ALLEIN
Die Erinnerung war gar nicht weg. Der Papierkorb wurde nie vollständig geleert. Dabei hatte ich es mir doch so sehr gewünscht. Einfach weg damit. Für immer. Ich habe es Marie nie erzählt. Ich habe es niemandem erzählt. Irgendwann nicht mal mehr mir selbst. Mit Erfolg. Das Drecksmonster hat sich zurückgezogen. Ich konnte es nicht mehr hervorlocken, selbst wenn ich gewollt hätte. Trügerische Ruhe. Zehn Monate Winterschlaf. Jetzt ist es erwacht und schlägt um sich. Schlägt seine Klauen in meinen Kopf. Es will meinen Kopf.
Die Blitze verstärken sich. Ich sehe mehr Details. Es fügt sich in meinem Großhirn zusammen wie ein Puzzlespiel. Dieters Grillstation. Der geschockte Nachbar. Die verwahrloste Frau. Meine Verwirrung. Und dann das Gesicht des Säuglings. Das verkrustete Blut. Mein Entsetzen. Ich umfasse den steifen Körper. Höre den Beatmungsbeutel auf den Boden klatschen. Klatschen. Klirren. Gläser, die am Boden zerklirren. Ein totes Kind, fallen gelassen. Ekel. Panik.
Ich krümme mich vor Schmerz, vor Trauer, vor Entsetzen und Wut. Weine um das Kind, weine um mich. Ich konnte nichts tun, konnte nicht helfen. Schreie stumm in diese schreckliche Welt. Sie bricht zusammen, bricht in mir zusammen, bricht über mir zusammen. Geröll und Schutt gehen auf mir nieder, ich werde weggerissen, fortgespült, fast ertränkt in einem Sturzbach aus Tränen.
Wie lange sitze ich schon auf der Couch? Minuten? Stunden? Die ganze Nacht? In mir rast es. Gedanken und Gefühle wirbeln durcheinander, kollidieren, explodieren. Kreisen um die eine Erkenntnis: Ich bin an den Kern gelangt. Den Auslöser für alles, für den wiederkehrenden Traum, meinen körperlichen Verfall, meine Traurigkeit, meine Ängste. Mein Versagen. Ich habe die Quelle gefunden. Kenne den Ursprung. Ich habe meinem Verfolger in die Augen geblickt und ihn durchschaut.
Und plötzlich halte ich es nicht mehr aus. Es reicht jetzt, es ist zu viel. Ich schaffe es nicht. Alleine schaffe ich es nicht mehr.