7
Im Museum überschlugen sich die Anrufe, drehten sich hauptsächlich um die Partnerschaft mit Maison de Grasse.
Während May darauf wartete, dass Laure Zeit hatte, beugte sie sich über den Schreibtisch zu Nic und unterhielt sich mit ihm. Laure beobachtete die beiden, wie sie Witze, Anspielungen und Neckereien austauschten, während sie telefonierte. Ohne das Warum zu verstehen, war sie sicher, dass sie beim jeweils anderen Zuflucht suchten.
Nic legte May eine Hand auf den Arm, Mays blaugraue Augen fanden seinen Blick, und beide verstummten. Ein Stechen durchzuckte Laure. Auch sie kannte solche wortlosen, elektrisierenden Vereinigungen, die Schockwellen durch ihren Körper und ihre Seele geschickt hatten.
Die Anrufe hielten bis zur Mittagszeit an. »Es tut mir leid«, sagte Laure, als sie schließlich den Hörer auflegte. »Ich muss mich um meine kranke Katze kümmern.«
Nic ließ May nicht aus den Augen. »Als ich fragte, ob du eine Katze hast, hast du das verneint.«
»Da hatte ich auch noch keine.«
May schlug vor, Laure zu deren Wohnung zu begleiten und dann von dort zu ihrem nächsten Interview mit einer Designerin im Marais zu gehen. »So aufregend. In werde den Nachmittag in einer Pariser Mansarde verbringen.«
Nic warf Laure einen Blick zu, den sie als Warnung verstand. Bei der ersten Gelegenheit nahm sie ihn zur Seite. »Was willst du mir sagen?«
Nie zuvor hatte sie jemanden so erschüttert gesehen wie den für gewöhnlich so gelassenen Nic. »Sie ist ziemlich skrupellos, wenn es um die Arbeit geht.« Laure wusste, dass sie ihn aus seinem Elend erlösen sollte, aber diesem Widerstreit seiner Loyalitäten beizuwohnen war einfach unwiderstehlich. »Aber im Grunde genommen ist sie ganz reizend.«
Das war einer der mitleiderregendsten Fälle, der Laure je untergekommen war, und fast tat ihr der hilflose Nic leid. Ihr Mund zuckte amüsiert. »Soll ich ihr das sagen?«
»Nein.« Als ihm aufging, dass sie ihn geneckt hatte, fügte er hinzu: »Ich wollte nur, dass du weißt, wie … kriminalistisch sie vorgehen kann.«
Sie sah Nic eindringlich an und erinnerte sich daran, dass er es war, nicht sie, der hier in sprudelndes, lusterfülltes Fahrwasser geriet. Aber sie kannte diese erstaunlichen, instinktiven Erwiderungen, die Vorfreude, vermischt mit der Atemlosigkeit und, im besten Sinne, dem Verlangen. Als sie darüber nachdachte, spürte sie wieder diesen alten Dämpfer des Bedauerns. Trauer und Geheimnisse waren jedoch Teil dieses Lebens, und sie hatte sich beigebracht, damit klarzukommen. Sie lächelte ihm zu. »Du solltest auch vorsichtig sein.«
Zusammen liefen Laure und May am Kanal entlang, bis sie in Laures Straße einbogen. Laure befragte May zu ihren Projekten, und May erzählte, dass sie etwas über eine Modedesignerin schreiben würde, die sich von Marokko und einem neuen Flohmarkt inspirieren ließ, der in der Nähe der Place de la Bastille eröffnet hatte. Sie verströmte eine fieberhafte Anspannung, war begierig auf den Job – und für Laure war es, als hörte sie das Echo ihres jüngeren Ichs, denn May plapperte genauso schnell und angeregt wie sie einst.
»Wer hat Sie nach Paris geschickt?«
May blieb stehen, um Blätter von ihren pink-schwarzen Turnschuhen abzukratzen. »Niemand. Hab gespart und bin dann einfach drauflos.«
»Das war mutig.«
»Oder verzweifelt.«
»Um von Ihrer Mutter wegzukommen?«
»Dem Papagei auf meiner Schulter, ja.« Sie wurde hibbelig. »Ich wollte ein Leben haben. Eine Karriere.«
Ausnahmsweise waren die Straßengeräusche auf ein Minimum reduziert. Die Herbstsonne leuchtete wunderbar, und Laure atmete den Duft von trockenen Blättern, Bäckerei, Wasser und einen schwachen Hauch Gewürze ein.
»Sie lieben Paris«, stellte May fest.
»Ja.«
»Ein bisschen? Über alles?«
»Paris ist ein Teil von mir geworden.«
»War das bei Prag genauso? Oder bei Berlin?«
Laure musste sich zwingen, nicht unvermittelt stehen zu bleiben. »Habe ich Prag oder Berlin je erwähnt?«
»Mit ein paar wenigen Worten.« May ging um ein Zelt herum, das auf der Böschung des Kanals errichtet war und neben dem wie betrunken ein Gaskocher lehnte. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Sie hatten einen Chef, der ein wichtiger kommunistischer Akteur war? Oder?«
»Kein Kommentar.«
May sagte: »Ich weiß, dass Sie nicht gern über sich reden, Laure, aber das ist kein Stoff für eine Enthüllung. Nur Hintergrundmaterial. Ich hoffe … nein, ich weiß … dass der Artikel nützlich sein wird, wenn ich ihn richtig hinbekomme. Für uns beide.« Ihr Blick wanderte von den Bäumen über den Kanal zu den Brücken … sie nahm alles in sich auf. »Er könnte gut werden. So richtig gut. Das spüre ich.«
»Moment«, sagte Laure. Sie ging zurück zu dem Zelt, beugte sich nach unten und stellte den Kocher auf. »Sie haben so wenig«, erklärte sie, als sie wieder zu May aufschloss.
May versuchte es erneut. »Wussten die Briten, dass Sie für einen Kommunisten gearbeitet haben?«
Laure wirbelte herum. »Jetzt gehen Sie zu weit«, sagte sie. »Das geht Sie nichts an.«
»Mal abgesehen davon, dass die Vergangenheit nicht umgeschrieben werden kann und sowieso irgendwo da draußen herumgeistert.«
Da hatte May nicht unrecht. »Das stimmt«, räumte Laure ein.
May wirkte ein kleines bisschen selbstzufrieden. »Danke.« Sie ließ einen Moment verstreichen. »Ich hoffe, wir können ehrlich zueinander sein.«
Meinte May das auch so? In der Wohnung lag eine noch immer schwache Kočka auf dem Sofa mit dem Badetuch, ziemlich genau so, wie Laure sie zurückgelassen hatte. Als Laure und May hereinkamen, hob sie den Kopf, und ihre Pupillen wurden weit. Laure kauerte sich neben sie und fuhr über das Fellbüschel zwischen ihren Augen, was Kočka zuließ.
»Das ist doch irrwitzig«, sagte sie laut, hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Fürsorge. »Was soll ich nur mit dir machen?«
May zog ein Aufnahmegerät aus der Tasche.
Kočka schloss die Augen.
»Ich kann sie nicht behalten.«
»Warum nicht?«
Laure erklärte es. May, die den Grund für Kočkas Hiersein sofort verstanden hatte, zwängte sich neben Laure und berührte Kočkas Pfote mit der Fingerspitze. Kočka ließ diese Huldigung zu. »Wenn sie eine Wildkatze ist, müsste sie dann nicht Angst vor Menschen haben?«
Laure holte ein Tablett mit Gläsern und bot May einen Apfelsaft an. »Ich denke, sie hat irgendwann einmal jemandem gehört. Es scheint nicht neu für sie zu sein, sich in Räumen aufzuhalten, und es ist nicht übermäßig schwierig, sie dazu zu bekommen, eine Tablette zu schlucken.«
May beäugte Kočka. »Wie zum Teufel bekommt man eine Katze dazu, eine Tablette zu schlucken?«
»Man legt sie ihr ins Maul und bringt sie zum Niesen.«
»Wie dumm von mir. Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?« Ihre Sprechweise wurde etwas schleppender. »Laure, ich habe ein paar Artikel gelesen. Manche davon sind nicht sonderlich schmeichelhaft.«
May bezog sich wahrscheinlich auf das spitzzüngige Porträt in Madame Figaro . Der Feuilletonchef hatte ihr die Idee des Museums nicht abgenommen und betrachtete es als Verschwendung öffentlicher Gelder. Darstellungen persönlicher Katastrophen, die als solche kein Kunstwerk seien, sollten nicht, wie er langatmig ausführte, mit dem Geld der Steuerzahler unterstützt werden, das über Nos Arts de France einfloss.
Zum ersten Mal hatte sie Nic wütend gesehen. Warum, warum nur warst du nicht versöhnlicher? , hatte er Laure vorgeworfen.
Mit dem Laptop auf den Knien verströmte May Wohlwollen und Professionalität. Das hatte einen beruhigenden Effekt. Sie war charmant. Doch wie Laure aus Erfahrung wusste, war das noch lange keine Garantie.
Laure ergriff die Initiative. »Sie haben erwähnt, dass Sie zum ersten Mal in Paris sind. Ein solches Erlebnis kann richtig überwältigend für einen sein. Ich bin als Kind hergekommen, dann als Einundzwanzigjährige, als ich hier als Au-pair gearbeitet habe. Ich weiß noch, dass ich mich häufig der Ohnmacht nahe fühlte, weil alles so berauschend war.«
»Es hat einen Tag gedauert, bis ich meinen Jetlag überwunden hatte und meine Augen richtig aufbekommen habe, aber dann konnte mich nichts mehr aufhalten.« May schlug die langen Beine übereinander, die in Skinny Jeans steckten. »Ich bin auf gut Glück nach Paris gekommen, in der Hoffnung, hier etwas zum Laufen zu bringen. Bislang war es einfach toll. Ich habe gezeigt bekommen, wo es diesen unfassbar leckeren Kaffee gibt. Jetzt bin ich voll drin. Total. Was für eine Stadt. Ich komme aus Birmingham in Alabama, das in Sachen Kulinarik in den USA ganz unten steht – das dürfen Sie nicht zitieren – und noch mit den Ereignissen aus der jüngeren Vergangenheit zu kämpfen hat. Paris ist da ganz anders. Paris ist von ihr durchdrungen. Egal, wo man hingeht, sie springt einen an. Revolution, zack. Napoleon, zack. Dior, zack.«
Laure verstand, was sie meinte.
»Sie sehen wie eine waschechte Pariserin aus.« May deutete auf Laures Lederjacke. »Bis ins kleinste Detail. Hat bestimmt ein Vermögen gekostet.«
Laure erinnerte sich an die Zeit, als sie nach Boutiquen, die ihr gefielen, nach Schuhläden und einem Friseur gesucht hatte. »Danke.«
Mays Finger schwebte über Kočkas Pfote. »Sie sind 1966 geboren. Richtig?«
Laures Besuch kürzlich bei einem Optiker und die Verschreibung einer Lesebrille hatten sie erschüttert. »Ja.« Sie nahm May gegenüber Platz. »Was wollen Sie von mir wissen?«
»Sagen Sie es mir. Fangen Sie mit irgendetwas an, dann machen wir von da weiter.«
Laure warf einen Blick auf die Uhr. War es machbar, damit in einer halben Stunde fertig zu sein? Sie zeigte auf Kočka. »Wie Sie herausgefunden haben, habe ich in zwei Städten gelebt, in denen es den meisten Leuten nicht möglich gewesen wäre, eine verwilderte Katze bei sich aufzunehmen.«
May schaltete das Aufnahmegerät ein. »Prag und Berlin.«
Die Worte kamen erstaunlich leicht. »1986 habe ich ein paar Monate in Prag zugebracht, kurz bevor die kommunistische Regierung gestürzt wurde. Mein Vater war überraschend verstorben, und ich kam an der Universität nicht mehr klar. In diesem Alter ist der Tod etwas, das einfach nicht eintritt. Es war ein doppelter Schicksalsschlag. Ich hätte meine Prüfungen verhauen, also sorgte meine französische Mutter dafür, dass ich ein Jahr aussetzte und als Au-pair nach Paris ging. Wie sich herausstellte, war ich bei Tschechen angestellt, und so bin ich nach Prag gekommen.«
May schob das Aufnahmegerät etwas näher an Laure.
»Dann war ich für das Auswärtige Amt tätig, und nachdem die Mauer gefallen war, arbeitete ich in Berlin für das Britische Konsulat, wo ich eine untergeordnete Position innehatte. Das hat mir gefallen, auch wenn es manchmal grauenhaft war.«
»Eine untergeordnete Position«, sagte May nachdenklich. »Ich sehe Sie nicht auf einer untergeordneten Position.« Sie schwieg einen Moment lang. »Waren Sie eine Spionin ? Damals war die Stadt voll davon.«
Mit kühler, besonnener Verachtung sagte Laure: »Ich dachte, das hier sei ein professionelles Interview.«
May zuckte sichtlich zusammen und rutschte nervös auf ihrem Platz herum, weshalb Laure vermutete, dass sie doch noch mehr Neuling und unbeholfener war, als sie angenommen hatte. Dennoch bestand der Trick bei einer Befragung genau darin: den Köder so auszuwählen, dass der Fisch auch anbeißt. Vielleicht war das Mays Masche: ihre Position mit ungeschickten Fragen stärken?
May sammelte sich. »Sollte trotzdem gefragt werden. War Berlin nicht eine eigenartige Wahl?«
»Man geht dahin, wo man hingeschickt wird. Allerdings habe ich diesen Job aufgegeben, als ich eine gut bezahlte Stelle als Dolmetscherin in Paris angeboten bekam.« Die Halbwahrheit ging ihr mühelos über die Lippen.
»Dann haben Sie also Gefallen am Leben im Ausland gefunden? Oder es vorgezogen?«
»Habe ich.«
»Sind Sie jemals nach Prag oder Berlin zurückgekehrt?«
»Nein.«
»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
Laure zuckte die Schultern. »Hat sich nicht ergeben.«
»Oder wollten Sie nicht dorthin zurück?«
Wieder zuckte Laure mit den Schultern.
May fragte, ob sie die Toilette benutzen dürfe, und Laure zeigte den Gang entlang. May ließ sich Zeit; als sie zurückkam, fragte sie: »Wie hat denn alles angefangen?«
Damit meinte sie das Museum.
Wie?
»Woher kommen die Ideen? Wer weiß das schon?«
Scheidung, Schlaflosigkeit, Kinderlosigkeit und Überdruss, weiterhin als Dolmetscherin zu arbeiten, spielten dabei eine Rolle. Aber die Gründe, weshalb Laure es zu genau diesem Zeitpunkt umsetzte, waren viel zu tief in ihr vergraben, um greifbar zu sein. Sie wusste nur, dass die verschiedenen Gründe aneinandergerieben hatten – wie Stahlwolle über einen verkrusteten Feuerrost – und dass dabei eine glänzende Idee zum Vorschein gekommen war.
Sie konzentrierte sich auf die praktischen Details. »Sobald
ich die Idee hatte und das Haus gefunden war, redete ich mir auf der Bank den Mund fusselig und lieh mir so viel Geld, wie ich konnte, kaufte das Haus und renovierte es. Ich heuerte eine Werbeagentur an, um das Museum bekannt zu machen, und bewarb mich bei Nos Arts de France um Fördergelder, die mir in Form einer jährlichen Zahlung zugesprochen wurden. Nicht sonderlich bemerkenswert. Einfach nur ein Geschäftsvorgang.«
May machte sich Notizen. »Können Sie mir ein paar Zahlen nennen?«
»Tut mir leid, die sind vertraulich. Ich wusste von einem Jahr zum nächsten nie, ob ich die Förderung bekommen würde. Wir hatten über fünf Jahre hinweg stets steigende Besucherzahlen, was wunderbar war und mich motivierte weiterzumachen. Dann informierte uns Nos Arts, ein anonymer Spender wolle die Förderung für fünf Jahre übernehmen und er oder sie würde noch dazu genug Geld spenden, um für das gesamte Unternehmen aufzukommen.«
Simon hatte sie angerufen, um ihr das mitzuteilen. »Was für ein Zauber ist da im Spiel, Süße? Egal, was es ist, ich möchte etwas davon abhaben.« Er wartete, bis ihre ungläubigen Schreie von »das kann einfach nicht wahr sein« verklungen waren, und sagte dann: »Das ist ein Wahnsinnserfolg, Laure. So etwas gelingt nur wenigen.«
Diesen Moment zu beschreiben würde der Glückseligkeit vermutlich nicht gerecht, diesem Gefühl, wenn eine Sache es schließlich zur Vollendung geschafft hatte. »Das ist ein ganz besonderer Tag, wenn man erfährt, dass man ab sofort eine atemberaubende Summe zur Verfügung hat. Wir hatten es geschafft. Es lief.«
May hatte Blut geleckt. »Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte? Oder warum derjenige das gemacht hat?«
»Ich denke, wir haben die Zeichen der Zeit erkannt. Das Museum steht für frischen Wind und Anti-Establishment. Es spricht viele an, die sich normalerweise ausgeschlossen fühlen und vielleicht gar nicht in Museen gehen. Es kann Grenzen überschreiten, die andere Museen wahren müssen.«
»Aber Sie kontrollieren, was aufgenommen wird.«
»Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um unvoreingenommen zu sein. Hier in diesem Museum gibt es Gegenstände, die in einer etablierten Einrichtung niemals das Licht der Öffentlichkeit erblickt hätten. Genauso wenig wie ihre Geschichten.«
»Okay.« May friemelte am Aufnahmegerät herum. »Und das Maison de Grasse?«
»Das fügt sich wunderbar zusammen. Die Firma beliefert die breite Masse …«
»Eine Masse, die sich recht teure Produkte leisten kann.« May klappte ihren Laptop auf und tippte etwas ein. »Dazu muss man in der Lage sein … ja, genau, fünfzig Euro für eine Duftkerze zu bezahlen, wie sie hier angepriesen wird, das steht wahrscheinlich nicht bei allen ganz oben auf der Liste.«
»Der Bodenreiniger aber schon«, entgegnete Laure. »Von den Verwaltern höre ich, dass sie über diese Verbindung ganz begeistert sind. Vergessen Sie nicht, die übernehmen nicht das Sponsoring, sondern treten als Schirmherr auf.«
»Wie haben Sie sich gefühlt , als das alles durchgestartet ist?«
»Sehr gut.«
»Einfach nur sehr gut? Waren Sie nicht überglücklich? Haben die ganze Welt umarmt?«
Laures Lippen zuckten. »Nic und ich haben ein großes Glas Wein gebraucht. Na gut, es waren drei.«
Sie erinnerte sich an dieses süße, berauschende Gefühl der Erleichterung und daran, dass endlich einmal etwas in ihrem Leben geklappt hatte. Rückblickend war es der Moment, in dem sie sich vom Pessimismus abwandte hin zu dem Teil ihrer selbst, den sie gern leben wollte.
»Gut«, May sah auf. »So langsam begreife ich Sie.« Der unsichere Ausdruck war verschwunden – eine Mahnung an Laure, vorsichtig zu sein. »Wohin führt uns das?«
»Aus Ihrem Mund klingt das wie in einer Psychotherapiesitzung. Das ist aber keine. Das hier ist ein Interview, mehr nicht.«
May warf einen Blick auf das Aufnahmegerät. »Kuratorin sein, ist das nicht ein einsamer Job?«
Tomas, Milos, alle hatten ihr eingetrichtert, den Mund zu halten. Fragen zu stellen bedeutete, den Argwohn zu wecken, sagten sie, mal ganz zu schweigen davon, welche zu beantworten. Stell dich dumm, stell dich immer dumm. Was sie einst als Überlebensstrategie gelernt hatte, war Laure geblieben.
May zog eine Augenbraue hoch. »Ist es das?« Wenn man ausspioniert wurde, war das, als würde einem die Haut vom Körper abgezogen, hatte sie Tomas gegenüber einmal erwähnt.
Er hatte sie in den Arm genommen, ihr über das Haar gestreichelt und gesagt: »Gewöhn dich niemals daran. Sonst sind wir tot.«
»Eine leitende Stelle innezuhaben ist eine einsame Angelegenheit«, antwortete Laure. »Das liegt in der Natur der Sache.«
Manchmal stellte sich Laure vor, ihre Erfahrungen wären ihr äußerlich anzusehen – wie ein Geburtsmal oder die Narbe einer alten Verletzung. Was ihr Inneres betraf? Die Narben reichten tief: hatten sich in ihren Geist und ihre Gedanken eingegraben.
»Worum geht es in diesem Museum?« May lehnte sich auf ihrem Stuhl nach hinten. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«
Inzwischen war die Mittagszeit deutlich überschritten. »Ich hole uns etwas zu essen«, sagte Laure. »Dann können wir darüber reden.«
Sie nahm ein paar Melonenscheiben und Parmaschinken aus dem Kühlschrank und richtete beides auf zwei Tellern an. »Das ist nicht viel«, sagte sie, als sie mit einem Teller in jeder Hand aus der Küche kam, nur um wie angewurzelt stehen zu bleiben. »Was machen Sie da?«
May hatte sich über den Tisch am Fenster gebeugt und machte allem Anschein nach Fotos von den darauf liegenden Unterlagen.
Laure stellte die Teller ab. »May?«
Sie wirbelte herum und lief rot an. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich habe ein Foto von Ihrem Foto gemacht. Es ist wunderschön mit dem Meer und dem Treibholz.« Wenig überzeugend zeigte sie auf das gerahmte Foto von einem mit Felsen und Treibholz übersäten Strand im Westen Schottlands, das an der Wand über ihrem Schreibtisch hing.
Laures Wut kochte hoch – und war fast schon angenehm, als würde sie sich selbst die Erlaubnis erteilen, sich gehen zu lassen. »Nein, haben Sie nicht.« Sie versuchte, nach dem Handy zu greifen, aber May trat einen Schritt zur Seite und schirmte es mit ihrem Oberkörper ab.
»Sie haben herumgeschnüffelt.«
»Es tut mir leid«, sagte May.
Was hatte Laure erwartet? Ihre Wachsamkeit hatte nachgelassen, was unklug war. May war nun einmal jemand, der einfach seine Arbeit machte.
»Ich dachte, ich würde etwas über Sie herausfinden.« May umklammerte ihr Handy etwas fester. »Sie sind so schwer zu durchschauen.«
»Und was gibt Ihnen das Recht zu tun, was Sie gerade getan haben?«
»Nichts.« Ihre Stimme schlitterte über die Worte. »Nur das Verlangen, wahrheitsgemäß zu schreiben.«
»Raus.«
May bot ihr die Stirn. »Laure, ich bin keine Spionin.«
»Sie haben keine Ahnung , was es heißt, ein Spion zu sein.«
Wie aus der Pistole geschossen kam die Erwiderung: »Sie aber schon?«
Über dieses Universum wusste May nichts, konnte gar nichts darüber wissen. Über die farblosen Jahre. Das Ausspähen, die Ungewissheit. Das freiwillige Wagnis, sich auf graues, moralisch lückenhaftes Terrain zu wagen, von wo es keine Rückkehr gab. Das war ein – bisweilen Furcht einflößendes – Unterfangen, das an niemandem spurlos vorüberging. »Geben Sie mir Ihr Handy.« Bei Laures Tonfall zuckte May zusammen. »Sofort. Und Ihre PIN
»Sie können mein Handy nicht einfach so nehmen.«
»Doch, kann ich. Und werde ich auch.« Laures Wut war unmissverständlich, also reichte May ihr das Handy. Laure tippte die Zahlen ein und löschte das Foto der Formulare ihrer Krankenversicherung, die oben auf dem Stapel lagen. »Haben Sie auch herumgeschnüffelt, als Sie auf der Toilette waren?«
May gab es unumwunden zu. »Ich habe in das Zimmer mit den Kartons gesehen. Es tut mir leid. Aber mich hat die Beschriftung fasziniert. ›Prag‹, ›Berlin‹. Ich würde gern mit Ihnen darüber reden. Für Ihre Geschichte ist es doch sicher wichtig?« Sie knetete ihre Hände. »Mir ist das tschechoslowakische Zugticket im Rahmen aufgefallen.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Nicht, dass Sie es entwendet haben.«
»Das will ich auch, verdammt noch mal, nicht hoffen.« Als Kuratorin des Museums war sie schon mit schlimmeren Situationen zurechtgekommen – das hier sollte keine Ausnahme darstellen. »Sie haben unsere Vereinbarung missbraucht.«
May kaute an einem bereits abgenagten Fingernagel, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Es tut mir leid, Laure. Das war falsch von mir. Sehr falsch.«
May war panisch, keine Frage. Diesen Auftrag zu verlieren wäre für keine von beiden gut, aber May wäre die eigentliche Verliererin.
»Wie kann man so scharfsinnig schreiben und sich so dumm verhalten?«
»Manchmal muss das einfach sein«, sagte May. »Es ist nicht gut. Aber es führt zu Gutem.« Da war er wieder, der unsichere Ausdruck. »Mit gut meine ich Klarheit.«
»Gehen Sie. Jetzt.«
Was für eine Darbietung May hier doch liefert, dachte Laure. So herrlich theatralisch.
»Gehen Sie. Und kommen Sie nicht zurück.«
»Die Unterlagen waren da. Sie waren in der Küche. Ich wollte mehr über Sie herausfinden.« May baute ihre Verteidigung auf. »Wären die Unterlagen wirklich wichtig für Sie, dann hätten Sie sie nicht einfach so herumliegen lassen.«
»Wenn Sie damit meinen, dass ich nicht geplant hatte, jemanden ohne Prinzipien oder Moral in meine Wohnung einzuladen, dann nein.«
Die graublauen Augen waren inzwischen riesige besorgte, reuevolle Tümpel.
»Bitte«, sagte May, und es sah so aus, als wäre jede Vorspiegelung verschwunden. »Das wird ein großer Artikel. Es war meine Idee, und ich habe ihn an Land gezogen.« Leise fügte sie hinzu: »Ich brauche ihn.«
Die Atmosphäre fühlte sich schal, verzweifelt an. Laure ging zum Fenster und drückte es weiter auf. Der Vorteil war auf ihrer Seite. May wusste, dass sie nicht nur wegen des vermasselten Interviews bettelte. Dieses Interview vermasselt zu haben bedeutete, dass May sich – sehr wahrscheinlich – auch von Nic verabschieden musste.
Laure blieb mit dem Rücken zu May stehen. »Ich hoffe, dass die Ge- und Verbote meiner Krankenkasse das, verdammt noch mal, wert waren.«
»Tatsächlich waren sie ziemlich langweilig.«
Man gewöhnte sich nie daran, bespitzelt zu werden. Niemals, und höchstwahrscheinlich hatte May keine Ahnung davon. Es gab Techniken, wie man dagegen ankämpfen konnte, und jemanden von oben bis unten zu mustern funktionierte sehr gut, wenn man beabsichtigte, einen Spitzel zu verunsichern. Laure drehte sich um und ließ ihren Blick über Mays Beine, die schmale Hüfte mit dem weißen Spitzenshirt bis zu den cleveren, fast schon – aber eben nur fast – schönen Gesichtszügen und dem wallenden blonden Haar wandern, ließ sie über diese Kombination aus selbstsicher und verletzlich streifen, die May verkörperte.
»Sie sind sehr entschlossen«, sagte sie.
»Ja, das bin ich.«
»Ich frage mich, wie sehr?«, sagte Laure, mehr an sich als an May gerichtet. »Wie sehr baut Ihre Entschlossenheit auf fiese Tricks?«
May zeigte kapitulierend auf die Hand mit dem Handy. »Es ist okay, wenn Sie mich hassen.«
»Nur damit kein falscher Eindruck entsteht, ich wiederhole, das gerahmte Ticket gehört mir.«
»Natürlich.«
Laure gab May ihr Handy zurück. May nahm es, schulterte ihren Rucksack und ging.
Kočka stand auf, streckte sich und legte sich wieder hin.
Laure setzte sich neben sie, hielt ihr eine Hand hin und war genervt, als sie bemerkte, dass sie zitterte.
Das passierte ihr nicht immer, Gott sei Dank, und mit den Jahren war es besser geworden. Aber hin und wieder reichte ein unbedeutendes Eindringen in ihre Privatsphäre aus, eine durcheinandergebrachte Routine, dass sie wieder mit wild pochendem Herz durch die Straßen rannte. Dass sie wieder einmal vor den grauen Männern und den Brutalos in Lederjacken wegrannte, die sie bespitzelten, ihr nachstellten und sich auf sie stürzten.
Diese aufblitzenden Bilder taten ihre Wirkung. Sich ihnen entgegenzustellen war schwer, auch Jahre später noch, aber sie hatte gelernt, wie sie sich zwingen konnte, ihren Geist etwas anderem zuzuwenden.
So war es zum Beispiel durchaus heilsam, wenn sie sich daran erinnerte, wie sie mit Tomas unten an der Moldau entlangspaziert war, nahezu trunken vor Glück. Wie er sie an sich gezogen und sie den aphrodisierenden Geruch von männlichem Schweiß und Tabak eingeatmet hatte. Wie er sich über sie gebeugt hatte und sie das Gefühl gehabt hatte, als sprudelte flüssige Freude durch ihre Adern.
Dann stießen ihre ungehorsamen Gedanken herab auf die alten, unbeantworteten Fragen, die ihr noch immer zu schaffen machten.
Hatte Tomas es jemals zum Bahnhof geschafft? Hatte er jemals sein Zugticket in die Freiheit in der Hand gehabt, und sei es nur für wenige Augenblicke? Was wäre schlimmer gewesen? Den Zug erreicht zu haben und dann herausgezogen zu werden? Oder es niemals auch nur in die Nähe des Zuges geschafft zu haben?
Sie setzte sich anders hin. Es war Zeit, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf Kočka. Was bezweckte sie damit, sie bei sich aufzunehmen? Halb verwildert. Teuer. Hilfsbedürftig. Sie berührte das Fell zwischen Kočkas Ohren, nahm durch die Fingerspitze den Hauch des zerbrechlichen Knochens darunter wahr. Sie aufzunehmen, Kočka zu lieben bedeutete, der Verletzlichkeit die Tür zu öffnen und vielleicht auch dem Leiden.
Es würde kompliziert werden. Laure hatte nur wenig Freizeit, um sich um Kočka zu kümmern, außerdem sähe sie sich gezwungen umzuziehen; als Alternative dazu könnte sie auch Madame Poirier umbringen – nicht weiter schwierig  – und sie durch eine freundliche Concierge ersetzen. Ihre behüteten, durchgetakteten Abläufe würden durcheinandergebracht, die Bedürfnisse einer kleinen Kreatur in ihre Ruhe eindringen.
Am Morgen würde sie Kočka einfach in den Karton packen, sie zum Tierarzt bringen und alles Weitere ihm überlassen.
Kočka bewegte sich, rückte eine Pfote zurecht, die leicht abgewinkelt war, was auf eine alte Verletzung hindeutete. Ihre Zerbrechlichkeit war unerträglich. Verlieh Laure ein Gefühl der … der was? Der Unbehaglichkeit? Des Gebrochenseins?
May hatte ihr vorgeworfen, dass man nicht an sie herankam.
Das stimmte. Sie beobachtete das Leben durch eine Scheibe. So wollte sie es haben. Du darfst nicht länger mit Geistern leben, sagte sie sich. Es ist an der Zeit, sie zu vergessen.
Laures eigene Geschichte trug viel zu ihrer Einstellung bei. Aber nicht nur das. Niemand konnte die Erde heute betrachten, die durchsetzt war von Gewalt, korrupten Regierungen und Verfolgung, und ein gutes Gefühl dabei haben.
Die Geräusche von Paris drangen durch das Fenster herein.
Laure richtete Kočkas Schwanz vorsichtig aus, und ein vertrauter Schmerz umfing ihr Herz.