MARIE
Auf einmal habe ich also einen Plan, eine Lösung, einen Ausweg. ESCAPE
. Habe ich die Kraft dazu? Ich muss die Kraft haben. So wie jetzt geht es nicht weiter. Es geht nicht anders. Ich will es. Gegensteuern. Aussteigen.
Ich sammele Kleidungsstücke vom Parkett auf, schlage sie aus, schnüffele daran. Kann ich davon noch irgendwas anziehen? Die meisten stopfe ich in den Wäschekorb, die Waschmaschine läuft schon.
Das Schwierigste wird sein, es allen zu sagen. Meinen Eltern, meinen Kollegen und Benny. Vor allem Benny. Aufgeben – das ist nicht sein Ding. Das war bis gestern eigentlich auch nicht mein Ding.
Stehe mit einem großen Müllsack in der Küche und werfe alles rein: verschrumpelte Äpfel, abgelaufene Brotaufstriche, alte Zeitschriften, Maries vertrocknete Blume.
Mit Marie muss ich auch sprechen. Sie hat die Wahrheit verdient. Sie soll wissen, was ich verschwiegen habe. Was zwischen uns stand. Warum ich nicht mehr für sie da sein konnte. Ich war der Grund für unser Scheitern, nur ich, und es wird Zeit, dass sie das weiß. Ich muss endlich zu der Scheiße stehen, die ich gebaut habe. Richtige Scheiße, meine Verantwortung. Ich muss das aushalten. Das kann mir niemand abnehmen.
Bevor ich alles hinschmeiße und über die Grenze fahre.
Sie hat mir nicht geantwortet. Keine Nachricht. Nicht mal eine kurze Absage. Deshalb stehe ich jetzt einfach vor ihrer Tür. Besser gesagt: vor der Tür ihrer Eltern. Wie ein Stalker.
Soll ich wirklich klingeln? Ist Marie zu Hause? Wohnt sie überhaupt noch hier oder hat sie inzwischen eine neue, eigene Wohnung gefunden? Das hier ist meine beste Chance.
Entschlossen ziehe ich die Hand aus der Jackentasche und klingele.
Es dauert nicht lang, und Maries Vater öffnet.
»Äh, Kim? Was machst du denn hier?«, fragt er verwirrt.
»Hallo, Karl, ich möchte kurz mit Marie sprechen«, erkläre ich.
Karl wirkt nervös. »Weiß sie davon? Habt ihr euch verabredet?«
»Nein, das ist ein … Überraschungsbesuch.«
»Warte …« Karl schließt die Tür. Ich höre Stimmen. Es wird diskutiert. Ich erkenne Maries Tonfall, aber verstehen kann ich nichts. Mit einem Mal öffnet sich die Tür einen Spalt. Marie linst hindurch.
»Kim, was soll das? Ich hätte dir wohl geantwortet, wenn ich ein Treffen gewollt hätte«, sagt sie barsch.
»Ich will nur kurz mit dir reden. Wirklich. Dann bin ich auch sofort wieder weg.«
Marie seufzt. »Okay, ich komme zu dir raus. Wir können ja da vorne auf den Platz gehen.«
Die Tür geht zu und kurz darauf wieder auf. Marie schlüpft mit Schal und Jacke heraus, ihr Blick griesgrämig. Schweigend gehen wir durch den kleinen Park vor dem Haus in Richtung Bank. Ich beobachte sie im Augenwinkel. Irgendwie hat sie sich verändert. Nicht optisch. Aber den Gesichtsausdruck kenne ich nicht. Er hat etwas Hartes. Das passt gar nicht zu ihr.
Wir setzen uns. Sie ans eine Ende der Bank, ich ans andere. Zwischen uns würden noch drei weitere Leute passen.
»Okay, Kim, was ist los? Warum kreuzt du hier auf?«, fragt sie gereizt.
»Ich … ich weiß es jetzt.«
»Was weißt du jetzt?«
»Warum wir uns fremd geworden sind.«
»Ach, Kim.« Marie verschränkt die Arme. »Müssen wir das wirklich wieder durchspielen? Das wissen wir doch beide. Du hast dich verändert. Hast dich für irgendwas interessiert – aber nicht mehr für mich. Warst nicht da, als ich dich gebraucht habe …«
»Es hatte einen Grund, warum ich dich ausgesperrt hab«, unterbreche ich sie. Bin selbst verwundert, wie ruhig meine Stimme bleibt.
Sie schaut mich zum ersten Mal richtig an. Wirkt überrascht. Ich hole Luft.
»Vor zehn Monaten hatte ich einen richtigen Scheißeinsatz. So
richtig. Ein Säugling ist gestorben. Drei Monate alt. Ich … ich konnte nichts mehr machen. War völlig hilflos. Das Szenario war die Hölle. Ich war gefangen in einem Albtraum. Ich … kam da so gar nicht drauf klar.« Ich beobachte Marie. Wie sie mich anblickt. Anders als eben. Da sitzt die alte Marie vor mir, die geduldige, die vernünftige, die verständnisvolle. Das war sie, jedenfalls für eine lange Zeit.
»Und warum konntest du mir das nicht erzählen? Ich wär doch für dich da gewesen. Es war doch so eng zwischen uns.«
»Ich konnte nicht. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich damit einfach nicht klarkomme. Und deshalb habe ich es verdrängt. Jedenfalls habe ich es versucht. Und ob du’s glaubst oder nicht, irgendwann konnte ich mich tatsächlich nicht mehr daran erinnern. Aber auch das hat nichts gebracht. Im Gegenteil. Es hat alles noch verschlimmert. Der Fall hat mich weiter verfolgt, unterbewusst. All das hat mich zerstört. Es … hat uns zerstört.«
Es ist raus. Alles ausgekotzt, alles kaputt. Und ich stapfe durch die Trümmer, aber ich bin noch nicht am Ende. Noch fehlt der Schlussakkord. Das erlösende C-Dur: »Ich bin der Arsch. Ich war zu feige und zu stolz. Ich bin verantwortlich für alles. Das wollte ich dir einfach sagen. Ich bin verantwortlich für unser Ende.«
Ich senke den Blick. Stille. Ein leichter Wind weht vertrocknete Blätter vor unsere Füße. Macht sie mir gleich Vorwürfe? Ich bin bereit, Schläge zu kassieren. Meine Deckung ist unten, doch Marie bleibt ruhig.
»Danke«, sagt sie. Ihre Augen glänzen. »Ich habe immer gewusst, dass da irgendwas ist. Dass irgendwas zwischen uns steht. Und ich habe mir so oft den Kopf darüber zerbrochen. Scheiße, Kim. Es tut mir leid.« Sie gibt den Kampf gegen die Tränen auf. Still und leise weint sie in sich hinein.
Fuck. Damit habe ich nicht gerechnet. Damit kann ich nicht umgehen. Ich blicke mich um, ob wir beobachtet werden.
»Es tut mir leid, dass du so eine Scheiße erleben musstest«, schnieft sie. Ich hätte sie umarmen wollen, ihr Haar an meiner Wange spüren, sie trösten wollen – zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Wir werden nie mehr die sein, die wir waren. Das weiß ich, das weiß Marie.
Und wie zum Beweis zieht sie die Nase hoch und die Augenbrauen zusammen und sagt: »Aber es tut mir nicht leid, dass es jetzt so
gekommen ist. Ich habe dir so viele Chancen gegeben. Du hast sie nicht ergriffen.«
Doch noch ein Faustschlag in die Magengrube. Ich nehme ihn hin. Was soll ich auch sagen?
Sie wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht und steht auf: »Kim, ich geh jetzt wieder rein.«
»Okay.« Es gibt nichts zu sagen. Unser Ende hat jetzt ein Ende, und das ist es.
Sie geht. Ich bleibe auf der Parkbank sitzen. Stünde neben mir eine Boombox, was wollte ich hören? Einmal Was hat dich bloß so ruiniert?
von den Sternen, bitte. Laut. »Warst du nicht fett und rosig? Warst du nicht glücklich? Was hat dich bloß so ruiniert?«