SCHICHT
»So gefällst du mir. Die hättest du gleich nach der Ausbildung anziehen sollen«, kommentiert Benny mein Outfit. »Nur deine Nase sieht immer noch ordentlich zermatscht aus.«
»Das ist nicht witzig«, antworte ich.
»O doch!« Er hebt die Hand. »Ich muss mal schnell wohin. Hol dich gleich hier ab.« Und verschwindet.
Mir rutscht das Herz in die Hose. Alles in mir schreit: Geh! Geh nach Hause und lass es gut sein.
Aber ich habe es Benny versprochen, und so stehe ich jetzt in der Umkleide seiner Stammwache und stecke in einer Feuerwehr-Rettungsuniform.
Benny, dieser Wahnsinnige. Er hat es wirklich hinbekommen. Hat nur eine Woche gedauert. Ich fahre heute meine letzte Schicht. Mit ihm. Auch wenn ich nur als Dritter mit an Bord bin, sozusagen als Praktikant, und bei der Anfahrt hinten sitzen muss. Und niemals die Einsatzleitung übernehmen darf, das war Bennys Vorgesetztem ganz wichtig. Benny ist und bleibt der Chef, aber ich darf Patienten behandeln, solange ich das mit meinem Team abspreche.
Ich drehe mich im Spiegel von links nach rechts. Es ist bestimmt nicht erlaubt, bei einem anderen Arbeitgeber zu hospitieren, während man krankgeschrieben ist. Aber egal. Sollen sie mich doch rausschmeißen und mir damit die endgültige Entscheidung abnehmen.
Dieser ganze rechtliche Kram interessiert mich ohnehin nicht. Im Grunde will ich heute auch gar nicht wirklich retten. Am liebsten wäre es mir, es würde gar nichts passieren. Kein Notruf, kein Einsatz. Der Tag ist ein Zeichen für unsere Freundschaft. Ich will noch einmal mit Benny zusammen sein. Eine ganze Schicht lang. Von sieben bis neunzehn Uhr. Ein Freundschaftsdienst.
Bin ich überhaupt in der Lage zu retten? Ich habe geistig schon damit abgeschlossen. Ich will nur noch weg: ESCAPE
. Heute Morgen
habe ich sogar mit dem Gedanken gespielt, Benny abzusagen. Aber ich weiß, wie viel es ihm bedeutet, und auch für mich wird ein kleiner Traum wahr: einmal raus mit meinem Teampartner. Mit meinem einzig wahren Teampartner. Benny und ich sind noch nie zusammen in einem RTW
gefahren, und außer in Notaufnahmen sind wir uns auch noch nie bei Einsätzen über den Weg gelaufen. Er fährt in einer anderen Ecke der Stadt. Da hätte schon ein Virus die ganze Stadt lahmlegen müssen, dass wir mal in einem Einsatz zusammenarbeiten.
Wir wissen aber aus den Praxisübungen in der Schule, wie gut wir harmonieren. Benny ergänzt mich und ich ihn. Wir achten aufmerksam auf den anderen. Jeder kleine Fehler wird entdeckt und korrigiert. So war es jedenfalls mal. Mit einem »sehr gut« durch die Rettungssanitäterprüfung.
Diese Zeiten sind für mich vorbei. Dafür bin ich zu fertig, zu kaputt. Noch immer blitzen die Bilder auf, »Nach oben, nach oben«, und werfen mich aus der Bahn. Ich habe das noch längst nicht verdaut. Dazu war es viel zu lange in mir eingeschlossen. Ist im Verborgenen gewachsen und gewuchert zu einer unbezwingbaren Schlingpflanze. Sie wird ein Teil von mir bleiben, für immer, sie wird mich lähmen und würgen, wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann.
Ich nehme mein Handy von der Bank und lese noch einmal Luzis letzte Nachricht: Versuch, es zu genießen. Es ist deine Zugabe. Die Menge will noch eine Zugabe. Und dann Verbeugung. Und Abgang.
Scheiße, sie fehlt mir gerade. Durch sie fühlt es sich nicht komplett nach Scheitern an. Durch sie fühlt es sich wie die Lösung an. Wie der richtige Weg. Der Weg, den ich jetzt gehen muss. Mit ihr.
Die Tür öffnet sich. Wie ertappt lasse ich hastig das Smartphone in die Tasche gleiten. Locker bleiben, Kim.
»Komm mal mit.« Benny füllt in seiner Kluft den ganzen Türrahmen. »Jetzt stell ich dir unseren Dritten vor«, sagt er.
»Ich dachte, ich sei der Dritte«, antworte ich.
»Offiziell ja«, grinst er.
Wir nehmen die Treppe in den ersten Stock. »Rechts ist der Komplex für alle Kollegen, die zur Brandbekämpfung am Start sind, und links sitzt die Rettung«, erklärt Benny, öffnet eine Glastür und führt mich durch einen langen Flur. Wie ruhig es hier ist. Obwohl immer wieder Kollegen auftauchen und freundlich grüßen. Bei mir an
der Wache würde man jetzt schon lautes Stimmengewirr hören. Aber bei uns ist auch alles kompakter, gestauchter. Außerdem gibt es hier die ganzen Teams nicht, die nur Krankentransport fahren.
»Das ist die Küche, da vorne sind die einzelnen Schlafräume, und hier ist der Aufenthaltsraum.« Benny wirkt wie ein windiger TV
-Makler, der seine Immobilie anpreist. Die ist auch echt nicht übel. Sie ist die MAX
-Version unserer Rettungswache. Im Kern aber ist alles ähnlich. Nüchtern und funktional.
»Und hier ist der heilige Sportraum.« Benny öffnet die nächste Tür. Auf der einen Seite des Raums liegen Matten, auf der anderen sind Fitnessgeräte aufgereiht. Heimtrainer, Stepper, eine Hantelbank.
»Fuck, das brauchen wir auch«, entfährt es mir. Hallo, Kim. Es gibt kein Wir. Du bist raus.
»Das auf dem Laufband ist Elias. Er ist Rettungssani und fährt heute mit uns«, verkündet Benny.
Elias, ein junger, recht muskulöser Kerl mit kurzen braunen Haaren, drückt einen Knopf auf der Steuerkonsole. Das Laufband stoppt. Er kommt auf mich zu und schüttelt mir die Hand: »Freut mich.«
Kurz, knapp, zackig. Militärischer Drill. Der macht bestimmt alles, was Benny ihm sagt. Sehr gut. Ein Jungspund, der aus der Reihe tanzt, würde Stress bedeuten. Das muss ich mir an meinem letzten Arbeitstag nicht geben. Wir lassen Elias weiterlaufen und kehren zurück auf den Flur.
»Benny, können wir uns irgendwo mal ungestört unterhalten?«, frage ich ihn. Er nickt, geleitet mich in einen Zwei-Mann-Schlafraum und schließt die Tür.
»Was gibt es denn?«
»Du weißt schon, dass ich noch immer ordentlich Schlagseite habe, oder? Ich mag deine Idee, aber ich weiß nicht, ob ich euch heute wirklich eine große Hilfe bin.«
»Kim. Alles gut. Du musst dich nicht rechtfertigen. Wir sind zu dritt, du bist der Bonus obendrauf. Wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Dann stehst du daneben und reichst ein paar Sachen an oder schreibst das Protokoll. Mach, was du machen kannst. Ich erwarte nichts von dir. Mach dich locker.« Er lächelt.
»Okay. Sag mal … gibt’s Neuigkeiten von deiner Mutter?«
Jetzt lächelt er nicht mehr. »Heute Morgen war es wieder schlimm.
Normalerweise steht sie immer um fünf Uhr auf. Aber heute kam sie gar nicht hoch. Hat sich so schlapp gefühlt. Ich kann sie so nicht sehen. Und erst recht kann ich dann nicht einfach zur Arbeit gehen. Das bricht mir das Herz. Na ja, aber heute bin ich ja gerne hergekommen.«
»Benny …«, setze ich an.
»Passt schon. Muss. Auf jeden Fall hilft es, nur noch eine halbe Stelle zu haben. Kim, wo wir hier grad stehen, darf ich ganz ehrlich sein?«
»Ja, klar.«
»Ich find es scheiße, dass du gehst. So richtig scheiße. Ich mein, ich kann’s verstehen. Aus deiner Sicht. Aber es wird so kompliziert, dich zu besuchen. Fünfhundert verdammte Kilometer.«
»Ich weiß … ich weiß.«
»Wann geht es los?«
»Ich muss noch einiges klären. Mit meiner Wohnung und so. Und ich muss zu meinen Eltern nach Köln fahren. Da steht ein langes Gespräch an. Ich schätze, in zwei bis drei Wochen fahren wir los. Mit Bus und Bahn, das wird was!«
»Und dann?«
»Weiß nicht. Überraschenderweise fühlt sich das gar nicht so schlecht an.«
»Wohin genau fahrt ihr?«
»Kann ich dir auch noch nicht sagen. Aber die Insel kennst du ja.«
»Ganz schön verrückt.«
»Ja. Aber vielleicht eine Lösung. Flucht ist die beste Verteidigung. Oder so.«
Alarm. Unsere Melder piepen und surren im Gleichklang.
»Es geht los, Teampartner.« Benny klopft mir auf die Schulter. Dann flüstert er in mein Ohr: »Auf die alten Zeiten.« Bescheuert, von einem Kerl unter dreißig. Ich rolle mit den Augen, und wir setzen uns in Bewegung.
»Treppe oder Stange?«, fragt mich Benny.
»Stange natürlich! Wenn schon Feuerwehr, dann richtig.«
Elias sitzt bereits am Steuer. Ich öffne die hintere Seitentür und setze mich auf den Begleitersitz neben der Trage im Patientenraum. Elias schaltet das Blaulicht an und fährt los.
»Was haben wir denn für einen Einsatz?«, schrei ich nach vorne. Es
ist laut hier hinten. Die Trage, die Geräte, die Schubladen – alles rumpelt und scheppert. Benny schaut durch das kleine Schiebefenster.
»Eine Zehnjährige hat sich am Fuß verletzt. Einsatzort ist ein See hier um die Ecke!«, ruft er.
Wir erreichen einen Park. Ein Weg führt links in ein Waldstück, dort steht ein Junge in Joggingklamotten. Wir rollen auf ihn zu. Er zeigt den Weg hinunter. Mehr kann ich nicht erkennen. Die Seiten- und Heckscheiben haben einen Sichtschutz, und durch das kleine Schiebefenster zur Fahrerkabine sind immer nur Ausschnitte des Gesamtbilds zu erkennen. Ich bin hier hinten echt in meiner eigenen Welt. Ich steige die Holztreppe hoch. Vor mir das Zimmer mit dem Baby. Der RTW
schwankt. Ruckt und poltert. Boah, Kim, bleib hier. Bleib im Wagen, im Wald, auf dem mit Schlaglöchern übersäten Weg.
Mein Ausschnitt zur Außenwelt lässt Wasser erahnen. Wir fahren auf den See zu. Vor uns kreuzt eine Gruppe Jugendlicher im Sportoutfit. Sie tragen Nummern auf ihrer Brust. Ein Sportturnier? Im November?
Der Wagen hält. Sekunden später öffnet sich die Seitentür. Benny steckt seinen Kopf zu mir in den Patientenraum: »Hoch mit dir. Da vorne auf der Bank sitzt unsere Patientin. Packst du alles ein? Vielleicht brauchen wir auch die Vakuummatratze.«
Ich sammele Sauerstoff, Absauge, Rucksack und C3
zusammen und lege alles auf die Trage. Elias öffnet die Flügeltüren und steht bereit, um sie herauszuziehen. Die Vakuummatratze nehmen wir aus einem Fach an der Außenseite des RTW
. Wir schieben unsere Geräte vorsichtig in Richtung der Parkbank am Seeufer. Glücklicherweise hat es nicht geregnet, sonst wär hier alles matschig, und die Trage würde stecken bleiben. Benny ist vorausgegangen und spricht mit dem Mädchen und einem Erwachsenen.
»Das ist Emma«, weiht er uns ein. »Sie ist beim Laufen umgeknickt und kann jetzt den rechten Fuß nicht mehr belasten. Ihre Eltern sind schon informiert. Ihr Lehrer fährt erst mal mit uns ins Krankenhaus.« Dann kniet er sich vor Emma hin. »Darf ich mal schauen? Den Schuh muss ich dir leider ausziehen.« Er redet ganz ruhig und behutsam.
Emma sieht verheult aus. »Bitte nicht zudrücken, das tut so weh«, warnt sie.
Benny schiebt vorsichtig die Jogginghose hoch, löst die Schleife des Schuhs und zieht ihn langsam vom Fuß.
»Und noch die Socke, okay?«
Emma protestiert nicht.
»Hi, ich bin Kim.« Ich hocke mich neben Benny. Emmas rechter Knöchel ist dick geschwollen und rot. »Unsicheres Frakturzeichen. Willst du mal checken, ob es Krepitationsgeräusche gibt?«, frage ich Benny.
»Emma, dürfte ich deinen Fuß doch mal abtasten und leicht drücken? Nur dann kann ich fühlen, ob vielleicht wirklich etwas gebrochen ist?«
»Bitte … bitte nicht!«, fleht Emma.
»Okay, okay«, sagt Benny, »dann lassen wir das. Elias, machst du ein Kühlpack klar? Und Kim, wenn du willst, kannst du den SAM
-Splint anlegen. Auf die Vakuummatratze würd ich jetzt verzichten. Bodycheck war ja unauffällig.«
An Emmas gesundem linkem Fuß bringe ich den SAM
-Splint in die richtige Form. Ein breiter Streifen Alublech, umhüllt von Schaumstoff – fest und doch biegsam. Damit schiene ich den verletzten Fuß, nachdem wir ihn einen Augenblick gekühlt haben. Dann helfe ich ihr hoch und auf die Trage. Als Benny vorsichtig ihr rechtes Bein greift und hochlegt, verzieht Emma das Gesicht.
»Geht das von den Schmerzen?«, frage ich.
»Ja, geht schon.«
Tapfere Emma. Wir schieben sie in den RTW
. Der Lehrer nimmt hinten bei ihr und mir Platz.
»Wenn sich irgendwas bei den Vitalwerten verändert, sagst du Bescheid«, mahnt Benny.
»Ich bin zwar heute der Praktikant, aber du weißt schon, dass das nicht mein erster Tag ist.« Es klingt beleidigter als beabsichtigt.
»Stimmt. Es ist dein letzter.« Er grinst und schließt die Seitentür.
Ohne Blaulicht fahren wir Emma in die Notaufnahme. Auf einmal fühle ich mich wie früher, als wäre nichts gewesen. Ich funktioniere. Ich kann es noch. Nichts habe ich verlernt. Alles fühlt sich vertraut an, richtig und gut. Richtig gut.
Wir haben gerade die Trage desinfiziert und ein neues Laken aufgespannt, da knarzt das Funkgerät.
»Sorry, ich hatte schon die eins gedrückt«, entschuldigt sich Benny
und macht kehrt zur Fahrerkabine.
»Der 54-Anton, der 54-Anton, bitte kommen«, schnarrt es.
»Der 54-Anton hört«, höre ich Benny mit fester Stimme in das Funkgerät sprechen.
Elias und ich bugsieren die Trage zurück in den Wagen und halten inne, um die Anweisung der Leitstelle zu verstehen: »Wir haben einen Notfall für Sie. Unklare Lage. Tür verschlossen. Das HLF
ist mit raus. Sie können die drei drücken.«
»Ist verstanden«, antwortet Benny. Und schon piepen unsere Melder und zeigen die Adresse des Einsatzorts an.
Elias wechselt nach vorne, und ich schließe die Seitentür von innen. Eben noch wärmte ein Wohlgefühl mein Herz. Jetzt wird mir mulmig.