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Zu Hause frühstückte sie nie, aber wenn sie genug Zeit hatte, dann kochte sich Laure einen starken Kaffee.
Ihre Wohnung im zweiten Stock eines ehemaligen Lagerhauses war ein typisch pariserischer Umbau: klein – manche nannten es beengt –, Fenster aus Spiegelglas und die Türen aus MDF -Platten. In der Küche hatten gerade mal ein kleiner Herd und ein Kühlschrank Platz, und wenn der Tisch ausgeklappt war, musste man sich zum Spülbecken daran vorbeiquetschen.
Abgesehen von den aufeinandergestapelten und be-
schrifteten Schachteln im zweiten, winzig kleinen Schlafzimmer, die jeden freien Platz darin einnahmen, waren das Mobiliar und alles Weitere auf ein striktes Minimum beschränkt. Manchmal stand eine Vase mit Blumen da, ein Mantel hing über einem Stuhl, oder ein französischer Roman mit gelbem Bucheinband lag herum, aber alles in allem war die Einrichtung auf Minimalismus ausgelegt.
Eine Bleibe in Paris zu finden war ein Albtraum, und eine Wohnung, wie klein sie auch war, war eine Wohnung. Zugegeben, vielleicht etwas freudlos, aber Laure mochte die Anonymität des Ortes, zudem war der Weg zur Arbeit sehr kurz.
Im darunterliegenden Innenhof führte Madame Poirier, die concierge , eine ihrer Unterhaltungen, die durchsetzt waren mit explosiven Silben. »Das ist gegen die Vorschriften, Monsieur«, sagte sie gerade.
Welche waren es wohl dieses Mal?, fragte sich Laure. Madame Poiriers Vorschriften kamen und gingen. Welchen Monsieur schikanierte sie jetzt? Tatsächlich hielt Madame niemals den Mund, aber genau wie die hässlichen Türen und Fenster gehörte sie zu dem Gebäude, in das Laure eingezogen war. Diese leichten Schikanen, der Eierlauf mit den Vorschriften und der Ärger waren wie Anker. Es waren die Zutaten des Lebens, das sie gewählt hatte.
Nachdem sie die Kaffeekanne ausgespült hatte, stellte sie sie zum Trocknen auf ein Geschirrtuch auf dem Ab-
tropfbrett und vergewisserte sich, dass das eine scharfe Küchenmesser auch wirklich in der Schublade lag. Allerdings reichte ihr das noch nicht, also zog sie die Schublade erneut auf und steckte einen Korken auf die Messerspitze, um auch ja sicherzugehen. Scharfe Messer verschafften ihr ein ungutes Gefühl.
Sie kochte nicht oft, lud nur selten Gäste ein und besaß lediglich vier richtig gute Möbelstücke, darunter das Sofa. Doch darauf nahm nur selten jemand für einen Schlummertrunk oder zum Lesen der Sonntagszeitung Platz. Manchmal ließen ihre englischen Freunde verlauten – darunter auch Jane zu Hause in Brympton –, wie unbewohnt sich das anfühlte.
Charlie, ihr jüngerer Bruder, war da schon etwas direkter. »Du könntest wenigstens die Kartons auspacken, Laure.«
»Es ist gut, so wie es ist. Ich will es minimalistisch, keinen unnötigen Ballast.«
»Die meisten normalen Leute besitzen irgendetwas. Ein Foto, ein paar Bücher, einen Stuhl, den sie von der Großmutter bekommen haben. Du könntest genauso gut in einer Besenkammer leben.«
Laure beäugte ihn. Auch Charlie war kein sonderlich häuslicher Mensch, weshalb ihre gegenseitige Frotzelei mehr als nur einen Hauch Ironie enthielt. »Ein Esel schimpft den anderen ein Langohr?«
»Genau das.«
Wenn dieser Modus Vivendi von den Engländern als eigenartig empfunden wurde, so sahen die Franzosen darin weiter nichts Besonderes. Sie interessierten sich nicht dafür, wie Laure leben wollte, und für ein gemeinsames Essen traf man sich eben im Restaurant.
Sie lauschte mit halbem Ohr den Nachrichten, trank ihren Kaffee und föhnte sich die Haare. Die météo kündigte sechsundzwanzig Grad zur Mittagszeit an; hoffentlich stieg die Temperatur nicht weiter an, sonst würde ihre Frisur leiden. Dommage . Sie ließ den Föhn noch einmal lospusten, friemelte hängende Perlenohrringe in die Ohrläppchen und inspizierte ihre lackierten Nägel, ein aufregendes, dunkles Rot, das sorgsame Pflege erforderte. Doch die Farbe von Aufruhr und Sex war ihr das wert.
Sie legte den Kopf schief und betrachtete sich im Spiegel.
Was sie sah, gab ihr die Gewissheit, dass sich ihre An-
strengungen gelohnt hatten. Manchmal hörte sie andere Frauen sagen, wie sehr ihnen ihr eigenes Aussehen missfiel, doch sie hatte schon zu viel mitgemacht, als dass sie sich erlauben könnte, sich damit aufzuhalten. Das behinderte nur den Geist. Sie fuhr sich mit einem Finger über die Wange. Ihre Haut, auf die sie sehr stolz war, sah noch immer rein und jugendlich aus. Vor langer, langer Zeit, in einem anderen Land, hatte Tomas ihr gesagt, ihre Haut erinnere ihn an Perlmutt. Als Letztes trug sie noch etwas Sonnencreme auf, bevor sie nach ihrem Laptop und ihrer Handtasche griff und die Haustür hinter sich schloss.
Draußen auf der Straße drehte sie sich zum Kanal um und warf einen Blick nach rechts und links und über die Gebäude. Das war eine alte Angewohnheit des »dry-cleaning«, wie man Spitzel abschüttelte, die sie niemals abgelegt hatte. Oder vielmehr, die sie nicht loswurde. Als sie sich in Bewegung setzte, ertönte ihr Handy mit »Night Owl«. Das war Xavier, ihr Ex-Mann. »Oui, mon brave.«
»Ma belle.«
Weder die eine noch die andere Begrüßung hatte etwas zu bedeuten. Das waren die Sprache und der Tonfall, auf die sie sich seit ihrer Trennung vor einigen Jahren geeinigt hatten. Xavier hatte wieder geheiratet und den Sohn bekommen, nach dem er sich so gesehnt hatte. Ihre Scheidung war so zivilisiert verlaufen, dass Marie, die neue Ehefrau, Laure hin und wieder zum Essen einlud. Vielleicht, um ein Auge auf ihre Vorgängerin zu haben?
»Hätten wir einander mehr geliebt«, hatte Xavier einmal gesagt, »dann wäre es ein Problem, sich zu treffen, aber so ist es das nicht.«
Sie wusste noch, dass sie darauf geantwortet hatte: »Eigenartig, darüber nachzudenken, wie sich letztlich alles zusammengefügt hat.«
»Eigenartig, aber wahr. Und nicht unangenehm, wie ich finde, oder?«
»Nein, mein lieber Xavier, ganz und gar nicht unangenehm.«
Sie hatten einander angesehen. Wie so manches Mal konnte Laure nicht umhin zu denken, dass sein freundlicher, abgeklärter Blick eine Anschuldigung in sich trug: Dein Herz ist ausgedörrt.
Sie vernahm Motorenrauschen und schloss daraus, dass Xavier im Auto unterwegs war. Ein Jahrzehnt der Ehe führte unweigerlich dazu, dass man die eine oder andere Information über den Ehemann in der Erinnerung abgespeichert hatte, und sie könnte wetten, dass er eine graubraune Hose und dasselbe schwarze Jackett trug, an dem er schon seit vielen Jahren hing. Die Haare hatte er bestimmt nach hinten gekämmt, und garantiert sah er mit zusammengekniffenen Augen nach vorn, weil er zu eitel war, seine Brille aufzusetzen.
»Es ist einer der Tage, an denen ich dich vermisse, Laure. Dich und deine wunderschönen stachelbeerfarbenen Augen.«
Sie lächelte. »Ich dich auch, Xavier.« Bedauern über die gescheiterte Ehe kam häufiger auf, als sie sich eingestand. Xavier hatte seine Macken, aber er war ein Mann mit Prinzipien und oft sehr lustig. »Aber du hast eine Frau.«
»Das stimmt.«
Bei dem Gedanken, dass Xavier sie noch immer mochte, wurde Laure, die im Weitergehen dem Unrat auf der Straße auswich, warm ums Herz. »Du wirst immer eine halbe Britin sein«, hatte er einmal gesagt. »Ganz egal, wie gut dein Französisch ist oder wie lange du hier gelebt hast. Du brauchst einen starken Mann an deiner Seite.«
Quatsch. Laure war französischer oder, um genau zu sein, pariserischer, als Xavier ihr zugestand. »J’aime deux choses seulement … vous et la plus belle ville du monde« , hatte sie geantwortet – Ich liebe nur zwei Dinge … Sie und die schönste Stadt der Welt. Das war eine Zeile aus einem alten, romantischen Gedicht, aber es brachte genau auf den Punkt, wie sehr ihr Herz an dieser Stadt hing.
Xaviers Einwurf, sie brauche einen starken Mann, war der Punkt, an dem sie so richtig zu knabbern hatte. Hätten sie sich in ihrer Ehe etwas mehr füreinander eingesetzt, dann wäre der Ausgang vielleicht ein anderer gewesen. Dafür gab sie sich die Schuld. Vor allem sich.
Trotz der Neckereien rief Xavier nie ohne Grund an. »Ich habe einen Artikel im Figaro entdeckt, laut dem der Louvre Lobbyarbeit betreibt, um sich das Museum der unerfüllten Versprechen einzuverleiben. Der Sprecher meint, die Zeit der privaten Museen sei vorbei. Sie sind der Meinung, dass ihr ein ganz wunderbares Paar abgeben würdet.«
»Sieht ganz so aus.« Sie seufzte leise.
»Um die Metapher etwas zu überziehen: Der Louvre ist ein widerlicher alter Wüstling und du nichts anderes als eine minderjährige Braut. Immer die gleiche Sache: Geld regiert, und diejenigen, die es haben, parlieren. Was ist denn mit Nos Arts en France?«
Nos Arts en France war gewissermaßen eine Regierungsbehörde, die Förderungen für kulturelle Einrichtungen vergab. Laure war vorgewarnt worden, die Leute dort seien schwierig, doch sie kam ganz gut mit ihnen zurecht, weil sie nicht lange um den heißen Brei herumredete.
»Der Beirat von Nos Arts will die Situation evaluieren und mich wissen lassen, ob sie das Museum auch weiterhin unterstützen werden. Wenn sie das tun, dann wird sich nichts ändern, und ich bin glücklich.«
»Nos Arts waren dir gegenüber sehr großzügig.«
»Ohne sie hätten wir nicht überlebt.«
Xavier wurde ernst. »Würde es dir denn etwas ausmachen, übernommen zu werden?«
Sie sah in den Himmel, der wie mit Streifen von Schlagsahne verziert war. »Ich würde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren.«
»Chérie , dir bleibt vielleicht keine andere Wahl.« Er klang betrübt. »Du bist einflussreich geworden, aber noch nicht so einflussreich.«
Es war nicht das erste Mal, dass Laure eine Bedrohung auf sich zukommen sah – ob nun theoretischer oder anderer Natur –, und sie hatte gelernt, damit umzugehen, indem sie sich in verschiedene Kompartimente aufteilte.
Da gab es die Laure, der die Erfahrungen in der Vergangenheit halfen, mit den verstaubten, komplizierten Strukturen der öffentlichen Verwaltung zurechtzukommen, ohne sich zu sehr davon behelligen zu lassen.
Dann gab es die Laure, die dafür brannte, ihr Museum genau deshalb am Laufen zu halten, weil die Vergangenheit noch in ihr lebte, und die von den bürokratischen Mühlen niedergerungen werden konnte.
»Um mal von etwas Fröhlicherem zu sprechen: Maison de Grasse wird unser Mäzen«, sagte sie dann.
Jetzt war Xavier sprachlos, und mit lautem Zungenschnalzen brachte er seine Bewunderung für diesen Deal zum Ausdruck. »Nicht schlecht.«
Maison de Grasse hatte als kleine, exklusive Parfümerie angefangen und sich in einen multinationalen Konzern verwandelt, der Düfte für eine breite Produktreihe von Haushaltsreinigern wie auch für Kerzen oder Raumsprays lieferte, die ohne diese unverwendbar wären. Natürlich kreierten und produzierten sie noch immer die exklusivsten Parfums. Viele der größeren französischen Firmen senkten ihre Steuerlasten, indem sie zu Mäzenen von Museen wurden. Maison de Grasse folgte dem Beispiel, indem es zu dem Schluss kam, es wäre wohl eine ganz umsichtige Mischung aus Steuerplanung und Freigebigkeit, wenn sie ein leicht alternatives Kunstprojekt förderten. Für Laure wurde das Ganze durch zusätzliche Anreize in Form von Öffentlichkeitsarbeit für das Museum und Werbeunterstützung versüßt.
»Nicht schlecht«, wiederholte Xavier.
Ein völlig in sein Handy vertiefter Mann rempelte Laure an, woraufhin sie ihres fallen ließ und die Unterhaltung unterbrochen war.
»Entschuldigung, Entschuldigung«, sagte der Mann. »Ich habe Sie nicht gesehen.«
Kristallklar.
Viele von Laures älteren Erinnerungen waren schmerzhaft und verfälscht, aber was sie davon zurückbehalten hatte, als sie den Canal Saint-Martin und die Straßen, die spinnennetzförmig von dem Wasserband abgingen, zum ersten Mal sah, ließ sich genau so beschreiben: kristallklar.
Noch vor zehn Jahren war es ein heruntergekommenes Viertel gewesen, und es war unvorsichtig, nachts allein dort herumzustreifen. Aber genau das machte den Reiz aus: Das quartier klammerte sich an seine verführerischen Seiten. Bei ihrer Suche fand sie heraus, dass es hier in der Vergangenheit nur so gebrodelt hatte vor Leben – manch eines davon recht zwielichtig –, vor Sex – käuflichem oder anderem –, außerdem besaß das Viertel eine einzigartige anrüchige Eleganz. Es war eine Gegend, die dem Besucher verkündete: Ich verfüge über einen hervorragenden Stammbaum, und viele meiner alten Gebäude haben Revolutionen und die Zerstörung von Baron Haussmann überlebt. Oder Ähnliches. In ihrem Kopf änderte sich die Formulierung häufig, aber die Kernaussage blieb dieselbe.
Den Armen und Obdachlosen gefiel es hier. Genau wie denjenigen, die länger verweilten. Wie zum Beispiel Laure, auf der Flucht vor ihrer Scheidung. Wenn sie dem Wasser lauschte, das an die Seiten des Kanals klatschte, fühlte sie sich ganz in dem intimen Leben der Stadt verwurzelt. Desgleichen, wenn sie eine der gusseisernen Fußgängerbrücken überquerte, die sich über das graugrüne, mit Müll übersäte Wasser erstreckten, oder wenn sie der Topografie der Straßen mit ihrer gelegentlich unheimlichen Atmosphäre folgte; und sie hatte sich leidenschaftlich für die Läden und Cafés eingesetzt, die hier gerade so über die Runden kamen.
Das war damals gewesen. Neuerdings waren eine Eisdiele, die jede dem Menschen bekannte Farbe und Geschmacksrichtung anbot, sowie eine teure Kleidungsboutique hinzugekommen, ebenso eine chocolaterie und ein salon de beauté . Vermutlich hatte ihr Museum zu dieser Wiedergeburt beigetragen, aber jetzt, wo sie eine waschechte canaliste geworden war, hielt sie die Augen nach gierigen Immobilienhaien offen. Vielleicht war das quartier noch unverändert, dennoch verlangte es denen, die dort lebten, eine ungeheure Loyalität ab, wie das bei modernen, bereinigten Gegenden vermutlich nicht mehr der Fall war. Oder, wie ein paar Partisanen der canalistes sagten, das linke Ufer hilft sich selbst.
Der Geruch von Wasser war vertraut und unvermeidbar, als sie von der Straße zum Kanalufer kam. Ziemlich flach. Brackig und, da schon früher Herbst war, mit einem Hauch Verwesung. Zum ersten Mal war ihr bewusst geworden, wie Wasser riechen konnte, als sie in jenem heißen Sommer in Prag mit Tomas am Fluss entlanggeschlendert war. Ein leeres bateau mouche glitt Richtung Osten durchs Wasser, zog in seinem Kielwasser Orangenschalen, eine Plastikflasche und die Überreste eines Hamburgers als Treibgut hinter sich her.
In der Rue de la Grange aux Belles klappte Madame Becque die Läden ihres Lebensmittelladens auf. Vor Kurzem hatten sie und ihr Mann das Holz in einem leuchtenden Blau gestrichen und das Fell ihrer Pudel in einem helleren Blau färben lassen, damit es harmonischer wirkte, was unglaublich zur Heiterkeit ganzer Nationen beitrug. Die beliebte Bar an der Ecke, die spätabendliche Brandys servierte, schloss die Läden, um für ein paar Stunden auszuruhen. Ein Obdachloser saß im Schneidersitz davor. Als sie an ihm vorbeikam, ließ Laure einen Euro in seinen Becher fallen.
Ein Stück weiter befand sich ein heruntergekommener, mit Müll übersäter Flecken Erde zwischen zwei Gebäuden. Laure blieb stehen. »Kočka«, rief sie. Das war Tschechisch für »Katze«, kein sonderlich fantasievoller Name, aber eben der, der ihr in den Sinn gekommen war, als sie den kleinen Streuner vor ein paar Wochen entdeckt hatte.
Mit hängendem Schwanz tauchte eine getigerte Katze aus dem Schatten auf, den die Wand warf. Feingliedrig. Fast schon abgemagert. Erschöpft von der Anstrengung, am Leben zu bleiben, und überaus schwach. Laure berührte das schmale, dreieckige Gesicht und fuhr mit dem Finger über die Wirbelsäule, rieb vorsichtig über die kleinen Höcker des Rückens und den flachen Knochen vor dem Schwanz. Es war ein Moment der Verbundenheit. Des Trostes. Ein kleiner, vertrauter Austausch zwischen Mensch und Tier.
Sollte sie sich darum sorgen, dass sie Kočka mit dem Füttern keinen Gefallen tat? Es hieß, ein heimatloser Streuner wäre tot besser dran. Der Tod war nicht das Schlimmste, was einem widerfahren konnte. Der Tod konnte willkommen geheißen werden.
Da entdeckte sie unter dem ausgehungerten Bauch geschwollene, pinkfarbene Nippel.
Es schnürte ihr die Kehle zu. Nachwuchs .
Im Gegensatz zu Laure wartete Kočka völlig unsentimental darauf, dass ihre Mäzenin ihren Hunger stillte. Laure leerte das teure, mit Vitaminen versetzte Katzenfutter in die Schale, die sie mitgebracht hatte, und sah zu, wie die Katze darüber herfiel.
Als sie sich hinunterbeugte, hörte Laure ein ganz leises Schnurren, ansonsten wurde sie jedoch ignoriert. Erfreut über das Schnurren, sagte sie Kočka: »Ich verspreche nichts.«
Sie ging die Rue de la Grange aux Belles weiter Richtung Norden.
Als sie das erste Mal einen Fuß in diese Straße gesetzt hatte, war sie eine Frau, deren endgültiges Scheidungsurteil soeben bei einem Anwalt über den Tisch gegangen war. Es war ein eiskalter Wintertag gewesen. Ihre Schuhe waren dünn, und ihre durchgefrorenen Füße wollten sie nicht länger tragen. Je feuchter sie wurden, umso lauter schmatzen ihre Schritte auf dem Gehsteig.
Sie hatte ein Mädchen in einem roten Mantel erblickt und Kaffeesatz auf dem Gehsteig. Aus dem asiatischen Supermarkt war ein übellauniger Wortwechsel zu hören. Ein Hund bellte. Die Kälte war weder angenehm noch belebend, und es drohten graue, unberechenbare Schneeböen.
Das quartier zu erforschen hieß, ein Durcheinander an Eindrücken zu durchleben. Erst später, sehr viel später, vereinten sich diese anfänglichen Bilder wie ein Puzzle zu ihrer persönlichen Landschaft: die Fensterläden, das Geräusch der kleinen Kehrmaschinen, die jeden Morgen die Straßen säuberten, die Eisenbeschläge an älteren Häusern und in der Steinnische die Statue der Jungfrau, deren stierender Blick die Passanten zu durchbohren schien.
Sie war so überzeugt gewesen davon, dass Pessimismus eine Gegebenheit des Lebens war, und schon beim geringsten Rückschlag strömten die Gedanken aus der Box, in die sie sie einzusperren versucht hatte. Ihre gescheiterte Ehe war ihr da keine Hilfe, ständig begleitete sie ein Gefühl des Scheiterns. Damit meinte sie: Die Vergangenheit war viel zu mächtig, um damit fertigzuwerden. Laut Quantenphysik folgt das Atom anscheinend nicht einer einzelnen Bahn, um aus einem Labyrinth herauszufinden. Es nimmt jede Bahn gleichzeitig, was eine schöne Beschreibung dafür war, was Laure tat. Sie ging jeden Weg, ohne zu wissen, weshalb, stolperte über jedes Hindernis und fand sich mit dem Gesicht im Dreck wieder.
Es hatte etwa dreißig Sekunden gedauert, bis sie das dreistöckige Haus mit der flachen Fassade am anderen Ende der Straße als interessant eingestuft hatte. Ein Großteil der Dachziegel war aus der Verankerung gerutscht, der Anstrich warf Blasen und blätterte ab. Sie beobachtete, wie die ersten Schneeflocken über das Dach segelten, während sie in den heruntergekommenen Anblick vertieft war, in die Tatsache, dass es offensichtlich ein paar Hundert Jahre überlebt hatte und sich keinen Deut darum scherte, ob sie, Laure, nun eine Versagerin war oder nicht. Nachdem sie das in sich aufgenommen hatte, kam ihr der Gedanke, dass das Leben in diesen – zweifelsohne – mottenzerfressenen Räumen kreativ und heiter sein könnte.
Entscheidungsrelevant war: Es stand zum Verkauf.
Sie hatte kein Geld. Keine Erfahrung. Nur eine Idee, die ihr kam, als sie dieses Haus von der anderen Straßenseite aus betrachtete und dann zuerst ihren rechten, danach ihren linken Fuß bewegte, damit das Blut in ihren Füßen wieder zirkulierte.
Nachdem sie sich Zugang zum Haus verschafft hatte, nahm sie sich sehr viel Zeit, um es zu erkunden. Sie begutachtete die Schiebefenster und klopfte auf die Dielen, stapfte die enge Treppe hinauf, warf einen Blick in die antiquierten Badezimmer und stieg dann zum Dachboden hinauf. Sie roch Vernachlässigung, Verfall und Sorgen und zuckte beim widerspenstigen Quietschen einer aufgequollenen Tür und dem Trippeln weghuschender Mäuse weiter oben zusammen.
Die Atmosphäre ließ an vergangene Kämpfe ums Leben und Überleben denken, manche niederschmetternd, andere von Erfolg gekrönt. Sie sehnte sich nicht nach mehr Unruhe in ihrem Leben. Ganz und gar nicht. Während sie die eiskalten, deprimierenden Räume abging, fragte sie sich: Wäre es nicht besser, solche Orte zu meiden?
Erlösung war mehr als nur ein Wort. Es war ein Nirwana. Es war ein Zustand der Gnade, der sich ihr beständig entzog. Aber vielleicht konnte sie ihn in einer Immobilie finden?
In der Kälte hatten sich ihre Zehen so steif und starr wie Wäscheklammern angefühlt. Doch während sie der Orchestrierung aus dem Knarzen und Quietschen des Hauses lauschte, wurde die Antwort deutlich.
Heute war der Anstrich neu, der Stuck repariert, das Dach geflickt, und über dem Eingang hing ein Schild mit der Aufschrift: Musée, und gleich darunter auf Englisch und Französisch: »Museum der unerfüllten Versprechen«.
In der zweiten Zeile stand: »Laure Carlyle, Kuratorin«.