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Das Büro oben im Haus war sehr klein. Vermutlich war hier früher einmal die Unterkunft der Dienstmädchen gewesen, und auf diese mochten die Räume palastartig gewirkt haben, aber für Laure stellte es ein immer größeres Problem dar, wie sie darin den bürokratischen Bedarf des Museums unterbringen sollte.
Eine Lösung hatte darin bestanden, die Wände zu streichen, inklusive des angrenzenden noch kleineren Raumes, der für Besprechungen genutzt wurde, und zwar in einem kaiserlichen Chinagelb, das sie – warum auch immer – geräumiger erscheinen ließ. Eine weitere Taktik war, ein drakonisches Maß an Sauberkeit einzuhalten.
Es war neun Uhr. Nic saß bereits an seinem Schreibtisch. Er war Engländer; seit nunmehr achtzehn Monaten auf dem Posten, zweisprachig, ungebunden, ehrgeizig, wollte er es in der Kunstverwaltung unbedingt zu etwas zu bringen und gehörte der Generation an, die davon ausging, dass sie überall in Europa leben konnte, als wäre nichts dabei. »Es ist einfach, mal hier, mal da zu leben«, sagte er. »Das machen viele von uns.«
Natürlich, die Generation Nic machte das so. Für sie war Europa eine Erweiterung ihres Heimatreviers. Und sie hatte das genauso empfunden.
Grüßend hob er eine Hand. »Klopf, klopf.«
»Wer da?«
»Toby.«
»Welcher Toby?«
»Toby or not Toby.«
Sie spielten das Spiel, wer den schlimmsten Witz aus dem Internet anschleppen konnte.
Sie dachte an Nos Arts en France und drückte sich die Daumen. »Was, wenn ich dir sage, dass du nicht mehr besser wirst?«
Nics Augen wurden groß. »Aber alles, was ich weiß, habe ich von dir gelernt.« Drohend hielt er einen Finger hoch. »Sag mir, dass ich unverzichtbar geworden bin.«
»Bist du«, antwortete sie ehrlich.
Er war zwar erst Ende zwanzig, besaß aber eine ungewöhnliche Fähigkeit, Menschen zu durchschauen. Nic dabei zu beobachten, wie er sich aus einer verzwickten Lage herausmanövrierte, war Anschauungsunterricht in Lebenskunde. Würde man sie dazu drängen, würde sie zugeben, dass sie von ihm gelernt hatte und dafür dankbar war. Liebe konnte einen völlig überraschend treffen und tat das auch, aber – und auch das war eine Überraschung – mit Zuneigung verhielt es sich genauso.
»Habe ich etwa Rasierschaum am Kinn?«, fragte er.
»Nein, warum?«
»Weil du mich so anstarrst.«
Sie lächelte. »Nur weil ich dich so mag.«
»Irgendjemand muss den Job ja machen.«
Nic begriff, worum es in ihrem Museum ging. Er verstand, dass die Gegenstände etwas zu sagen hatten. Als sie ihn das erste Mal durch die Räume geführt hatte, hatte sie zugesehen, wie ihm dieses Verständnis langsam gedämmert war.
Den Morgenkaffee für diesen Tag hatte Nic in einen Thermobecher gefüllt und zusammen mit Laures Terminplan auf ihrem Schreibtisch platziert. Sie setzte sich, stellte ihre Tasche unter dem Tisch ab und gab »Tierarzt, Canal Saint-Martin« bei Google ein. Sekunden später hatte sie den Telefonhörer in der Hand und vereinbarte einen Termin.
»Ich wusste gar nicht, dass du eine Katze hast«, sagte Nic.
»Habe ich auch nicht.«
Ungläubig sah er sie an. »Du musst den Terminplan noch absegnen.«
Sie warf einen Blick darauf. Für den Vormittag war ein Interview mit einer freien Journalistin eingetragen. »Himmel.«
Der intelligente Nic war ein Experte darin geworden, Laures Reaktionen vorherzusehen. »Ich habe es so eingerichtet, dass es vor dem Mittagessen erledigt ist. Bis du deine frites aufspießt, wird alles vorbei sein.«
»Frites!« Sie sah auf. Er lächelte. Widerwillig grinste sie. »Wer ist es?«
»Sie sagt, sie hätte Spitzenkontakte, die sich ihren Pitch ansehen würden.«
Laure rollte mit den Augen. »In einem früheren Leben muss ich wirklich schrecklich gesündigt haben.«
Wenn er nett drauf war, dann zeigte Nic sich manchmal nachgiebig. Dann wieder konnte er es durchaus mit Caligula oder Stalin aufnehmen. »Es wird schon nicht so schlimm werden, und du musst es machen. Am Telefon klingt sie ganz gut, außerdem habe ich sie überprüft. Sie hat unter anderem Artikel im New York Times Magazine veröffentlicht.« Er fügte hinzu: »Sie ist jung. Arbeitet sich hoch.«
»Das sind die Schlimmsten.«
»Sind sie das, ja?« Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck. »Und das kommt von der Frau, die sich weigert preiszugeben, ob sie Orangenmarmelade oder Konfitüre zum Frühstück bevorzugt.«
Sie stieß ein verlegenes Lachen aus. »Mag sein.«
Xavier hatte das immer für krankhaft gehalten.
Bei früheren Gelegenheiten hatte Nic gesagt, dass es verständlich sei, aber – auch wenn er das nicht laut aussprechen würde –, sein »verständlich« bedeutete eigentlich kurzsichtig.
»Wenn du dieses Risiko eingehst, dann würde das Museum von einem großen Artikel in einer auflagenreichen Zeitschrift profitieren.« Nic zeigte Raffinesse und brachte die Argumente aufsteigend vor. »Diese selbstherrlichen Museumsdirektoren müssten dich dann wahrnehmen, Laure.«
»Es ist mir egal, wenn sie das nicht tun.«
»Denk an Gianni aus Rom.«
»Der war einmalig.« Gianni Rovere, der italienische Journalist, war zuvorkommend und humorvoll gewesen und hatte Laure die Höflichkeit erwiesen, über ihre Antworten nachzudenken, bevor er mit der nächsten Frage weitermachte.
»Manche könnten diesen Ort hier als negativ bewerten«, hatte er gegen Ende des Interviews angemerkt.
»Nein«, hatte Laure widersprochen. »Das Museum bietet einen Ort, wo man neu anfangen kann.«
Nics letzter Hieb: »Die Leitung von Maison de Grasse wäre begeistert. Das ist die Art Publicity, die sie davon überzeugen wird, dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben.«
Ihm lagen die Interessen des Museums am Herzen, und sie vertraute ihm. »Wenn ich das mache, habe ich dann bis Weihnachten Ruhe?«
Nic lächelte, und die Sonne ging auf.
Am Vormittag führte er die Journalistin in Laures Büro. Laure sah auf und runzelte die Stirn. »Oh«, sagte sie. »Wir kennen uns schon.« Sie nahm die Visitenkarte zur Hand, die das Mädchen ihr gegeben und die sie in den Ablagekorb gelegt hatte. »May Williams?«
Ohne die Sonnenbrille war zu sehen, dass May Williams überraschend blaugraue Augen hatte – ein Blick daraus, und Nic schien in Trance zu verfallen. Heute trug sie eine Skinny Jeans, ein eng anliegendes T-Shirt und angesagte Turnschuhe, wirkte aber etwas nervös. »Ich möchte wirklich unbedingt über das Museum schreiben.« Bei genauerer Betrachtung waren dunkle Schatten unter ihren aufsehenerregenden Augen zu erkennen. »Das könnte ein wichtiger Artikel sein.«
Ihre Ernsthaftigkeit war entwaffnend und half dabei, Laures Verärgerung über die Taktik, mit der sie an das Interview gekommen war, abzumildern. Sie warf einen Blick zu Nic, der aus seiner Trance erwachte, und sagte: »Kaffee, denke ich mal.«
Das Mädchen holte einen Stapel Blätter aus dem schwarzen Rucksack. »Ich dachte, Sie würden sich gern ansehen, was ich bereits gemacht habe.« Ihr Tonfall war sachlich, aber die Hand, mit der sie die Unterlagen vor Laure ausbreitete, hatte abgekaute Fingernägel und erzählte eine eigene Geschichte. »Ich verspreche, es ist keine schlampige Arbeit.«
Laure blätterte ein paar Artikel durch. Was sie sah, ließ auf ein helles Köpfchen und einen subversiven Schreibstil schließen.
O Gott, dachte sie. Ich will sie nicht an dieser Sache dranhaben.
Als der Kaffee kam, schnupperte May daran und schloss für einen Moment die Augen. Sie nahm einen Schluck und hatte danach einen kleinen Milchbart auf der Oberlippe. »Ich habe mich in französischen Kaffee verliebt.«
»Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen zeigen, wo man den besten bekommt«, sagte Nic.
May lächelte ihn an.
Nic hatte also nicht gelogen, als er Laure versicherte, er hätte sie unter die Lupe genommen. Am Telefon hatten sie über mehr als nur über das Interview geredet.
»Ich führe Sie herum, dann bekommen Sie ein Gefühl für diesen Ort, bevor Sie mich interviewen«, sagte Laure, und May sprang auf und griff nach der Kaffeetasse. »Lassen Sie den Kaffee bitte hier. Wir müssen sehr darauf achten, dass keine Missgeschicke passieren.«
»Klar.« May trank den Kaffee aus und tupfte sich danach die Oberlippe ab. Mit einem Mal schien ihr ganzer Körper wacher zu sein. »Sollen wir loslegen?«
Laure führte sie nach unten zur Kasse, wo Chantal die Souvenirbestände prüfte und von ihrem Tablet aufsah, als sie kamen. »Wir brauchen mehr Kühlschrankmagneten mit den Handschellen«, sagte sie auf Französisch. »Davon können wir gar nicht genug haben. Das hier ist der letzte.« Sie hielt ihn hoch. Auf dem Magnet war ein Bild mit flauschigen Tigerplüsch-Handschellen, darunter stand: »Sie versprachen das Paradies.«
Laure übersetzte, und May lachte. Dann führte Laure sie in den ersten Raum, wo sie fragte: »Sie sind zweisprachig, oder? Wie kommt das?«
»Meine Mutter ist Französin. Mein Vater Engländer.«
Während ihrer Museumsführung mit Laure sagte May wenig, sie fragte nur, wie viele Räume es gebe. »Drei auf diesem Stockwerk, vier darüber, insgesamt also sieben, und dann noch die Büros. Es ist schwierig, weil die Räume alle unterschiedlich groß sind und es uns überall an Platz mangelt. Der größte Raum war vermutlich einmal ein Empfangssalon, der kleinste könnte unserer Meinung nach eine Toilette gewesen sein. Die meisten Böden sind noch original. Das erkennt man an der Breite der Dielen.« Sie fuhr fort: »Von Ihrem letzten Besuch werden Sie wissen, dass man hier anfängt und dann den Pfeilen sens de visite durch die drei nächsten Räume folgt. Danach die Treppe hoch. Durch die Räume im oberen Stock und dann über die Haupttreppe wieder nach unten, die etwas knifflig ist, weil sie so eng ist. Aber daran lässt sich nichts ändern.«
May schlenderte ein wenig herum. »Es ist sehr heimelig und stimmungsvoll, vielleicht etwas verstörend, aber eindeutig heimelig.«
»Die Gegenstände stellen etwas anderes als ›heimelig‹ dar«, ließ Laure säuerlich verlauten.
Unvermittelt blieb May stehen. »Himmel. Ich habe diese Regel, mir die überholten Ausdrücke von zu Hause zu verkneifen, aber dieser ist mir durchgerutscht.« Man sah ihr eine leichte Panik an. »Ich will damit nicht sagen, dass das Museum kitschig ist.«
»Zu Hause?«
»Alabama.« Sie zog eine Grimasse. »Mint Juleps, Pastete, Jim Crow.« Sie gestikulierte mit beiden Händen. »Wahnsinn. Leiden. Hitze. All das.«
May Williams war froh, noch einmal davongekommen zu sein.
»Also eine Flüchtende?«
May gab einen unverbindlichen Laut von sich und warf einen Blick in die größte Vitrine. »Ein Zugticket? Was ist das für eine Sprache?«
Ein kurzer Moment verstrich, ehe Laure antwortete. »Tschechisch.«
»Ach ja, ich glaube, es wurde für das Interview mit dem italienischen Journalisten fotografiert, nicht wahr? Das hat zu etwas Wirbel in der Tschechischen Republik geführt, weil sie dort leicht nervös werden, wenn man sie an die schlechten Tage unter kommunistischer Herrschaft erinnert.«
Laure wandte sich ab. »Ja, das hat es, glaube ich.«
Im zweiten Raum standen drei Vitrinen. May zeigte auf die erste. »Ich wollte Sie fragen, was es mit der Streichholzschachtel auf sich hat.«
»Wenn Sie ganz genau hinsehen, werden Sie darin einen Milchzahn entdecken. Der siebenjährige Jamie hat ihn hergebracht.«
»Ein Kind?«
»Kennen Sie viele Kinder? Ich nicht, aber sie sind ganz eindeutig die schärfsten Wächter über Versprechen und wissen sofort, wenn eines gebrochen wurde. Jamies Vater hatte ihm versprochen, er würde Geld von der Zahnfee bekommen, wenn seine Milchzähne ausfallen. Das hatte bei den ersten beiden Zähnen funktioniert, aber beim dritten war Jamies Vater verschwunden und mit ihm die Zahnfee.«
May wollte gerade eine Hand auf die Vitrine legen, überlegte es sich dann aber noch einmal anders. »Hätte denn nicht Jamies Mutter ihm das Geld hinlegen können?«
»Ich nehme an, sie wollte ihren Ex-Ehemann bloßstellen. Sie brachte Jamie hierher, und er gab mir die Streichholzschachtel und sagte mir, die Zahnfee sei eine große Lügnerin.« Jamies Kindergesicht hatte ebenso verletzt wie wütend gewirkt. »Er redete von seinem Vater.«
»Also werden die Leiden und die Traurigkeit des kleinen Jamie hier ausgestellt.«
Laure führte May in den nächsten Raum. »Interessant, wie ein kleiner Junge einen Weg gefunden hat, damit umzugehen.«
»Oder die Mutter.«
Die bittere Betonung des Wortes »Mutter« war Laure nicht entgangen. »Heißen Ihre Eltern gut, was Sie hier tun?«
»Mein Vater heißt Bourbon gut. Geißelt sich damit. Meine Mutter, das Urgestein, die eigentlich eine gute Frau ist, nur eben ihre Tochter nicht mag, fragen Sie besser selbst … fragen Sie sie, was sie am meisten auf der Welt hasst, und Sie bekommen einen langen, wortreichen Diskurs über unverheiratete Frauen, die astronomische Mieten bezahlen, um in einer Besenkammer voller Koch- und Abwassergerüche im Sodom von New York zu leben, während sie auf ihren großen Durchbruch warten.« Mit einem Blick, der schwierige, komplizierte Gefühle vermuten ließ, starrte May an Laure vorbei auf die Vitrine. »Sie sagte, ich hätte keine Chance. Meinte, es würde schwierig werden. Und so war es auch.«
»Ich bin mir sicher, dass es schwer war. Aber Sie haben Kontakte geknüpft. Unübersehbar. Gute Kontakte.«
Mays Gesicht hellte sich auf. »Das habe ich. Das war eine Möglichkeit, sich an einer Mutter zu rächen, die gefühlt vor hundertfünfzig Jahren geboren wurde, aber eben jetzt lebt und der Liberale und Feministen ein Gräuel sind.« Ihre Augen leuchteten auf. »Das ist jetzt ziemlich umständlich, um zu sagen, dass sie nicht so ist wie Sie.«
Eine Mikrosekunde lang war Laure verdattert und musste erst verdauen, dass sie mit Mays Mutter verglichen wurde. Lachen oder weinen? »Stimmt.«
»Oje …« Als May Williams bewusst wurde, dass sie sich womöglich einen groben Schnitzer geleistet hatte, ratterte sie durch ihre journalistische Waffensammlung und brachte ein Kompliment hervor. »Ich weiß, dass Sie die Art Frau sind, die auch mit neunzig noch eng anliegende Pullover und Lidschatten tragen wird.«
Überrascht musste Laure feststellen, dass sie lächelte. »Gut.«
»Keine eigenen Kinder?«
»Nein.«
Die unausgesprochene Frage schwebte im Raum. Die unausgesprochene Antwort lag Laure auf der Zunge: Ich habe mir eigene Kinder versagt. Vielleicht nicht bewusst, aber irgendwie war nie die richtige Person da oder der richtige Zeitpunkt oder die richtige Gemütsverfassung.
Die zwei Frauen gingen weiter.
Ein paar Minuten später fragte May: »Warum also Tschechisch?«
»Ich habe einen Sommer lang dort gelebt.«
»Und das ist ein unerfülltes Versprechen?«
»Tatsächlich ja, als solches hat es sich herausgestellt.«
In dem kleineren Zimmer wirkte die hochgewachsene, knochige May wie ein eingesperrtes Tier. »Wie ordnen Sie die Ausstellungsstücke an?«
»Gute Frage, wir haben sehr lange gebraucht, bis wir herausgefunden haben, was am wirkungsvollsten ist. Letztlich haben wir uns für die Beziehung der Gegenstände zu-
einander entschieden. Sagen wir mal, Haushaltssachen. Kleidung. Aber das funktioniert nicht immer. Die Gegenstände chronologisch anzuordnen stellte sich jedoch als zu schwierig heraus, da wir die Räume ständig umgestalten müssten.«
May klappte ihren Notizblock zu. »Verstehe.«
»Wir haben einen neuen Mäzen und überlegen, ob wir nicht renovieren.« Laure führte May zur Treppe, während sie die Themen für die Unterhaltung vorgab. »Die Museumskonzepte ändern sich. Werden regelrecht revolutioniert. Museen werden zu Orten, wo man Dinge anfassen kann. Orte, die Spaß machen. Orte, wo Unvorhergesehenes möglich ist. Wir müssen mit den großen mithalten.«
Sie führte sie in den letzten Raum. May zeigte auf den Schriftzug »Nummer 7«, der mit goldenen Buchstaben über dem Türsturz stand. »Sieben. Eine ganz spezielle Zahl.« Sie runzelte die Stirn. »Ist die Sieben von den ersten Primzahlen nicht die interessanteste? Wenigstens empfinde ich das so.«
»Mathe ist nicht gerade meine Stärke.«
Die Frage schlich sich an. »Ist es dann nicht schwierig, mit den Finanzen des Museums zurechtzukommen?«
»Habe ich das gesagt?«
May ließ die Frage fallen und versuchte es mit der nächsten. »Was ausgelassen wird, ist ebenso wichtig wie das, was aufgenommen wird, nicht wahr?«
Durch das restaurierte Schiebefenster fiel Licht auf Mays Haare, ließ die weißblonden und goldenen Strähnchen erstrahlen. Eine unschuldige Frage? Vermutlich. May zu erlauben, einen Steckbrief über Laure zu schreiben, hieß, Macht abzugeben. May würde bohren. Laure warf einen Blick aus dem Fenster. Sich mit der Angst zu befassen, die in den Windungen ihrer Psyche versteckt war, war ein jahrelanges, erschöpfendes Ringen gewesen, das sie nicht gewonnen hatte. »Ja«, antwortete sie schließlich. »Was man weglässt, ist tatsächlich sehr wichtig.«
May drehte sich zu ihr um. »Was tun Sie Ihrer Meinung nach mit diesen Gegenständen hier?«
Ein Hauch Skepsis? »Es ist ein Prozess des Verarbeitens.«
»Für wen? Jemand könnte sich das ansehen und denken: ›was für ein Haufen alter Plunder‹.«
»Das darf jeder halten, wie er will. Diesem Museum einen Gegenstand zu überlassen ist eine Möglichkeit, wie man mit etwas zurechtkommen kann, das im jeweiligen Leben schiefgelaufen ist.« Laure zeigte auf eine überaus hässliche bunte Vase, die die kleinere Vitrine dominierte. »Als Gesellschaft laufen wir Gefahr, die Bedeutung von Ritualen zu vergessen.«
»Wenn Sie meinen.« Ungläubig betrachtete May die Vase.
Laure grinste. Die hinter dem Glas der Vitrinen zusammengepferchte Mischung aus Fantasie, Sehnsucht, Wut und tief sitzender Enttäuschung war schwer, um nicht zu sagen, unmöglich zu beziffern, selbst unter idealen Bedingungen, und die Vase schien dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein.
»Die ist so hässlich, ich kann gar nicht wegsehen«, gab May zu.
»An schlechten Tagen beten wir zum Gott des Zerbrechens, aber irgendwie will er uns einfach nicht hören.« Hastig fügte sie hinzu: »Das dürfen Sie aber nicht zitieren.«
Mays Aufmerksamkeit wanderte zu einem gerahmten Scherenschnitt aus schwarzem Papier, der zwischen den Fenstern hing. Er hatte etwas Provisorisches, und der Schnitt war unsauber ausgeführt. Der Dargestellte – ein kleiner Mann, die Haare nach hinten gestrichen, eine römische Nase – hatte eine Gitarre in der Hand. »Er sieht toll aus. Lebt er noch?«
Laure stand hinter May. »Nein.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Tja …«
May fuhr sich mit der Hand durch die Haare, ihre Finger blieben am Halsansatz darin hängen. Sie pulsierte vor Energie, Angespanntheit und einer eigenartigen Verletzlichkeit. War Laure einst auch so gewesen? Ja, das war sie – und das war ein guter Gedanke.
Für gewöhnlich antwortete Laure bei dieser Frage: Ich weiß nicht, wer er ist. Dieses Mal drängten die Worte aus ihr heraus. »Ich weiß nicht, wo er ist. Ich wünschte, ich wüsste es.«
***
May Williams würde ihre Antwort analysieren. Keine Frage.
Diese Vorstellung ging Laure den restlichen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Ein spitzer Fingernagel hatte sich durch ihre Hülle gebohrt, und wenn das passierte, wurde sie unruhig.
In der Rue de la Grange aux Belles kümmerte sich Monsieur Becque um den nachmittäglichen Verkauf der Erzeugnisse. Für ein paar Euro bot er Laure eine überreife Alphonse-Mango, vier Tomaten und eine Aubergine an. Nicht schlecht. Sie bezahlte, verabschiedete sich und ging weiter.
Es war ein warmer Herbstabend, einer dieser für Europa typischen Abende, der die Pariser auf die Straße lockte. Obwohl das Tageslicht gerade erst schwand, brannte in manchen Fenstern bereits Licht, und Leute in Feierlaune versammelten sich in den hell erleuchteten Bars und Cafés. Die Mädchen trugen häufig schulterfreie Tops oder einen tiefen Rückenausschnitt. Ältere Frauen waren in High Heels und Lederröcken unterwegs, die Männer in Stoffhosen und Bomberjacken. In Gruppen strömten sie zu den Kanälen, und ihre Unterhaltungen vermischten sich in der abendlichen Atmosphäre. Ein paar Einzelne hatten es sich auf Bänken gemütlich gemacht, den Kopf über ihr Handy gebeugt.
Laure lief gegen diese Strömung und bog nach Norden ab in die Straße zur Maison de Retraite , dem Altenheim, Ecke Rue Martat und Rue Louis Capet. An diesem Abend, an dem einem die unterschiedlichsten Lebensstile ins Auge fielen, würde sie jemanden besuchen, der am Rande des Todes stand.
Wie das Museum gehörte die Maison de Retraite zu den
älteren Häusern des Saint-Martin-Viertels. Das Haus hatte hohe, schmale Fenster, Wände aus Ziegelmauern und Stein mit Pecherkern, die auf seine mittelalterliche Vergangenheit hinwiesen. Es war ein vertrauter Anblick, aber Laure hatte es noch nie von innen gesehen. Nun, da sie hineingebeten wurde, betrat sie den engen, düsteren Gang, in dem es nach Kloster roch, was nicht zu den älteren Bewohnern zu passen schien. Doch die Gerüchteküche wusste zu erzählen, es sei ein schöner Ort, um seine letzten Tage dort zu verbringen. »Sie sind sehr freundlich da«, »Sie wissen, was es heißt, alt zu sein …«
Am Empfang traf sie auf die leicht zerzauste und atemlose directrice , Madame Maupin, allem Anschein nach eine zupackende Person. Zumindest vermittelte sie diesen Eindruck. »Entschuldigung, Madame, ich habe einem neuen Bewohner geholfen, sich einzurichten. Es gefiel ihm nicht, wie das Bett aufgestellt war, also mussten wir es herumschieben, bis alles passte.« Sie streckte eine Hand aus. »Schön, dass Sie da sind. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass wir Sie kontaktiert haben?«
»Nein. Ganz und gar nicht. Ich bin darauf angewiesen, dass die Leute sich bei mir melden.«
Madame Maupin entdeckte einen Fleck auf ihrem Rock, rief unwirsch etwas aus und rubbelte daran herum. »Madame Raoul hat nicht mehr lange; sie hat erfahren, was das Museum ausstellt, und möchte eine Schenkung machen. Ich dachte, es wäre besser, wenn Sie ihre Geschichte aus erster Hand erfahren.« Diese Redensart war auf Englisch durchaus bildhafter, wo man etwas geradewegs aus dem Maul des Pferdes vernahm, aber Laure war klar, was Madame Maupin damit sagen wollte. »Sie hatte gehofft, sie würde es bis zu ihrem hundertsten Geburtstag schaffen. Aber man weiß nie, was Gott für einen bereithält.«
»Nein, das weiß man nicht«, antwortete Laure und hoffte, dass sie nicht so ironisch klang, wie sie sich wahrnahm.
Madame Maupin führte Laure zu einem Lift, der sie in den obersten Stock brachte. Trotz der kleineren Fenster war das Licht hier oben heller, und ein Sonnenstrahl fiel durch die nach Süden ausgerichteten Flügelfenster herein.
Madame Raouls Zimmer war klein und beengt. Man hatte das Krankenhausbett gerade so hineingequetscht, doch Medikamente, Uhr, Rosenkranz und Bibel auf der Kommode lagen mit chirurgischer Präzision auf einem weißen Deckchen. Ein Stuhl passte gerade eben neben die Tür.
Als Laure eintrat, drehte die Frau, die gestützt von vielen Kissen im Bett saß, den Kopf. Madame Maupin beugte sich über sie – beschrieb mit ihrem gebogenen Körper ein Inbild der Güte. »Es braucht hier keine politesse , Madame.« Sie fuhr über die Ecke des Kissens. »Sagen Sie einfach, was Sie sagen wollen.«
Laure stellte sich auf die andere Seite des Bettes. Madame Raoul konzentrierte sich auf die directrice . »Den Kissenbezug, Madame.« Die Stimme war schwach. »Würden Sie den holen?«
Madame Maupin öffnete die oberste Schublade der Kommode, holte ein in Seidenpapier eingeschlagenes Päckchen heraus und legte es Madame Raoul auf den Brustkorb, die ihr bedeutete, es auszuwickeln. Es war ein quadratischer, spitzenbesetzter Kissenbezug, verziert mit weißen Stickereien. Ein Hauch Lavendel und die Muffigkeit von altem, unbenutztem Leinen – ein Mief, wie man ihn häufig in brocante -Läden antraf – vermischten sich mit dem Geruch nach Medikamenten und alter Frau.
Madame Raoul hob eine skeletthafte Hand und zeigte auf den Kissenbezug. »Den habe ich gemacht, als ich siebzehn war und kurz vor der Hochzeit stand«, sagte sie. Zwischen den Sätzen machte sie eine Pause, um Atem zu schöpfen. »Unsere Mütter brachten es uns bei, und sie hatten es wiederum von ihren Müttern beigebracht bekommen. Da, wo ich herkomme, war das eine Tradition. Jedes Mädchen musste das machen. Es war ein Symbol unserer Rolle als Ehefrau und Mutter.«
Laure berührte das Leinen mit den Fingerspitzen. »Es ist exquisit.«
»Madame Maupin, Ihnen wird nicht gefallen, was ich gleich sage.« Madame Raoul sah auf, und die beiden Frauen wechselten einen Blick. »Chère Madame, ich möchte Sie nicht aus der Fassung bringen.«
»In diesem Fall habe ich noch andere Dinge zu tun.« Madame Maupin zog den Stuhl ans Bett und bedeutete Laure, sie solle sich dorthin setzen. »Es ist einfacher zuzuhören, wenn Sie es bequem haben. Wenn Sie fertig sind, klingeln Sie bitte.«
Laure setzte sich, und ihr Gesicht war nun fast auf gleicher Höhe wie das von Madame Raoul. »Soyez rassurée, Madame. Wenn wir übereinstimmen, dass es einen Platz im Museum braucht, dann weiß ich genau, wo es hinkommt. Erzählen Sie mir davon.«
Madame Raouls Brust hob und senkte sich. Laure stellte ihre Tasche auf den Boden und faltete die Hände im Schoß. Wenn diese Unterhaltung entspannt verlaufen sollte, dann musste sie still und aufmerksam sein, das wusste sie.
Der Atem ging schwer. »Eine Frau sein heißt Gottes Lasttier sein.«
Laure setzte sich auf. Sie hatte Frömmeleien erwartet, keinen Ikonoklasmus.
»Sie sind eine berufstätige Frau, Sie wissen das. Ich war ein Bauernmädchen und hatte keine Wahl. Sahen Sie sich noch nie zu dem Schluss gezwungen, dass Er sich, indem er die Frau erschuf, seinen größten Scherz erlaubt hat?« Sie hatte offensichtlich Schwierigkeiten beim Atmen, und Laure legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Das Werk eines Gottes, der ein Sadist ist.«
»Glauben Sie denn nicht an Gott?« Laure warf einen Blick auf die Utensilien des Glaubens, die auf der Kommode ausgebreitet lagen.
Es folgte ein langer Seufzer. »Das macht die Leute hier glücklich. Mein Hass auf Gott ist zu viel für sie. Das verstehe ich. Es ist schwer für sie.« Ihre Lider schlossen sich schwerfällig. »Wir wurden im Glauben erzogen; er hing wie ein Schlüssel um unseren Hals. Ich glaubte daran. Gott war der Vater, und mir wurde beigebracht, dass es meine Bestimmung war, Ihm zu gehorchen, Ihm und meinem Ehemann.«
Laure wartete.
»Aber der Glaube ist eine Lüge, Madame.«
Madame Raouls Glaube? Oder jedweder Glaube, der in so vielerlei Formen auftrat, darunter auch der politische Glaube?
»Gott hat mir zwei meiner Kinder genommen. Lucie hat ihm nicht gereicht, nein, er musste mir auch noch Jean nehmen. Gott wollte alles, was mir etwas bedeutete, und sorgte dafür, dass Er es bekam.«
»Ihr Ehemann?«
Madame Raoul spielte an dem Kissenbezug herum. »Wenn Sie es sehen könnten … wenn Sie es verstehen könnten, ich habe Blutergüsse und Narben unter der Haut, die mir der Mann zugefügt hat, der versprach, mich zu lieben und zu ehren.«
Das Bemühen, Sinniges von sich zu geben, war überaus anstrengend, und sie fiel in einen Halbschlaf. Laure sah aus dem Fenster zum dunkler werdenden Himmel. Es verstand sich von selbst, den Sterbenden zuzugestehen, dass sie sich ihre Zweifel und ihre Bedrängnis von der Seele redeten. Sie mussten die Erlaubnis haben, die Fragen zu stellen, die ihnen vielleicht nicht zugestanden worden waren oder für die sie zu Lebzeiten nicht genug Kraft gehabt hatten.
Madame Raoul wachte ebenso unvermittelt auf, wie sie eingeschlafen war, und starrte Laure an. »Nichts im Leben war wie versprochen«, sagte sie. »Ich bitte Sie, diesen Kissenbezug als Beispiel dafür zu nehmen, wie Frauen verraten werden.«
»Aber doch sicherlich nicht alle?«, sagte Laure sanft. »Nur manche.« Madame Raoul runzelte die Stirn, und Laure fuhr fort. »Madame Raoul, wir haben uns eben erst kennengelernt, aber es betrübt mich, dass Sie so verbittert sind. Kann ich nichts sagen, das irgendwie helfen könnte?«
Madame Raoul wandte den Kopf ab. »Machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe gesagt, was ich sagen wollte, das verschafft mir Ruhe und Frieden. Ich werde den Menschen hier keine Sorgen bereiten.«
Madame Raouls Initialen und die ihres Mannes erzeugten ein wallendes Basrelief. Als Laure es wieder in das Seidenpapier einschlug, sagte sie: »Er sieht fast unbenutzt aus.«
Die sterbende Frau machte mehrere schmerzhaft klingende Atemzüge. »Wenn Sie es aus nächster Nähe betrachten, werden Sie Blutflecken darauf erkennen.«
»Wessen?«
»Meine. Vom Nähen. Ich habe sie nie herausgewaschen bekommen.«
Auf dem Heimweg dachte Laure über die Blutflecken nach, die, obwohl sie winzig waren, die tatsächliche Ge-
schichte von Madame Raouls Kissenbezug erzählten, nicht die Perfektion des zugeschnittenen, bezwungenen und verschönerten Leinens.
In der Wohnung nahm Laure eine lauwarme Dusche und fuhr dann mit einem Taxi ins Marais, wo sie sich mit Freunden zum Abendessen im Lapin Blanc traf. Im Taxi beschloss sie, dass der Kissenbezug einen Echtholzrahmen bekommen und in Raum 7 hängen sollte.
Früh am nächsten Morgen, noch bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machte, klingelte ihr Handy. Es war Madame Maupin. »Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass Madame Raoul heute Nacht friedlich entschlafen ist.«
»Das tut mir leid. Sie war eine ungewöhnliche Frau. Hatte sie überhaupt Familie? Das müsste ich für die Unterlagen des Museums wissen. Für den Moment, wenn wir den Kissenbezug zurückgeben.«
»Keinerlei Familie«, lautete die Antwort. »Leider war sie viele Jahre im Gefängnis, und ihre Familie hat sie verstoßen.«
Widerstrebend – nur sehr widerstrebend – stellte Laure die nächste Frage. »Weshalb war sie denn im Gefängnis?«
Sie hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. »Wegen Mordes. Madame Raoul hat ihren Ehemann um-
gebracht.«