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Paris, heute
Laure berichtete May Williams gerade von den Plänen für das Mittagessen, mit dem die Zusammenarbeit zwischen dem Museum und Maison de Grasse gefeiert werden sollte, als die erste Person, die an diesem Tag einen Termin mit ihr hatte, hereingeführt wurde.
Eine Frau um die vierzig, die einmal sehr schön gewesen war, sich aber heruntergehungert hatte, sodass ihre Haut ganz pickelig war. Sie hatte stark geschminkte Augen mit dunklen Ringen und perfekt manikürte Hände. Sobald sie das Vorgeplänkel hinter sich gebracht hatten, holte sie ein Spielbrett und eine Reihe holzgeschnitzter Schachfiguren hervor und stellte sie so selbstverständlich auf, als wäre es ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
Das alles ging schweigend vonstatten. Laure war es gewohnt zu warten und betrachtete indessen die verräterisch nach unten zeigenden Mundwinkel der Frau und die teure Designerlederjacke.
Als die letzte Spielfigur auf dem Brett stand und die beiden Spielseiten einander gegenüber aufgestellt waren, fing sie an. »Sie erkennen mich vielleicht nicht«, sagte sie mit deutlichem englischem Akzent, »aber mein Name ist Adeline LeDuc.«
»Ich habe von Ihnen gehört«, sagte Laure.
May googelte ihren Namen bereits. »Sie sind eine Schachgroßmeisterin.«
»Ja.«
May las laut vor: »Das ist ein auf Lebzeiten verliehener Titel. Momentan tragen ihn nur drei Frauen.«
»Auch das stimmt«, sagte Adeline. Sie wechselte zu Französisch. »Aber es ist nicht hilfreich … ich versuche, die geschlechtliche Gleichstellung außen vor zu lassen.«
Laure übersetzte für May und zeigte auf die Schachfiguren. »Das ist ein wunderschönes Schachspiel.«
Adeline sah von dem Brett auf. »Es ist handgefertigt, nach meinen Vorgaben.«
»Darf ich?« Laure griff über das Brett zum König. Die Figur hatte kurzes Haar, trug eine Rüstung und einen Wappenrock mit vierteiligem Wappen, auf dem auch der Britische Löwe zu erkennen war. »Kommt mir das nur so vor, oder ist das Heinrich V.?« Sie nahm eine zweite Figur, ein junger Mann mit einem Schal, der ihm mehrfach um den Hals geschlungen war. »Hamlet?« Sie zeigte auf das Schachbrett. »Figuren aus Shakespeare?«
»Ganz genau.«
»Ein Kompliment an die Engländer?«
»Man kann wohl mit gutem Grund sagen, dass Shakespeare jenseits jeglicher Nationalität zu betrachten ist.«
Wieder übersetzte Laure für May. »Da stimme ich zu«, meinte diese.
Laure hielt die Hamlet-Figur in der Hand. Auf dem Spielbrett waren die Bauern: eine Julia mit wallendem Haar, eine winzige Feste, eine gertenschlanke Rosalind, gekleidet à la garçonne . Hier vereinten sich die Narren und die Helden. Die Ruchlosen und die Idioten. Der Edelmann und der Taugenichts – die ganze Palette menschlicher Eigenschaften und Verrücktheiten war durch diese Figuren vertreten. »Es ist überraschend, wie gut man sie erkennt«, sagte Laure.
»Wenn man Shakespeare kennt«, unterbrach May in holprigem Französisch.
»Ich gab es als Hochzeitsgeschenk in Auftrag. Derjenige, der es herstellte, war ein ausgezeichneter Handwerker. Inzwischen ist er verstorben.« Sie stieß einen Seufzer aus, tief und voller Bedauern. »Er verstand, dass jedes Stück es wert sein musste, in die Hand genommen zu werden. Es war unverzichtbar, dass sie wunderschön gearbeitet und in sich stimmig waren.« Ihre manikürte Hand schnellte über das Brett, und ein weißer Bauer wurde in die Position für eine Kampfansage gerückt. »Es interessiert Sie vielleicht, dass ich gerade einen klassischen Eröffnungsschachzug gemacht habe.« Sie wartete, bis Laure das übersetzt hatte. »Damit habe ich bei mehreren Gelegenheiten gewonnen.«
May war fasziniert. »Was müsste man tun, um diesen Zug zu kontern?«
Als Erwiderung darauf bewegte Adeline LeDuc den schwarzen Bauern, sodass er dem weißen gegenüberstand. »Damit sind diese beiden außer Gefecht gesetzt, und ich habe den Vorteil, dass ich den Läufer bewegen kann.«
Wie das manchmal bei Begegnungen im Museum der Fall war, machte man Entdeckungen. »Madame LeDuc, erzählen Sie uns, weshalb Sie ein so schönes Stück stiften wollen?«
May murmelte: »Sein oder nicht sein, und – ich nehme an, es war nicht?«
Laure warf ihr einen Blick zu.
»Mein Mann war ebenfalls ein großer Schachspieler«, sagte Adeline. »Wir hatten es in unserem Schlafzimmer aufgestellt. Manchmal, wenn einer von uns über einem Problem in einem Spiel grübelte, standen wir nachts auf und lösten es auf dem Spielbrett.« Sie berührte den zweiten König, Macbeth, der einen Dolch in der Hand hatte. »Wir dachten, es würde funktionieren. Zunächst hatten wir einander versprochen, dass es uns egal wäre, wer von uns mehr Spiele gewinnt oder mehr Geld verdient. Aber so war es dann nicht. Ich habe weiterhin Spiele gewonnen, aber meine Ehe verloren. Pierre gab sich Mühe. Wir beide gaben uns Mühe. Er verbarg seine Eifersucht, und ich spielte meine Gewinne herunter. Manchmal verschwieg ich sie ihm auch. Einmal habe ich ein wichtiges Spiel absichtlich verpatzt.«
Laure übersetzte.
»Männer«, meinte May nur.
Adeline LeDuc verstand es und schüttelte den Kopf. »Zu einfach.« May wurde rot. »Es hätte auch andersherum sein können. Wäre Pierre Schachgroßmeister geworden, dann hätte ich sehr neidisch werden können. Wenn ein verheiratetes Paar sich im selben Revier misst, ist das nicht gut.« In ihren Augen lag ein freudloser Ausdruck. »Er hat ein Versprechen nicht gehalten.«
Laure nickte. »Das verstehe ich.«
Adeline nahm die Macbeth-Figur hoch – den schwarzen König – und ging damit auf den weißen König zu, Heinrich V. »Ich möchte, dass es irgendwohin kommt, wo die Leute sehen können, wie außergewöhnlich es ist. Ich kann nie wieder damit spielen, und mein Ex-Mann weigert sich, es anzufassen.« Sie stellte Macbeth ab. »Schachmatt.«
»Sauber!«, sagte May.
»Madame« , Laure erhob sich. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen und über das Schachspiel mit Ihnen zu sprechen. Meine Kollegen und ich werden über einen freien Platz beraten …«
Vielleicht lag es daran, dass Laure das nahende Ende der Unterhaltung angedeutet hatte, in jedem Fall fiel jegliche Milde von Adeline LeDuc ab. »Mein Mann sollte lernen.« Sie sammelte die Schachfiguren ein und klappte das Brett mit einem dumpfen Geräusch zu. »Mir ist klar, dass ich Sie nicht beeindrucke«, sagte sie an Laure gewandt, machte damit deutlich, welche Art Gegner sie auf der anderen Seite eines Schachbretts sein konnte.
Nachdem Laure Adeline an Nic übergeben hatte, kam sie zurück in den Konferenzraum. May starrte aus dem Fenster, ihr Laptop stand offen da. »Wie wäre es damit?« Sie las aus ihren Notizen vor. »So vieles wird in dem Museum ausgestellt, nicht nur Gegenstände. Bruchstücke aus den Leben, die nicht nach Plan verlaufen sind, was in Wut, Resignation oder Verzweiflung seinen Ausdruck findet, manchmal aber auch in Erleichterung und einem erlöstem Geist.« Sie sah auf, und was sie in Laures Gesicht las, verwirrte sie offensichtlich. »Sie werden die Schachfiguren nicht nehmen, oder?«
»Nein.«
»Darf ich wissen, weshalb?«
Laure ging zum Fenster, und May gesellte sich zu ihr. Zusammen blickten sie über die Pariser Dachlandschaft, die im Sonnenlicht wunderbar erstrahlte. »Wenn man an Wettkämpfen teilnimmt, dann um zu gewinnen. Das ist das Wesen der Sache, nicht wahr?«
May fuhr sich wieder auf die für sie typische Art durch die Haare. »Ich verstehe noch nicht ganz.«
»Als Konkurrenten ist es ihre Pflicht, zu versuchen zu gewinnen, und wenn sie an denselben Wettkämpfen teilnahmen, war es unumgänglich, dass einer von ihnen den anderen übertrumpfen würde. Das Versprechen, das sie einander gegeben haben, war von vornherein nicht realisierbar. Eigentlich war es gar kein Versprechen. Sondern eine Möglichkeit, wie die Ehe zustande kommen konnte. Das muss ihnen klar gewesen sein.« Widerstrebend wandte Laure sich von der Aussicht ab. »Bei so begrenztem Raum muss ich schwierige Entscheidungen treffen. Dieses Schachspiel ist eine solche.«
Auf dem Weg nach unten blieb May stehen und fragte: »Heinrich V. hat die Franzosen doch erobert, oder nicht?«
»Am besten erwähnen Sie das nicht, solange Sie in Frankreich sind«, antwortete Laure. »Aber ja, kurzzeitig hat er das.«
»Abgesehen von allem anderen, steht das Schachspiel also auch für eine unliebsame Episode der Geschichte?«
»Wenn man so will.«
»Hmm«, sagte sie und fuhr damit fort, Laure zu überraschen. »Die Geschichte beschönigen zu wollen ist schwachsinnig. Sie kommt immer wieder angerannt und beißt einen in den Fuß.«
Laure hastete die restlichen Stufen hinunter. »Aber es kann einen davon abhalten, wahnsinnig zu werden.«
Wie eine wärmegesteuerte Zielsuchrakete visierte May Laure geradewegs an. »Dann wissen Sie, wie es ist, wahnsinnig zu werden? Oder einen Zusammenbruch zu erleiden?«
»Habe ich das gesagt? Das war nur eine Feststellung, mehr nicht.«
***
Am Ende ihrer Abendinspektion leerte Laure die Spendenbox, vermerkte die Summe in der Online-Übersicht, fuhr den Computer am Verkaufsschalter herunter und ging nach oben. Dort lehnte sie in der Tür und beobachtete, wie Nic und May Reiseanekdoten austauschten.
Nic stand beim Fenster, einen dünnen braunen Arm auf dem Fenstersims abgestützt. May saß auf seinem Stuhl und sah zu ihm hoch.
»Ich wette, das hast du nicht gemacht.« Sie strahlte übers ganze Gesicht.
Laure ging zu Nics Schreibtisch. »Erzählt er Ihnen gerade, wie er einhändig den Everest erklommen hat?«
»Etwas in der Art.« May wandte den Blick nicht von Nic ab. »Sollte ich ihm glauben?«
»Das hängt davon ab, wie sehr Sie Märchen mögen«, antwortete Laure liebevoll.
»Und mit dieser Person muss ich arbeiten«, seufzte Nic. »Ich habe es wirklich nicht leicht.«
Laure nahm den Band mit den Gedichten von Philip Larkin an sich, der in Raum 1 ausgestellt war und zurückgeschickt werden musste. Die Beschriftung »Der Mann reicht dem Mann die Misere weiter« stammte aus dem Band und war von einem wütenden Mann, der »Der Mann« durchgestrichen und durch »Die Frau« ersetzt hatte, ausgestaltet worden.
May stand auf. »Ich sollte nicht hier sein. Aber ich wollte noch fragen, wie lange die Gegenstände im Museum bleiben.«
Laure holte ihre Tasche unter dem Schreibtisch hervor. »Manche sind schon seit dem Beginn hier, aber für gewöhnlich bleiben sie drei Jahre. Der Wechsel ermuntert die Besucher dazu, immer mal wieder vorbeizukommen und herauszufinden, was neu ist. Jeder Gegenstand ist auf Papier und im Computer katalogisiert. Wenn wir etwas ausmustern, kontaktieren wir den Spender und fragen nach, wie wir damit verfahren sollen.«
Sobald Laure auf der Straße war, fühlte sie sich so erschöpft, dass sie ihre Essensverabredung absagte.
»Simon, ich bin total fertig. Es tut mir so leid. Können wir es verschieben?«
»Ich bin hier, damit wir zusammen herumalbern.«
»Tut mir leid.«
Simon, der Anwalt, der für Nos Arts en France arbeitete, war zu einem Freund geworden. Kennengelernt hatten sie sich bei Verhandlungen über die bescheidenen Subventionen von Nos Arts. Später war ihr eine anonyme Förderung angeboten worden, die über Nos Arts verwaltet werden sollte, und Simon hatte sich bereit erklärt, das zu übernehmen. Zunächst war die Absprache, dass die Unterstützung für ein Jahr gelten sollte, aber dann – aus heiterem Himmel – wurde ein fünfjähriger Förderungsvertrag daraus. Als weiteres überraschendes Detail gehörte zu den Bedingungen der Förderung, dass weder Laure noch ihre Treuhänder oder ihr Team nachfragen durften, wer der Sponsor war.
Warum? , hatte sie wissen wollen. Warum sollte mir so großes Glück widerfahren? Simon erwiderte, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gebe, die man nicht erklären könne, und das sei eben eines davon. Abgesehen davon riet er ihr, das Geld anzunehmen und weiterzumachen.
Obwohl er zu den seltenen Menschen gehörte, die es schafften, zugleich diskret und schwatzhaft zu sein, ließ er sich doch nie auch nur ansatzweise über den Hergang aus, durch den die Entscheidung herbeigeführt worden war. »Ich bin ein Profi«, sagte er mit dem schiefen Lächeln, das sie zu lieben gelernt hatte. »Außerdem verlierst du so nicht das Interesse an mir.« Simon war glücklich verheiratet mit Valerie, mit der er drei Kinder hatte, aber es machte ihm Spaß, so zu tun, als wäre dem nicht so.
»Simon, ich mag dich wirklich sehr. Gib Valerie und meinem Patenkind ein Küsschen von mir.«
In der Rue de la Grange aux Belles ging es geschäftig zu. Die Nacht milderte die harten Konturen, während die Gerüche der Stadt vom Tag in die des Abends mit geröstetem Knoblauch, Kurkuma, allen möglichen Parfums und Zigarettenrauch übergingen.
Langsam schlenderte sie weiter, suchte zwischen dem Müll und den Take-away-Schachteln nach einem Zeichen von Leben. Dabei kam sie auf der Hälfte der Straße an dem Gully vorbei, aus dem ihr der Geruch von abgestandenem Wasser und verrottendem Unrat entgegenschlug.
Ihre Sorge um Kočka nahm immer mehr zu.
Schließlich erreichte Laure das dreieckige Fleckchen Erde, wo sie sie sonst immer antraf, und empfand etwas, das Furcht sehr nahe kam. Wenn Kočka sich woanders eingerichtet hatte, mit ihrem schwierigen, schmerzlichen Leben im Schlepptau weitergezogen war, hatte sie dann überhaupt eine Zukunft? Ein Lebewesen, das so ungeliebt und vernachlässigt war, das ging gegen die Natur, und sie war wütend auf sich, dass sie nicht schon früher etwas unternommen hatte.
Aber Kočka war da, an ihrem üblichen Platz, ausgestreckt auf dem unebenen, betonverschmierten Boden. Als Laure näher kam, hob sie den Kopf. Ihre großen Augen waren trüb, und sie keuchte. Neben ihr lagen drei neugeborene Kätzchen, zwei davon noch immer in der Eihaut. Keines bewegte sich, und Laure wusste, dass sie es nicht geschafft hatten.
Sie holte die Wasserflasche aus der Tasche und flößte Kočka etwas Wasser ein. Sie schien dankbar zu sein und leckte es hektisch auf. Dann rief Laure den Tierarzt an, mit dem sie das letzte Mal einen Termin vereinbart hatte. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, und sie bekam gesagt, dass sie bei einem Notfall in die nächstgelegene Tierklinik fahren solle.
Laure zog ihre Strickweste aus, legte Kočka darauf und wickelte sie ein. Sie zuckte zusammen, als sie die noch feuchten Kätzchen hochhob und sie vorsichtig in ihre Tasche legte, ehe sie sich ein Taxi rief.
Die Tierklinik hatte eine Höchstzahl von verletzten und ausgesetzten Tieren zu verzeichnen. »Einer der periodischen Anfälle von Menschlichkeit bei dieser Unmenschlichkeit«, meinte der Tierarzt, als Laure Kočka auf den Untersuchungstisch legte und die Kätzchen herausholte.
Kočka muss sie gerochen haben, denn sie wandte den Kopf zu ihnen um und stieß einen leisen, verzweifelten Laut aus. Der Tierarzt beugte sich über sie, untersuchte sie gründlich, tastete ihren noch immer geschwollenen Bauch ab und sah nach, ob sie Risse oder Blutungen hatte. »Sie befand sich nicht in der Verfassung, ihre Jungen durchzubringen.« Mit schief gelegtem Kopf betrachtete er Laures ruinierte Strickweste. »Das tut mir leid.«
»Mir auch«, sagte sie. »Sie war teuer.«
Sie stand da und sah zu, während der Arzt Kočka behandelte – Vitaminspritzen, Antibiotika und ein Mittel, damit ihr Köper aufhörte, Milch abzusondern. Sie atmete den Geruch verängstigter Tiere ein, der von Desinfektionsmittel überlagert wurde, das den Raum erfüllte. Einmal sah der Arzt von Kočka auf und sagte: »Das wird Sie ein Vermögen kosten.« Zum Schluss legte er die toten Kätzchen neben Kočka auf den Tisch. »Sie sollte um sie trauern dürfen.«
Sie sahen zu, wie die schwache, verletzte und vom Leben benachteiligte Kočka an jedem schnüffelte.
»Es tut mir leid, aber Sie werden sie mitnehmen müssen«, sagte der Tierarzt schließlich. »Wir haben keinen Platz.«
»Das geht nicht.« Die ach so geordneten Verhältnisse ihres Lebens brachen auf. Sollte sie die Musik, das Feuer und die Leiden einer Vergangenheit hereinlassen? Sie sah hinab auf die kleine Katze, die versuchte, sich von ihren Kätzchen zu verabschieden. Sie hielt sich an der Kante des Instrumententisches fest und hatte Mühe, gegen den Kloß im Hals anzukommen. »Da, wo ich wohne, gibt es Vorschriften.«
Der Tierarzt bedeutete ihr, dass sie den Tisch nicht anfassen solle. »Aus hygienischen Gründen«, sagte er, nicht unfreundlich.
Als Experte für solche Situationen reichte er ihr ein Taschentuch. »Meiner Erfahrung nach leben die meisten Tiere irgendwo, wo es solche Vorschriften gibt. Kočka kann nicht wieder ausgesetzt werden. Warum sonst haben Sie sie hergebracht? Wenn es ihr besser geht und es bei uns nicht mehr so voll ist, dann finden wir vielleicht eine Lösung.« Er ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Es kann sein, dass wir sie einschläfern müssen.«
Sie starrte den Tierarzt an. Ganz offensichtlich war es nicht die erste Situation dieser Art für ihn, und bei aller Freundlichkeit war er doch so erfahren, dass er die Augen nicht vor der Realität verschloss.
In der Wohnung von Madame Poirier war ein Streit in vollem Gange, lauter als gewöhnlich. Dennoch war es nervenaufreibend und verlangte Raffinesse, den Karton mit Kočka an Madame Poiriers Wachposten vorbeizuschmuggeln. Die alten Fertigkeiten, die sie sich in Prag angeeignet hatte, kamen zum Einsatz. Beweg dich nicht schneller als sonst. Sieh dich nicht um. Die winzige Kočka war schwerer, als sie aussah, dennoch kam Laure auf der Treppe nicht ins Schwanken.
In der Wohnung stellte Laure den Karton auf dem Boden ab und ging ins Schlafzimmer. Der Föhn lag auf dem Bett, wo sie ihn am Morgen hingeworfen hatte, und auf dem Regal neben dem Spiegel lagen ihre Schminkutensilien verstreut herum.
Hinten im Schrank, wo sie die Bettwäsche aufbewahrte, fand sie ein altes Badetuch. Das legte sie über einen Sofaplatz in ihrer Sitzecke. Kočka miaute in dem Karton, also holte sie sie heraus und legte sie auf dem Badetuch ab.
Der Tierarzt hatte sie vorgewarnt, eine hauptsächlich streunende Katze würde eine Wohnung nicht respektieren und könnte verängstigt sein, wenn sie sich eingesperrt fühlte, allerdings sei sie vermutlich zu schwach und zugedröhnt, um zu reagieren. Laure kauerte sich neben sie, streichelte den kleinen Kopf und fütterte sie mit den Katzenkeksen, die ihr der Tierarzt mitgegeben hatte.
Nach einer Weile schlief Kočka ein, ihr geschwollener, gebeutelter Körper hob und senkte sich beim Ein- und Ausatmen kaum. Laure hatte nicht die Absicht, sich von ihr wegzubewegen, also setzte sie sich auf den Boden neben das Sofa und nahm sich ihren Laptop. Zahlen. Pläne. Prognosen. Mit einer Bewegung des Fingers schob sie diese über den Bildschirm, bis sie verschwunden waren. Nichts davon nahm sie in sich auf.
Kočka mochte ruhig sein, nicht so Laure. Sie beugte sich vor, holte das gerahmte Zugticket aus der Tasche, das sie mit nach Hause genommen hatte – schließlich war das ihres.
Sie wiederholte Mays Frage.
»Warum also Tschechisch?«
»Ich habe einen Sommer lang dort gelebt.«
»Und das ist ein unerfülltes Versprechen?«
»Tatsächlich ja, es hat sich als solches herausgestellt.«
Lange saß sie so da, den Rahmen auf die Knie aufgestützt. Tomas hatte sich geweigert, darüber nachzudenken, das Land zu verlassen, bis klar wurde, dass ihm keine andere Wahl blieb. »Ich kämpfe durch die Musik«, hatte er während einer ihrer vielen Diskussionen in den Anfangstagen gesagt, wenn sie Bier in der Sonne tranken oder am Fluss entlangspazierten. »Der Patriot bleibt. Was würde passieren, wenn sie mich schnappen?«
Sie wusste genug und antwortete. »Gefängnis.«
Er ergriff eine Locke von Laures Haar. »Du hast gerade bewiesen, dass du aus dem Westen kommst, wo ihr eine durchlässige, liberale Kultur habt. Wenn sie mich schnappen, werden sie die Infos aus mir herausquetschen, ganz egal, wie sehr ich versuche standzuhalten. Ich kann andere nicht in Gefahr bringen.«
»Herausquetschen?« Sie hatte darüber gescherzt.
Es war nicht lustig. Es war nie lustig gewesen. »Okay, dann quetsche es aus mir heraus.«
Im kommunistischen Prag gab es ein Leben, das sich an der Oberfläche abspielte, während ein anderes parallel dazu mit eigener Sprache und Mythen ablief, nicht auf den ersten Blick erkennbar.
Er hätte es nicht tun sollen, dennoch hatte Tomas’ Freund Milos ihr von den Fluchtstrecken erzählt. Zu diesem Zeitpunkt kannten sie einander gut genug.
Fahrt mit dem Trabbi nach Ungarn und versucht, dort über die Grenze zu kommen. Die Grenzhunde sind berüchtigt.
Geht nach Berlin, organisiert jemanden, der mit gefälschten Papieren aus dem Westen herüberkommt, und übergebt sie im sogenannten Tränenpalast, wo Ossis und Wessis sich voneinander verabschieden müssen. Sehr riskant, wird nur Deutschsprechenden empfohlen.
Fahrt mit dem Zug von Prag nach Österreich. Die Wien-Option.
Jedem Fluchtwilligen wurde geraten, ins Restaurant am südlichen Ende des Wenzelsplatzes zu gehen, das von Milos’ Vater geführt wurde, und sich zwischen den Tischen hindurch zum Hinterausgang zu begeben. Von dort weiter zur Telefonzelle am Ende der Straße. War ein Faden um den Hörer gebunden, sollte er die Nummer anrufen, die er zuvor bekommen hatte, und auf das Codewort warten. War kein Faden daran, sollte er hier abbrechen. Danach ging es weiter zu einem geheimen, von Regimekritikern genutzten Unterschlupf – es ging das Gerücht, die Briten würden ihn betreiben –, und sobald der Fluchtwillige das richtige Codewort genannt hatte, bekam er einen neuen Ausweis und ein Fahrrad, um zum Bahnhof zu fahren.
Die Chancen standen fifty-fifty.
Dann aber hatte jemand die Information böswillig oder unvorsichtig oder versehentlich preisgegeben, und die sorgfältig aufgebaute Kette war in sich zusammengebrochen. Wo und durch wen? Milos? Lucia, die Boudicca-ähnliche Kämpferin für einen Regimewechsel? Der namenlose Kontakt, der einem das Codewort übermittelte?
Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, und ihre Glieder waren vor Erschöpfung schwer. Dennoch wusste sie, dass ihr eine der Nächte bevorstand, in denen sie nicht viel Schlaf abbekam. Was hatten diese Nächte Xavier wahnsinnig gemacht.
Kočka wachte mehrmals auf, miaute, war rastlos. Laure schob Wache auf dem Boden und versuchte, sie so gut sie konnte, zu beruhigen. Als der Morgen dämmerte, schlummerte sie ein.
Tomas spielte Klavier. Das erstaunte Laure, denn sein Lieblingsinstrument war die Gitarre.
Seine Haare waren untypisch kurz geschnitten, und sie entdeckte einen schmalen weißen Streifen oben an seinem sonnenverbrannten Hals.
»Die Tasten gehen zu schwer«, sagte er in seinem guten Englisch, das dennoch einen deutlichen Akzent aufwies. »Das ist doppelt schwer für mich.«
Er spielte Beethovens Ode an die Freude , was auch überhaupt nicht sein Musikstil war. »Ich weiß, dass das ein Klischee für den Westen ist«, sagte er und wirbelte herum, um sie anzusehen. »Aber nicht für uns.« Er drehte sich wieder zum Klavier um. »Für uns ist das Ende des Krieges noch sehr weit entfernt.« Er spielte weiter. »Musik ist der beste Krieger und wird für uns kämpfen müssen.«
Er erfüllte ihre Ohren mit göttlichen Klängen.
»O Gott«, hörte sie sich sagen. »Ich habe so lange auf dich gewartet.«
»On arrive.« Sein Französisch war nicht halb so gut wie sein Englisch, und er hätte in Paris ziemliche Schwierigkeiten gehabt. »On arrive. Das verspreche ich.«
Ich bin wachgerüttelt worden, dachte sie. Ich bin trunken, hingerissen, frei von Grenzen. Nie hätte ich mir träumen lassen, Verliebtsein könnte bedeuten, dass man gleichzeitig übersprudelnd und gelassen ist.
Ihn am Klavier zu betrachten raubte ihr den Atem.
Die Klänge wurden abgehackter, als sie langsam wieder wach wurde.
Der Traum war so eindringlich und intensiv gewesen, dass Laure einen Moment brauchte, um sich zu orientieren, und zunächst ergab Kočkas Gesicht, das vom Sofa zu ihr nach unten blickte, keinen Sinn.
Mühsam richtete sie sich auf. Bestimmt brauchte Kočka das Katzenklo, also hob sie den schlaffen Körper vom Sofa hoch und setzte sie in der Kiste ab, die zu ihrer immensen Tierarztrechnung hinzugekommen war.
Kočka begehrte auf, schien aber zu verstehen, worum es ging. Laure wandte sich ab. Selbst Katzen benötigten eine gewisse Intimsphäre.