ZU ZWEIT
Im Morgengrauen zu Fuß zum Bahnhof. Sofort. Ohne Tasche.
Ich dachte, wir würden uns erst mit siebzig wiederbegegnen. Beim Taubenfüttern im Park. Drauf geschissen. Ich will, ich muss Luzi sehen. Wo finde ich Dich?
, hab ich ihr getextet. Kommentarlos kam eine Adresse zurück: Bremen, am Rande der Stadt.
Nehme vom Bahnhof aus den Bus: Innenstadt, Stadtautobahn, Industriegebiet, Vorort, Land, Bauernhöfe. Luzi. Das Sonnenkind. Sie taucht die Dinge in neues Licht. Kaputtes glänzt golden. Krankes wirkt rosig. Verlorenes wird aufgehoben. Wenn ich irgendwo Heilung finden kann, dann bei ihr.
Der Bus rumpelt über eine Straße voller Schlaglöcher. Und hält schließlich direkt bei der angegebenen Adresse.
Bin da
, schreibe ich Luzi und warte. Betrachte die Häuser, rot gestrichene Holzfassaden, weiße Fensterrahmen wie in Schweden. Bullerbü. Ein bisschen albern.
Ein Hahn kräht, die Luft ist frisch mit einem Hauch von süßlichem Herbstmoder und Schweinestall. Die Bäume und Sträucher haben Blätter gelassen. Bald ist alles kahl. Ich fröstele.
»Kim! Ich dachte, ich seh dich nie mehr wieder!«
Ich drehe mich um, und da sind sie. Die großen, freundlichen Augen, die langen braunen Locken, die bei jedem Schritt wippen. Sie ist da, als wäre sie nie weggewesen. Frei von Zweifeln, Neugierde im Blick. Sie wirkt wie mein komplettes Gegenteil. Luzi die Antithese. Und ich der Antichrist. Hoffentlich sehe ich nicht mehr so verheult aus.
»Sag mal, hast du gekifft?«
Es fällt mir schwer, mich zusammenzureißen. Ich versuche, die Fassade aufrechtzuerhalten. Rücken durchdrücken, einfach drauflossprechen. Ich räuspere mich: »Hätte nicht gedacht, dass du mit deiner WG
so am Arsch wohnst.«
»Das hier ist nicht die WG
. Da bin ich raus und dann hierhergezogen. Ich lebe gerade bei einer Freundin, die hatte ein Zimmer frei und hat mich eingeladen. Du wirst sehen, es ist superschön hier.« Luzi macht auf ihren nackten Sohlen kehrt.
Auf einem Schotterweg spazieren wir um die Bullerbü-Häuser herum. Dahinter erstreckt sich ein weites Gelände mit weiteren Häusern, wilden Gärten, Feuerstellen, einer riesigen Schaukel und einem großen Trampolin. Eine Horde Kinder rennt vorbei, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
»Was ist das hier?«, frage ich.
»Ich würde mal sagen, so ’ne Art Ökokommune. Die Philosophie ist, möglichst naturnah zu leben, die Natur nicht zu belasten, sich selbst zu versorgen. Da hinten sind Gemüsegärten. Der Rest kommt vom Bauernhof nebenan.«
»Na, das passt doch zu dir.«
»Cool, ne? Es geht aber auch um die Gemeinschaft. Sich gegenseitig zu helfen, füreinander da zu sein, gemeinsam zu feiern und so was. Und jeder muss zehn Stunden im Monat Gemeinschaftsarbeit leisten. Das ist sehr streng geregelt.«
»Und was muss man da machen?«
»Was er oder sie so kann. Das meiste ist aber Gartenarbeit.«
»Unbezahlt?«
»Ja klar!«
»Zehn Stunden unbezahlt, das klingt ja fast nach dem Überstundenmodell im Rettungsdienst.« Ich versuche mich an einem Lächeln. Es fällt schwer.
»Musst du eigentlich gar nicht arbeiten?«
»Nee, ich … ich hab frei. Und du, wie war’s denn noch auf Texel?«
»Ich hab noch ein paar Tage mit diesen Typen verbracht, Chris und Andi, diese Poser. War aber nicht mehr so schön, nachdem ihr weg wart. Den einen Abend hat sich Andi an mich rangemacht und irgendwann gegrabbelt. Da hab ich ihm einen gegeben.«
Ich bleibe stehen. »Wie, du hast ihm einen gegeben?«
»Na, ich hab ihm einen Tritt in die Eier gegeben. Kam nicht so gut an.«
»Überraschenderweise«, werfe ich ein und muss grinsen.
Luzi geht weiter, direkt auf das letzte Holzhaus zu. »Jedenfalls bin
ich dann einfach zurück nach Bremen getrampt. Ende der Geschichte. Und da wären wir schon«, lächelt sie mich an und holt einen Schlüssel aus der Jackentasche. Die Haustür ist übersät mit Aufklebern. The climate is changing, why aren’t we?
Kein Mensch ist illegal.
FCK AFD.
Ich stehe hinter ihr und schließe die Augen. Atme tief durch. »Okay, Luzi. Ich will dir nichts vormachen.« Meine Stimme ist leise. Luzi hält inne. »Ich kann nicht weiter den freundlichen Besucher spielen.« Öffne die Augen. »Ich … ich kann überhaupt nichts mehr.«
»Was soll das heißen? Was ist denn los?« Sie lässt den Schlüssel im Schloss los, dreht sich um und blickt mich an.
»Ich habe da etwas herausgefunden. Über mich. Etwas, das mich schon länger verfolgt. Etwas, das mich auffrisst. Ich … bin völlig fertig. Zu Hause konnte ich nicht mehr bleiben. Ich … ich wollte … zu dir.«
Luzi hebt ihre Arme und drückt mich an sich. Ist das fair? Darf ich sie da mit reinziehen? Darf ich meinen Dreck auf ihr abladen? Warum zu ihr, warum nicht zu Benny? Vielleicht weil Benny mit seiner Mutter schon genug Leid schultert.
»Komm doch erst mal rein. Meine Freundin ist bis heute Abend nicht da. Wir haben die Bude für uns.« Luzi zieht mich hinter sich her.
Es riecht nach Bioladen. Die Wände sind lehmverputzt. Wir schlängeln uns durch den Flur, vorbei an einem klobigen Bauernschrank. Die Holztür zum Wohnzimmer knarzt. Luzi nickt zu der schwarzen Ikea-Eckcouch, und ich setze mich.
»Was trinken?«, fragt sie.
»Ein Wasser vielleicht?«
Bodentiefe dreckige Fenster. Bücherregale. Etliche Zimmerpflanzen. Kein Flatscreen.
Luzi bringt ein Tablett herein. Darauf eine dampfende Tasse Tee und ein Glas stilles Wasser. Sie reicht es mir und zwinkert: »Gefiltert.«
Auf einem Holztischchen neben dem Sofa steht eine Duftlampe. Luzi träufelt ein paar Tropfen Öl in das mit Wasser gefüllte Glasschälchen und zündet das Teelicht an. Nach wenigen Sekunden riecht es nach Zitrone und Omas Kräutersäckchen.
Sie setzt sich mir schräg gegenüber, zieht die Beine in den Schneidersitz, pustet in ihre Tasse und schaut mir in die Augen. Sie ist bereit.
Ich bin es nicht. Finde keinen Anfang.
»Sag einfach irgendwas«, ermutigt sie mich. »Du hast doch Worte im Kopf. Lass sie raus.«
Lass es raus, Kim. Lass das Monster aus seinem Bau. Scheuche es raus, scheuche es fort.
Luzi schweigt.
»Es war ein Einsatz. Knapp ein Jahr her. Das Haus war so versifft.« Ich wage mich in mich hinein. Jemand hat das Licht angemacht. Wenn ich wollte, könnte ich alles sehen. Aber noch presse ich die Hände vors Gesicht und wage es höchstens, durch einen Spalt zwischen den Fingern zu linsen.
»Ein Nachbar hatte uns alarmiert. Wir wussten nicht, was Sache war, was auf uns zukommt. Es war so eklig, das ganze Haus. Wie in einem Albtraum, wie die Kulissen eines Horrorfilms. So übertrieben, so unwirklich. Es hat gestunken. Überall auf dem Boden war Kacke. Ich wollte am liebsten rückwärts wieder raus.«
Aber ich gehe weiter.
»Mittendrin diese Frau. Besoffen. Vielleicht auf Drogen. Völlig verwahrlost. Vielleicht die Mutter. Vielleicht hat sie einfach um ihr Kind getrauert.«
»Welches Kind?«
»Oben. Oben war ein Kind. Ein Baby. Deshalb hatte der Nachbar uns gerufen. Er dachte, es sei noch zu retten. Auch ich dachte, das Kind sei noch zu retten. Habe gedrückt und gedrückt. Dabei war es längst tot.«
Luzi beugt sich vor. »Das war doch gut. Du wolltest es retten.«
»Luzi!«, heule ich auf. »Das Kind war verletzt! Verstehst du? Es sah aus, als habe es jemand verletzt! Ich weiß nicht, wie – vielleicht geschlagen, gestoßen, fallen gelassen, zum Schweigen gebracht.« Tränen kommen. »Die Nase war aufgeschlagen. Es hatte blaue Flecken.« Das Atmen fällt mir schwer. »So ein kleines Kind! So ein winziges kleines Ding. Ich war so hilflos! Ich konnte nicht mehr helfen. Obwohl das doch mein Job ist. Ich konnte es nicht retten. Ich war zu spät!« Mir versagt die Stimme, erstickt von Schluchzern.
Luzi löst ihre Beine, rückt zu mir, hält mich. Streicht meinen gebeugten Rücken.
Nach einer Weile sagt sie vorsichtig: »Aber es ist doch schon so lange her.«
Ich schlucke. »Ja, aber … es kam erst jetzt wieder hoch. Vorher
hatte ich es irgendwie verdrängt. Es tauchte nur in meinen Träumen auf. Wieder und wieder. Die haben mich fertiggemacht, vor allem weil ich nicht wusste, was sie zu bedeuten haben. Aber seit einem Einsatz gestern kann ich mich wieder erinnern. War eigentlich harmlos. Ein Säugling mit Fieberkrampf, schon abgeklungen. Aber als ich das Kind da liegen sah – das war wie … als hätte jemand eine Tür aufgestoßen. Eine seit Langem verschlossene Tür. Weißt du, ich habe damals niemandem davon erzählt. Du bist die Erste. Ich wollte mich nicht damit auseinandersetzen. Wollte es vergessen. Habe es einfach verdrängt. Als wäre es nie geschehen. Und das war das Schlimmste, was ich hätte machen können.« Ich beginne, in meiner Hosentasche zu kramen. Luzi löst ihren Griff. Ich hole ein Taschentuch hervor und schnäuze mich. »Damit habe ich alles kaputt gemacht.« Eigentlich begreife ich das jetzt erst so richtig. »Ich habe damit mein Leben zerstört. O Gott. Was habe ich getan? Ich schäme mich so!« Ich breche ein. Das Eis knackt, birst, und ich werde in die Tiefe gesogen.
»Kim, hey, Kim.« Mein Entsetzen spiegelt sich in Luzis Blick.
»Ich bin ein elender Versager!«, schleudere ich ihr entgegen. »Ich bin gescheitert! All die Jahre, die ich in die Ausbildung investiert habe. Umsonst. Für nichts. Ich habe einen radikalen Schnitt gemacht, habe alles aufgegeben und bin gescheitert. Was hat es mir denn gebracht? Nichts. Nur Selbstzerstörung. Und alle, die ich an mich rangelassen habe, habe ich mit zerstört. Und dabei nicht mal begriffen, warum. Meine Beziehung ist im Arsch. Und mein Job als Notfallsanitäter …«
»Aber wieso? Was ist denn damit?«
»Ich kann es nicht mehr!«, schluchze ich. »Ich bin unkonzentriert, mache Fehler, schlimme Fehler, gefährde Patienten. Ich habe Angst, regelrechte Panik vor der Arbeit! Ich … ich kann mir nicht vorstellen, je wieder in einen RTW
zu steigen!« Habe ich das wirklich gesagt?
Luzi hat die Knie zur Brust gezogen. »Darf ich etwas sagen, Kim?«
Ich nicke.
»Das, was du da gerade tust, ist unglaublich mutig. Auch wenn du das vielleicht anders siehst. Ich bewundere dich dafür.«
»Wie meinst du das?«
»Ich bin keine Psychologin, aber das, was du mir erzählt hast und was dir da widerfahren ist, klingt nach einem Trauma. Und einer
Belastungsstörung. Wie bei Soldaten, die im Krieg waren. Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Du bist vielleicht völlig falsch damit umgegangen, aber dass du es endlich erzählen kannst, ist doch ein erster Schritt. Ich fürchte nur, dass das nicht ausreicht und du dir professionelle Hilfe suchen musst.«
»Weil ich ein Psycho bin? Weil ich Stimmen höre und unsichtbare Freunde habe?!«
»Tust du das? Ja, das klingt psycho. Du bist ein Psycho. Aber das ist doch kein Wunder nach dem, was dir passiert ist. Das wär ich auch an deiner Stelle. Es ist nicht deine Schuld.«
Wir verstummen und sitzen einfach nur da. In meinem Kopf pocht ein dumpfer Schmerz. Wie ein Blinklicht, eine Leuchtreklame, mit nur einem einzigen Wort: ESCAPE
. Blink. Blink. Blink. Ich kann nie wieder in einen RTW
steigen. ESCAPE
.
»Luzi?«
»Ja?«
»Ich will kein Notfallsanitäter mehr sein. Ich geb auf. Ich will raus. Ich hör auf.« H. P. Kinski hat gewonnen.
»Das kann ich verstehen. Dann hör auf. Ist doch okay.«
»Okay? All die Jahre, die ich verschenkt habe. All das, was ich dafür geopfert habe. Ich habe keinen Plan B.«
»Ja und? Definiert sich denn jeder über seinen Job? Das ist ja furchtbar.« Luzi klingt zum ersten Mal ärgerlich. »Es geht hier nicht um Selbstoptimierung oder Lebensläufe. Es geht um Charakterzüge. Du hast die Zeit nicht verschenkt, und du bist nicht gescheitert. Du wolltest helfen. Das hast du getan. Du warst über Jahre hinweg da für Menschen in Not. Wie cool ist das denn? Jetzt muss man dir helfen. Dringend. Und du machst den Anschein, als dürfte dir jetzt auch endlich jemand helfen. Du hast dich geöffnet. Du hast dich mir anvertraut. Das finde ich krass mutig. Ja. So sehe ich das. Punkt.«
Es klopft an der Haustür. »Ich mach nicht auf«, sagt Luzi. Es klopft noch einmal.
»Ist schon okay, geh ruhig«, murmele ich.
Luzi drückt sich widerwillig hoch und stampft zur Tür.
Eine Frau spricht.
»Tut mir leid. Es passt grad nicht so gut«, höre ich Luzi antworten. »Ja, tschüss. Viel Spaß!«
Sie kommt zurück, nimmt ihren Platz auf dem Sofa ein und leert den Tee.
»Was war denn?«, frage ich.
»Ach, ich wollte eigentlich bei so ’ner Yogastunde mitmachen.«
»Okay.«
»Ist nicht schlimm. Ist nur so ein Nachbarschaftsding. Kann ich auch nächstes Mal machen.«
Ich nicke, und wir verfallen in Schweigen. Das Teelicht der Duftlampe erlischt. Ich spüre, wie sich Ruhe in mir ausbreitet.
Es klopft wieder.
»O Mann!«, schnaubt Luzi. Ich strecke meine steifen Beine und stehe auf. Müsste eh mal meine Blase leeren.
Ich folge Luzi in den Flur, wo ich ein Gästeklo vermute. In der Haustür steht ein kleiner Mann mit einer zusammengerollten Matte unterm Arm. Er trägt T-Shirt und kurze Hosen. Ich schaudere beim bloßen Anblick.
Als er mich kommen sieht, unterbricht er seinen Satz, hebt die Hand zum Gruß und ruft: »Hallo, fremder Mann!«
Ich bleibe stehen. »Hallo.«
Der Mann wendet sich wieder Luzi zu: »Also, es geht gleich los. Komm schon, ich würde mich freuen.« Dann blickt er zurück zu mir: »Du darfst auch mitmachen, wenn du möchtest.« Seine Stimme ist tief und sanft.
»Was denn? Yoga?«, frage ich verdattert.
»Ja! Ich gebe eine Stunde im Gemeinschaftsraum. Ich lade euch beide ein. Es kostet nichts.«
Yoga? Ich? Jetzt?
»Das ist nett, Victor«, wendet Luzi ein, »aber ich glaube, das ist wirklich nicht der richtige Moment.« Sie guckt mich an. Ich zucke mit den Schultern. Warum eigentlich nicht?
»Na gut. Okay. Wir besprechen das mal«, nickt sie Victor zu.
»In fünf Minuten geht’s los! Ihr braucht nur eine Matte«, ruft er und zieht weiter.
Als die Tür geschlossen ist, erklärt sie: »Victor ist ein bisschen extrem. So ein Esoteriktyp. Er hat ’ne Homepage, auf der nennt er sich Geistheiler. Aber das ist jetzt wirklich nicht das Thema. Sollen wir nicht da weitermachen, wo wir aufgehört haben?«
»Hm … vielleicht tut mir eine kurze Pause ja ganz gut. Ich muss irgendwie mal raus. Ein bisschen Ablenkung. Ist doch nur Yoga. Würd ich ausprobieren, solange du mitmachst«, sage ich.
»Das hätte ich nicht erwartet. Du willst echt nicht weiterreden?«
»Können wir doch später machen. Und jetzt schieben wir erst mal ein bisschen Sport dazwischen. Ich hab das Gefühl, das täte mir gut, ehrlich.«
»Äh, okay. Dann warte mal kurz. Wir können das nicht in Straßenklamotten machen. Ich besorg uns noch schnell was Gemütlicheres.« Luzi läuft die Holztreppe hoch.
Warum habe ich zugesagt? Wollte ich einfach nur nett sein? Nein. Der Jung muss an die frische Luft, hab ich die Tante im Ohr und öffne die Tür zum Gästebad.
Zwei Minuten später kommt Luzi mit Mattenrollen unterm Arm und Jogginghosen in der Hand die Treppe herunter.
»Willkommen zu meiner Yogastunde. Schön, dass ihr alle da seid«, sagt Victor in die Runde.
Eines der Bullerbü-Häuser hat im Erdgeschoss einen großen Gemeinschaftsraum. Er ist fast leer, bis auf ein paar Sofas und Sitzkissen und eine Küchenzeile in der Ecke. Luzi und ich bilden mit Victor und acht weiteren Menschen in der Mitte des Raums einen Kreis. Sie sind alle älter als ich. Wir haben Schuhe und Socken ausgezogen, Luzi hat sich die Füße abgerubbelt. Die Jogginghose ist mir zu eng und zu kurz.
Victor fährt fort: »Weil einige von euch danach gefragt haben, möchte ich heute noch einmal eine Stunde Kontaktyoga anbieten. Kontaktyoga, wie ich es nenne, das achtsame Zusammensein mit anderen, die behutsame, platonische Berührung, das Halten und Gehaltenwerden – all das hat eine äußerst positive Wirkung auf unser Wohlbefinden, auf unsere körperliche und seelische Gesundheit. Wir erleben ein tiefes Gefühl von Zugehörigkeit und Aufgehobensein. Wir können nicht nur entspannen – wir können uns fallen lassen.«
Ach du Scheiße. Ich schaue hilfesuchend zu Luzi, die ratlos zurückgrinst.
»Schließt die Augen«, erfüllt Victors dunkle Stimme den Raum. Und ich tue, was er sagt.
»Spürt den Boden unter euren Füßen.« Holz. »Richtet euch auf.« Ich strecke die Wirbelsäule und drücke die Brust raus. »Atmet tief ein. Und aus. Und ein. Und aus.« Okay. Tut doch gut. So ein bisschen runterkommen, einem anderen die Führung übergeben. Ich lege die Handflächen vor meiner Brust aneinander, so wie Victor es ansagt, und komme »im Hier und Jetzt« an.
»Lasst bitte die Augen noch geschlossen. Wir gehen nun in Kontakt. Vergesst nicht: Es gibt hier kein ›Müssen‹. Lasst euch einfach treiben. Seid spontan. Erlebt die Nähe. Ihr seid nicht allein, ihr seid geliebte Wesen.« Victor macht eine Kunstpause. »In der ersten Übung fassen wir uns im Kreis an den Händen.« Von beiden Seiten werden meine Hände gesucht und gefunden. Die Frau links greift zaghaft zu. Luzi hingegen hält meine rechte Hand, als würde sie nie mehr loslassen wollen.
»Atmet. Spürt, wie die Energie von einem zum anderen fließt«, sagt Victor. Ich atme. Luzi drückt ein paarmal schnell hintereinander meine Finger. Ich drücke zurück, dann lasse ich los und pikse ihr in die Seite. Sie unterdrückt ein Kichern, räuspert sich, greift wieder meine Hand. Wo sind wir hier nur gelandet?
»Öffnet die Augen«, weist Victor uns an. »Und jetzt: Lauft einfach frei herum, frei durch den Raum, und nehmt denjenigen fest in den Arm, der euch entgegenkommt.«
Alle beginnen, bedächtig durch den Raum zu schreiten. Ich zögere.
»Darf ich dich in den Arm nehmen?«, brummt ein Mann hinter mir. Er kommt um mich herum. Ein großer, älterer Kerl mit Glatze. Seine Statur erinnert mich an Benny. Er blickt mich fragend an.
»Ja, okay«, entscheide ich, und sofort umschlingen mich zwei breite Pranken. Der drückt wirklich fest zu. Das geht auf die Atmung. Ich halte es aus. Mein Gesicht an seiner Schulter. So stehen wir da. Und jetzt? Lässt der von alleine wieder los? Oder muss ich was sagen?
Da nähert sich eine kleine schwarzhaarige Frau von der Seite: »Darf ich auch mitmachen?«
»Ja«, willigt der Mann ein, bevor ich auch nur den Mund aufmachen kann.
Die Frau versucht mit ihren kurzen Armen, mich und den großen Kerl gleichzeitig zu packen. Er löst einen Arm von mir und legt ihn um sie. Ich bekomme wieder Luft. Der Mann senkt den Kopf und legt seine
Stirn an meinen Hals. Das ist zu viel.
»Vielen Dank. Ich … ich geh jetzt mal zu den anderen«, sage ich leise, aber bestimmt. Unser Knäuel löst sich auf.
Victors Stimme ertönt erneut. »So. Und jetzt wollen wir uns alle auf den Boden legen. Breitet eure Matten aus.«
Ich hole unsere Matten vom Eingang und schlängele mich zu Luzi durch, die sich aus der Umarmung einer Frau befreit. Beide lächeln sich an, dann legen wir uns alle hin, ich direkt neben Luzi.
»Spürt die Kraft der Erde. Sie hält euch«, sagt Victor salbungsvoll.
»Ich weiß nicht, ob ich das bis zum Ende durchhalte«, flüstere ich Luzi ins Ohr.
»Ich auch nicht«, antwortet sie.
Victor setzt wieder an: »Schaut eure Nachbarin oder euren Nachbarn an. Dreht euch zu ihm und umarmt ihn. Spürt seine Energie.«
Luzi und ich gucken uns an. Ihre Augen lächeln. Sie funkeln. Sie fordern. Das ist neu. Ein warmer Schauer läuft mir den Rücken herunter. Ich rücke näher und umarme sie. Sie schmiegt sich an mich. Wie auf Texel. Und doch anders. Wir sind uns so nah. Keine Schlafsäcke zwischen uns. Meine Wange an ihrer. Sie duftet. Ich möchte in ihre schönen Augen schauen. Hebe den Kopf an. Da küsst sie mich. Erst zart, dann richtig. Tief. Wild. Augen zu. Endlich. Ich schiebe meine Hand unter ihr Shirt und halte ihren Rücken. Haut. Herzklopfen. Auch ihre Hände wandern unter mein Shirt. Sie krallt sich fest. Sie will mehr.
»Entschuldigung, erotische Gedanken sind hier erlaubt, aber keine erotischen Handlungen.« Victor klingt irritiert. Ich erstarre. All eyes on us. Luzi lässt sich nicht stören. Sie schwingt sich rittlings auf mich und strahlt mich an.
»Luzi, Luzi, bitte aufhören!«, ruft Victor gereizt.
Luzi beugt sich vor und küsst mich wieder. Ich lasse es geschehen.
Victor nicht. Er steht auf und rüttelt Luzi an der Schulter: »Aufhören. Geht. Nicht hier.«
Luzi kommt wieder hoch. »Gute Idee«, sagt sie und lässt mich nicht aus den Augen. Sie stellt sich hin und reicht mir die Hand. Ich ziehe mich an ihr hoch, lasse Socken und Schuhe, wo sie sind, und stürme mit Luzi raus, durch den Flur ins Freie. In die Abenddämmerung. Der
Boden ist kalt und feucht, Steinchen stechen in meine Fußsohlen. Egal.
Luzi zieht mich mit. Wir laufen, als würde die Uhr gegen uns ticken. Als dürften wir keine Zeit verlieren. Keuchend erreichen wir das letzte Holzhaus. Luzi schließt auf, und wir eilen die Treppe hoch. Hand in Hand.
Sie öffnet die Zimmertür zur Rechten. Drückt mich hinein, wirft mich aufs Bett. Setzt sich auf mich. Und hält inne.
»Moment«, sagt sie. Sie springt wieder auf, läuft zur Tür und schließt ab.
Wir liegen im Dunkeln. Neben mir unter der Decke Luzi, nackt und weich.
Ich fliege mit meinen Gedanken. Gleite vorbei an Benny und mir, uns umarmend in der Bar. Sehe mich den Metalhead reanimieren, über ihm auf der Trage kniend. Dann hält er meine Hand und ich seinen Blick, in dem Krankenzimmer auf der Intensivstation. Beobachte Marie, ein Buch im Schoß, die Füße auf dem Balkongeländer. Schwebe durch die leere Wohnung, viel zu groß für mich allein. Und lande am Bett des Babys. Panik steigt auf. Ich versuche, das Bild wegzuschieben, aber es gelingt nicht. »Nach oben, nach oben!«, ruft der Nachbar. Ich bin schon oben, aber ich bin zu spät.
»Luzi?«, flüstere ich.
»Ja?«
»Was glaubst du, wo geht man hin, wenn man stirbt?«
Sie überlegt eine Weile. »Ich glaube, man bleibt. Wird eins mit den Dingen, die einen umgeben. Wird ein Teil der Menschen, die einen lieben.«
Irgendwann sage ich: »Kennst du Nangijala?«
»Ja«, antwortet sie und greift mich. »Das ist auch ein schöner Gedanke.«
Staub tanzt im Sonnenlicht, das schräg neben uns aufs Bett fällt, durch einen Spalt zwischen den schweren Vorhängen. Luzi schläft noch. Atmet leise.
In mir herrscht Ruhe. So etwas wie Zufriedenheit. Ein Hauch von Glück. Tauben zu füttern im Park mit siebzig Jahren braucht keiner.
Das hier ist viel intensiver. Das fühlt sich nach Leben an. Berührung. Begehren. Das habe ich gebraucht. Und Luzi auch, da bin ich mir sicher.
Sie öffnet ihre Lider. Auf diesen Moment habe ich gewartet.
»Gilt dein Angebot noch?«, schießt es aus mir heraus.
»Welches Angebot?«, fragt Luzi schläfrig.
»Du und ich. Auf Texel.«
Ihre Augen weiten sich. Sie ist schlagartig wach, stützt sich auf. »Ja, das gilt noch.«
»Dann greif ich zu. Zweite Chance. Ich komme mit«, sage ich. Ich sehe ihr Lächeln. »Ich weiß zwar auch nicht, wie wir das hinkriegen sollen, aber wir machen das einfach.«
Ich küsse Luzi ein letztes Mal, zum Abschied.
»Danke«, hauche ich ihr ins Ohr. »Dass ich dir alles erzählen durfte. Und du auch noch zugehört hast.« Der Bus öffnet die Vordertür.
»Es war mir eine Ehre«, raunt sie zurück.
Ich löse mich, steige ein, kaufe eine Fahrkarte und drehe mich noch einmal um.
»Ich freu mich auf die Zugabe«, ruft sie und die Tür schließt.
Die Foo Fighters spielen nie eine Zugabe. Aber wer zum Teufel sind schon die Foo Fighters?