert? Ich weiß es nicht. Aber es ist doch wichtig, dass die Eltern das erfahren.
Auf einmal baut sich der Vater auf und schüttelt die Faust: »Wer war das? Den bring ich um!«, ruft er. Scheiße. Es eskaliert. Die Mutter streicht ihrem Mann die Arme, versucht, ihn irgendwie zu beruhigen.
Der Notarzt nimmt den Blick nicht mehr von der Armbanduhr.
»Die zwei Minuten sind um!«, verkündet er und marschiert in den Flur. »Jill.«
Keine Reaktion. Der Notarzt zögert nicht, er öffnet die Zimmertür und tritt ein. »Jill, du hast ja gesagt, dass du jetzt mitkommen würdest. Wir warten alle auf dich.«
Der Feuerwehrkollege, Dennis und ich folgen ihm.
Jill sitzt genauso da wie vorher. »Ich habe es mir anders überlegt«, sagt sie ruhig. »Ich will hierbleiben.«
Der Arzt schüttelt den Kopf: »Das geht nicht. Ich will Ihnen mal was sagen. Sie hatten einen Krampfanfall. Damit ist nicht zu spaßen. Der kann immer wieder auftreten und tödlich enden. Deshalb machen wir jetzt Schluss mit diesem Spielchen und fahren los. Oder sollen wir die Polizei rufen?«
Jill wird wieder laut: »Nein. Haut ab! Das ist mein Zimmer hier. Mama, Papa, helft mir!« Sie schluchzt nicht, sie ist erregt. Fängt an, um sich zu treten.
Der Notarzt verliert die Geduld. »Ich ruf jetzt die Polizei, und die junge Dame bekommt eine Tavor-Spritze zur Beruhigung«, sagt er zum Feuerwehrkollegen. Er geht aus dem Raum und telefoniert. Der Kollege holt seinen Rucksack. Im Flur zieht er eine Spritze auf.
Mir gefällt das alles überhaupt nicht. »Bitte, Jill«, flehe ich sie an, »du hast das noch in der Hand. Komm doch einfach mit. In wenigen Stunden bist du dann wieder zu Hause.«
Doch Jill lässt sich nicht darauf ein. Sie weint wieder. »Ich will einfach nur hierbleiben. Bitte lasst mich in Ruhe.«
Der Notarzt kommt zurück. Er sieht unzufrieden aus. »Die Polizei trifft wahrscheinlich erst in zwanzig Minuten ein, dabei habe ich eigentlich schon Feierabend. Aber zur rechtlichen Absicherung ist das gut, wenn die auftauchen. Wir können ja mal schauen, wie weit wir kommen.«
Was meint er damit?
»Wie hast du dir das vorgestellt?«, frage ich leise. In dem Moment kommt der Kollege mit der Spritze in der Hand herein.
Jill fängt lauthals an zu schreien: »Keiner fasst mich an! RAAUUS
Der Arzt greift sich in den Nacken. »Wir gehen noch mal vor die Tür«, sagt er. Im Flur zieht er uns drei zur Seite: »Wir gehen da gleich rein. Ihr fixiert sie, und ich geb ihr die Spritze in den Oberschenkel. Dann wird sie sich schon beruhigen.« Danach verschwindet er ins Wohnzimmer zu den Eltern.
Meint der Typ das ernst? Wir sollen sie »fixieren«? Ein blumiger Begriff für »Gewalt anwenden«. Ich blicke den Kollegen von der Feuerwehr fragend an.
Er hebt die Schultern: »Ich find das ja auch nicht gut, aber lass es uns hinter uns bringen.«
»Sehe ich auch so. Wie sollen wir sie sonst mitnehmen?«, sagt Dennis. Ich bin also in der Minderheit. Soll ich jetzt noch was sagen? Meine Bedenken äußern? Gegen den Notarzt rebellieren, meinen Vorgesetzten? Nein. Bin zu schwach.
Auch die Eltern scheinen sich ergeben zu haben. Ich höre die Mutter: »Wenn Sie meinen, dass das nötig ist, tun Sie es.«
Der Notarzt kommt zurück, nickt uns zu und öffnet die Tür, wir drängen rein. Vier ausgewachsene Männer gegen eine junge Frau auf dem Bett.
»Jill, kommst du jetzt mit?«, will der Arzt wissen.
»Nein. Und wehe, ihr kommt noch näher!«, droht sie.
»Okay, dann lässt du uns keine Wahl. Ich werde dir jetzt diese Spritze zur Beruhigung in den Oberschenkel geben. Wenn du das nicht freiwillig machen lässt, müssen wir dich leider festhalten.«
»Keiner berührt mich!« Jill ist in Lauerstellung. Sie wird sich niemals freiwillig ergeben.
Der Arzt hebt kaum sichtbar die Hand. Dann sagt er: »Jetzt.«
Wir greifen die Extremitäten der zappelnden Jill. Dennis hält die Arme, der Feuerwehrkollege und ich jeweils ein Bein. Es ist eine immense Kraftanstrengung. Jill hält nicht still, sie zappelt, schlägt, tritt um ihr Leben. Sie kämpft und schreit:
»Hilfe, Vergewaltigung. Mama, Papa, Hilfe, Vergewaltigung!«
Ich umklammere ihr rechtes Bein. Sie kickt mir in den Magen. Auch der starke Feuerwehrkollege hat Probleme. Der Notarzt visiert den Oberschenkel an und sticht schließlich zu, durch Jills Jeans hindurch, drückt den Kolben der Spritze. Jill brüllt. Ein letzter, verzweifelter Schrei. Ein Urschrei. Der Arzt zieht die Nadel raus, und wir lassen los. Verlassen das Zimmer, eine lautlos weinende Jill im Rücken.
»Das war nicht gut. Gar nicht gut. Das ist nicht unser Job«, schimpft der Feuerwehrkollege. Ich fühle mich genauso. Geschockt, betroffen. Mir wird klar, was wir da gerade gemacht haben. Vier große Männer stürzen sich auf eine wehrlose junge Frau. Eine Frau, die es gerade erst über die Lippen gebracht hat, dass sie vergewaltigt wurde. Das ist doch völlig irre. Wie soll sie das jemals verarbeiten?
Der Notarzt scheint aber ganz zufrieden: »Jetzt noch fünf Minuten warten. Dann wird das Tavor schon wirken.«
Hat er den Schuss nicht gehört? Hat er überhaupt noch einen Funken Empathie in sich? Macht er sich gar keine Vorwürfe?
Jills Eltern sagen kein Wort. Sie haben es geschehen lassen. Sind wahrscheinlich fassungslos darüber, was passiert ist.
Nach fünf Minuten kehren wir zurück ins Zimmer. Jill ist sichtlich neben sich.
»Steh bitte auf und komm mit«, fordert der Notarzt. Ganz langsam erhebt sie sich. Ist etwas wackelig auf den Beinen. Ich will sie stützen, aber sie dreht sich weg.
Es klingelt. Zwei Polizisten kommen ins Haus. Der Notarzt erläutert den Fall, während Jills Mutter ihrer Tochter Schuhe und Jacke anzieht. Ich höre die Worte »Selbstgefährdung«, »alternativlos« und »Spritze«. Die Polizisten nicken und machen sich Notizen. Anscheinend haben sie keine Einwände. Was der Notarzt sagt, ist Gesetz.
Ich fühle mich elend. Der Feuerwehrmann hat recht. Das ist nicht unser Job. Ich bin für meine Patienten da, und in diesem Zimmer ist das Gegenteil passiert. Vielleicht war Jill wirklich nicht mehr zurechnungs- und einsichtsfähig, und dass sie in die Klinik muss, steht außer Frage. Aber es ist nicht meine Aufgabe, eine Patientin zu fixieren. Niemals. Das ist Aufgabe der Polizei. Ich hätte mich weigern können. Nein, ich hätte mich weigern müssen. Ich habe versagt. Ich habe mich einschüchtern lassen. Ich bin schwach. Sehr schwach.
Im Rettungswagen sitzt mir Jill mit gesenktem Kopf gegenüber. Wir haben sie gebrochen. Sie macht alles, was ihr gesagt wird, gibt keine Widerworte. Auch nicht, als sich ihr in der Klinik der Psychologe vorstellt.
»War ja echt nicht einfach, die Kleine. Aber wir haben das gut hinbekommen.« Der Notarzt klopft mir auf die Schulter. Viel länger sind Einsatznachbesprechungen selten. Das ist normalerweise auch kein Problem. Diesmal schon. Und doch kann ich nichts erwidern. Schäme mich so.