8
Am nächsten Morgen kam May ins Büro und baute sich vor Laures Schreibtisch auf. Laure sah auf. »Ich will nicht mit Ihnen reden.«
May sah so aus, als hätte sie kein Auge zugemacht. »Es tut mir so leid. Verzeihen Sie mir bitte?«
»Warum, um alles in der Welt, sollte ich das tun?«
May verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Sie haben keinen Grund dazu, aber ich bitte Sie um eine zweite Chance.« Beharrlichkeit. »Außerdem könnte und würde ich einen richtig guten Job für Sie machen.«
Laure antwortete nicht darauf, und es folgte ein angespanntes Schweigen.
Nic, der bis dahin im Konferenzraum gewesen war, streckte den Kopf herein. »Das Maison de Grasse will das Menü endgültig festlegen. Kannst du mit ihnen sprechen?« Dann verschwand er wieder.
Ein Essen, um die Zusammenarbeit zwischen dem Museum und dem Maison de Grasse zu zelebrieren, war etwas später in diesem Monat geplant, an einem sorgfältig ausgewählten Datum, damit es nicht mit der Vorweihnachtszeit kollidierte.
Laure nahm den Anruf entgegen, der ein paar Minuten dauerte. May drückte sich ruhelos und angespannt neben ihr herum. Als der Anruf zu Ende war, erhob sich Laure. »Gestern haben Sie mich nach Prag und Berlin gefragt.«
»Das habe ich.«
»Ich gehe nicht davon aus, dass Sie das verstehen können. Beides waren wunderschöne Orte, doch als ich dort gelebt habe, waren sie auch ganz schrecklich. Voll unbewältigter Bitterkeit und Zerwürfnisse. Solche, die die Seele verschlingen.« Ihr Blick wanderte von Mays abgekauten Nägeln zu ihren eigenen rot lackierten. »Ich lasse nicht zu, dass Paris auch so wird.«
May machte ganz den Eindruck, als würde sie Laures Hand ergreifen wollen. »Das verstehe ich. Ich komme aus dem Süden. Wissen Sie noch?«
»Machen Sie so etwas nie wieder.«
An Mays abgekautem Daumen war etwas getrocknetes Blut. »Ich gebe mir größte Mühe.« Sie fuhr sich mit einer Hand durch das Haar, strich es streng nach hinten. Als ob das helfen würde, dachte Laure. »Es tut mir wirklich leid.«
Würde man May aufschneiden, würde sich das Wort »Reue« wahrscheinlich wie eine Zuckerstange durch sie hindurchschlängeln. Laure brachte ein Lächeln zustande. »Lassen Sie es mich so sagen, ich werde Ihre Mutter nicht kontaktieren.«
May verzog das Gesicht. »Mein Spitzname ist Nachtwanze. Und das ist nicht liebevoll gemeint. Aber ich erlaube Ihnen, ihn zu benutzen, wenn Sie wollen.«
Sie klang ruhig, doch in dieser Information steckte eine verschlüsselte Emotion, und Laure kam der Gedanke, dass Mays Mutter keine Ahnung hatte, wie sie mit ihrer ungewöhnlichen Tochter klarkommen sollte.
»Okay.« Sie gab zu verstehen, dass sie zur Wiederaufnahme einer gleichberechtigten Beziehung bereit war. »Lassen Sie uns das Festessen besprechen.«
May sammelte sich. »Ich hoffe, es gibt für jeden eine Geschenktüte mit Diamanten und einen Haufen Blumen. Und Schmetterlinge?«
»Verlieren Sie das Ziel nicht aus den Augen«, sagte Laure trocken.
Das Telefon klingelte unablässig, und Nic war damit beschäftigt, eine Liste der bereitwilligen Spender zu erstellen. Etwas später am Vormittag brachte Chantal die Post und stellte fünf Pakete auf dem Tisch ab.
»Ist das der Durchschnitt?«, fragte May.
Laure warf einen Blick auf die Statistik auf dem Bildschirm. »Die Einsendungen nehmen wieder zu«, sagte sie. »Es werden jeden Monat mehr.«
»Interessant. Ist das, weil Versprechen leichter gebrochen werden? Oder schwieriger zu halten sind?«
Nic hatte ein angeregtes Telefonat auf Französisch mit einem Mann, der einen Sack Dung spenden wollte, in Erinnerung an die Frau, die ihn eben hatte sitzen lassen, und Nic hatte Mühe, ihm klarzumachen, dass sie das nicht annehmen konnten.
Also antwortete Laure schließlich. »Zum Teil liegt es daran, dass sich die Menschen verändert haben. Wir sind anders geworden.« May warf ihr einen fragenden Blick zu. »Haben wir uns inzwischen nicht die Erlaubnis erteilt, einen Verrat zuzugeben? Als Generation, meine ich. Unsere Traurigkeit zuzugeben?«
»Ist das so? Haben die Menschen ihren Gefühlen nicht immer schon freien Lauf gelassen?«, fragte May. »Auf die eine oder andere Weise?«
»Warten Sie, bis es wirklich Herbst ist.« Nic hatte das Telefonat beendet. »Wenn der Sommer durch ist, dann wird es richtig schlimm.«
Mit einem Schlag lockerte sich die Stimmung etwas auf.
May sah von einem zum anderen. »Ist er immer so fröhlich?«
»Wenn der Sommer durch ist, wird’s mit Nic schlimmer«, sagte Laure.
Die Päckchen auf dem Schreibtisch warteten darauf, geöffnet zu werden. Laure deutete auf May. »Wollen Sie uns die Ehre erweisen?«
Im ersten Päckchen war das Brettspiel Diplomacy
, im zweiten eine lange, schmale Schachtel, in der, eingewickelt in Seidenpapier, eine Ausgabe einer britischen Zeitschrift lag.
Laure las das Begleitschreiben laut vor.
Liebe Kuratorin, nehmen Sie das für Ihr Museum an? Wenn Sie Beiliegendes gelesen haben, stimmen Sie sicherlich zu, dass es einen Platz in einer Ihrer Vitrinen verdient hat. Ich bin ein gewöhnlicher Mann, dachte immer, ich würde die Menschen verstehen, aber da habe ich mich wohl geirrt. Ich hatte keine Ahnung. Diese Ereignisse haben mich aus der Bahn geworfen, und so schnell werde ich nicht darüber hinwegkommen.
Sie schlug das Seidenpapier zur Seite, entdeckte einen Brautschleier darunter und las weiter vor.
Ich habe wie ein Besessener darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich meine Gefühle nicht angemessen beschreiben kann, somit muss das hier ausreichen.
Kurz, ich habe Anfang des Jahres geheiratet, doch die Ehe hat nur zwei Monate gehalten. Das allein war schon schlimm genug. Das Fehlen einer Erklärung ist aber noch viel schlimmer. Jedes Mal, wenn ich meine zukünftige Ex-Frau frage, was schiefgegangen ist und warum, weigert sie sich, mir zu antworten. Vor ein paar Wochen zeigte mir ein Freund dann diesen Artikel, der in der Zeitschrift veröffentlicht wurde. (siehe Aufkleber) Was hat das mit dem Zusammenbruch der Ehe zu tun? Wenn Sie es lesen, wird es klar.
»Darf ich es lesen?«
Laure sah nach unten auf den Schleier – duftig weiß und verheißungsvoll. Die Privatsphäre bis zu einem gewissen Punkt zu schützen und nett zu sein war einer ihrer Grundsätze, und May war, wohl oder übel, eine Jägerin. Doch der Artikel war jedermann zugänglich.
»Laure, Sie können mir vertrauen
.«
Wer führte hier wen hinters Licht? Doch mit dem reumütigen Zug um die Lippen, halb-doppelzüngig und unbedacht, konnte man May nichts ausschlagen. Sie begriff schnell, war intelligent und mutig genug, sich in die Welt hinauszuwagen, um ihren Weg zu finden. Jemanden mit solch einer Haltung musste man ermutigen.
»Stimmt«, antwortete sie freundlich. »Sie sind eine Journalistin, die eine Story braucht.«
»Ganz genau. Das ist der ewige Kampf. Menschlich sein und gleichzeitig meine Arbeit machen.« Ihr Blick suchte den von Nic. »Aber ganz tief in meiner Zuckerwatteseele habe ich tatsächlich Gefühle.« Sie tauschten ein verstohlenes Lächeln.
Laure schob May die aufgeschlagene Zeitschrift zu, die die Seiten mit High Fashion, Rezepten aus der Fusionsküche und dem Einmaleins der Retinol-Cremes durchblätterte. Sie fand den Artikel und las vor.
In diesem Büro herrschten für gewöhnlich die englische und französische Sprache vor. Ihr Südstaatenslang, die verschluckten Buchstaben und betonten Vokale, stammten aus einer anderen linguistischen Geografie, wiesen auf andere Welten hin.
Den Schleier haben Jenna und ich ausgesucht. Stundenlang hatten wir am Telefon darüber gesprochen, welcher es werden sollte, und weil ich ihre Stimme hören wollte, zog ich das Gespräch in die Länge. Warum auch nicht? Ich würde sie demnächst verlieren. Sie würde im zweisamen Hoch und Tief des Lebens verschwinden, zu dem neues Besteck, Tischdeckchen und ein Rasenmäher gehörten.
Ich stellte ihr eine Frage: Hielt sie den Schleier nicht für zu altmodisch und unterwürfig?
»Genau darum geht es, Rosie.« Sie schien das nicht weiter zu stören, und auch das war verletzend – mich verletzte tatsächlich alles an dieser Angelegenheit. ›Ned und ich schenken einander unser Leben.‹ Sie lachte. ›Ned ist gerade ziemlich genervt, aber ich sage ihm immer, wenn wir diesen Stolperstein hinter uns haben, dann geht alles ganz glatt.‹
Als ich das hörte, verstand ich, woher der Drang kam, einen Mord zu begehen. Außerdem stellte ich mir vor, wie herrlich leer man sich nach begangenem Mord fühlen musste.
Wir verabredeten uns in dem Geschäft für Brautmoden, um den vermaledeiten Schleier auszuwählen. Der Laden war winzig, beherrscht von einer Stange, die von einem Ende des Ladens zum anderen reichte und auf der dicht an dicht Kleider in allen möglichen Weißschattierungen und mit allen möglichen Abwandlungen von Abnähern und Rüschen hingen, die man sich nur vorstellen kann. Es war, als betrachtete man ein Regal mit unterschiedlichen Baisers, von denen manche, das muss man sagen, ihre Frische schon eingebüßt hatten.
Die Mitarbeiterin schnürte Jenna in ihr Kleid und schnalzte mit der Zunge. »Sie haben abgenommen.« Sie zog die Schnürung am Oberteil enger. »Das ist ganz normal.«
Das Kleid war beeindruckend. Schlicht, mit eng anliegenden Ärmeln, fließend und aus ganz feinem Tüll, was hervorragend zu ihrem Teint und ihrer Figur passte.
Sie probierte den ersten Schleier an, dessen Weiß sich ganz unpassend von ihrer Haut abhob. Der zweite war zu kurz und zu frech.
Dann warf die Mitarbeiterin einen dritten Schleier über sie. »Das ist es«, sagte sie.
Der Saum glitt langsam zu Boden, fiel um die reglose weiße Gestalt, und ich sah einen Geist. Der Vergangenheit. Außerdem sah ich auch die Zukunft. Es war keine, an die ich gern denken wollte.
»Wunderbar«, rief die Mitarbeiterin und klatschte dümmlich in die Hände.
Das war es.
Wir mieden es, uns anzusehen. Ich blickte unverwandt zur Mitarbeiterin, die hier und da ein wenig herumzupfte. Jenna nahm ein Stück Schleier zwischen die Finger, als wollte sie jeglichen Schauer der Empfindung, hervorgerufen von dieser Textur, auskosten.
Was machst du da? Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, das laut zu sagen.
Warum machst du das, wo du doch mich hast?
Unmöglich konnte ich die zerstörerische Welle vergessen, die an dem Tag über mich hereingebrochen war, als Jenna mir sagte, es sei vorbei, sie würde Ned heiraten. Unmöglich. Jenna weinte über meine Reaktion, und ich wurde hysterisch, was ihr Angst machte. Sie bat mich, sie freizugeben. Nach vielen Stunden der Qual gab ich nach. »Geh«, sagte ich ihr. »Ich will nie wieder mit dir sprechen.«
Das hielt nicht lange an.
Ich entdeckte mich im Spiegel hinter der Spiegelung von Jenna. Mein Kleid hing in der Wohnung. Es war in blassgrau gehalten, und dazu passend hatte man einen Strauß mit blassrosa Rosen ausgewählt. Als erste Brautjungfer würde ich das Schlusslicht der Prozession bilden.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Die Mitarbeiterin half ihr aus dem Schleier und aus dem Kleid. Mir fiel Jennas zu großer Verlobungsring auf, sowie ein Träger des BHs, der ausfranste. Ich achtete auf solche Details, nicht er, und ich klammerte mich daran fest.
Eifersucht ist eine scheußliche Sache. Einerseits genoss ich ihre Wildheit, gleichermaßen verabscheute ich aber, in ihren Fängen zu sein, weil sie mir die Kontrolle verwehrte. Ich suchte jemanden deswegen auf. Bla-bla-bla. Das Einzige, was er machte – mit Ausnahme der Rechnungsstellung –, war nicken und nichts sagen. Die Folge? Alles, was ich tat, war davon befallen.
Die Mitarbeiterin verzog sich zur Kasse, die diskret hinter einem anderen Vorhang versteckt war – alles, was in diesen widerlichen Läden mit Geld zu tun hatte, wurde kaschiert. Jenna zog sich Jeans und T-Shirt wieder an. Ich streckte die Hand aus, um ihr zu helfen, aber sie zuckte zurück. »Tu’s nicht.«
Sie weinte.
»Du solltest glücklich sein«, zischte ich ihr zu.
Sie beugte sich hinunter, um sich die Turnschuhe zuzubinden. »Was habe ich nur gemacht, Rosie?«
»Du bist eine Betrügerin, und ich sollte es von den Dächern herunterschreien.«
»Dann mach es doch.«
Sie weigerte sich, mich anzusehen.
In diesem Moment fiel bei mir der Groschen. Ich sollte ihrem Bräutigam sagen, dass sie ihn nicht liebte, genau das wollte Jenna. Sie wollte mich die Drecksarbeit machen lassen.
Sie sagte es nicht … o nein, sagen würde sie das nicht … aber ich wusste es.
Ja, ich wusste, dass Jenna feige war, sie würde lieber ihr Leben, Neds und meines ruinieren, weil sie sich nicht traute, etwas zu sagen.
Raten Sie mal, was ich tat?
»Eine Variante der traditionellen Dreiecksbeziehung«, sagte May und wandte sich wieder dem Brief zu. »Als sie den Schleier trug, versprach meine Frau, mich zu lieben, aber sie log. Sie liebte jemand anders, und diese andere war ihre Brautjungfer, die diesen abscheulichen Mist schrieb.« Sie faltete den Brief und steckte ihn zurück in den Umschlag. »Wurde das Museum jemals wegen Verleumdung verklagt?«
»Das kann durchaus passieren, aber wir arbeiten eng mit den Anwälten zusammen.« Laure nahm den Schleier aus der Schachtel. Filigran, fast schon gewichtslos, wie Schaum, der über ihre ausgestreckten Arme wallte. Bei näherer Betrachtung war am Saum unverkennbar ein Biss zu sehen – pink und lippenstiftverschmiert.
»Wow!«, sagte May. »Darf ich ein Foto machen?«
»Nein.«
May sah unumwunden auf die Stelle. »Wie hasserfüllt muss man sein, um in einen Hochzeitsschleier zu beißen?«
Nic klang erschüttert. »Es überrascht mich nicht, dass er einen giftgrünen Leuchtstift verwendet hat.«
Am Eingang des Museums saß Jean-Luc am Ticketschalter. Laure stellte ihn May vor und erläuterte, dass Jean-Luc seine Ausbildung zum Kurator halb abgeschlossen habe und im Museum praktische Erfahrung sammeln wolle. Er und Chantal wechselten sich wochenweise ab. »Die stagiaires
, wie sie genannt werden, bekommen kein Gehalt, aber wir kommen für ihre Auslagen auf.«
Jean-Lucs Gesichtsausdruck war rätselhaft.
May sah ihn mit großen Augen an. »Hat das Kuratieren in Frankreich denn Zukunft?«
»Ja, die Regierung unterstützt es«, antwortete Jean-Luc.
May setzte ein Lächeln auf, das einen im Handumdrehen erblinden lassen konnte. »Ihr habt vielleicht Glück. Bei uns zu Hause müssen wir uns auf reiche Mäzene verlassen.«
Eine Gruppe Frauen, alle im gleichen grünen Kunststoffregenmantel, kam nacheinander herein und zog Jean-Lucs Aufmerksamkeit auf sich. Laure fragte May, ob sie zusehen wolle, wie sie den Schleier herrichtete, den sie für Raum 2 vorgesehen hatte.
»Verstehe«, sagte May, als sie den Raum betraten und sie die Auslage betrachtete. »Das Thema hier ist Kleidung.«
Eine Wand war von einer sehr großen Vitrine vereinnahmt, etwa 1,80 auf 3,60 Meter.
Darin war ein schlichtes weißes T
-Shirt mit dem Aufdruck »Iron Maiden« ausgestellt. Allerdings war die Positionierung des Schriftzugs verrutscht, und das »I« verlor sich unter der Achsel. Bei schnellem Hinsehen las man: »ron Maiden«.
»Ron Maiden?«
»Ich habe eine Schwäche für das T-Shirt«, sagte Laure. »Es bringt mich zum Lachen.«
»Es klingt nach einem Loser.«
»Anscheinend war er das.« Laure zeigte auf die Beschriftung des Ausstellungsstücks, und May las. »Nicht einmal sein T-Shirt hat er richtig hinbekommen.«
Laure nestelte am Schloss der Vitrine herum. »Geben Sie mir mal den Schleier.«
Laure arrangierte ihn und achtete darauf, dass man den Lippenstiftabdruck auch sehen konnte. May ging die Gegenstände durch und blieb vor einer Vitrine in der Nähe der Tür stehen. »Eine Puppe?«
Laure zupfte den Schleier noch etwas zurecht, brachte die Beschriftung an und stieg wieder aus der Vitrine. Sie trat einen Schritt zurück und begutachtete ihre Arbeit. So arrangiert und drapiert verströmte das weiße Gewebe eine durchdringende Aura. »Tatsächlich ist das eine Marionette.«
»Gibt es da einen Unterschied?«
»Marionetten hängen immer an Fäden und werden von oben geführt, Puppen nicht.« Sie warf May einen flüchtigen Blick zu. »Handpuppen. Handschuhpuppen.«
»Erzählen Sie mir von der hier.«
»Marenka? Sie stammt aus einem tschechoslowakischen Marionettentheater. Die Marenkas wurden für Rollen von naiven Mädchen benutzt, darunter auch für Dornröschen.« Laure musste sie sich nicht genauer ansehen, sie kannte ihre Konturen und ihre durch Spalte gebildeten Gelenke so gut wie die Linien ihrer Hände. Jeden bemalten, klappernden Zentimeter von ihr.
»Was für ein Mädchen«, stellte May fest. »Sie … sie ist irgendwie sehr dominant.«
Das stimmte. Bekleidet mit einem Baumwollstoff, einen kompliziert gemusterten Spitzenschleier auf dem Kopf, von wo ein brauner Zopf auf ihren Rücken hinunterhing, dominierte Marenka den hinteren Bereich der Vitrine und verlangte nach Aufmerksamkeit. Sieh mich an. So richtig. Ich habe Zugang zu deinen tiefsten, dunkelsten Ängsten. Ich gebe deiner hungrigen Fantasie Nahrung.
May machte einen Schritt zurück. »Gruselig?«
»Man gewöhnt sich an sie.« Laure zeigte auf die Stelle zwischen den Fenstern. »Am Anfang hatten wir sie an der Wand dort drüben hängen, wie das traditionell gehalten wird. Aber immer wenn sie von einem Windzug erfasst wurde, klapperte sie. Chantal und andere fanden das ziemlich verstörend. Und ich wohl auch.« Laure lächelte. »Verbannt in die Vitrine, hier muss sie sich ordentlich betragen.«
»Darf ich sie anfassen? Bitte!«
Laure schloss die Vitrine auf, und May griff hinein und stupste Marenka etwas an, die gehorsam mit ihren Gliedmaßen klapperte.
Angesichts des tiefen, dunklen Abtauchens in eine Erinnerung schloss Laure die Augen. Schatten, die an narbigen, abblätternden Wänden nach oben und unten wanderten. Ihr Freund Milos, der in aller Seelenruhe an den Fäden arbeitete und mit einer seiner Marionetten redete, die er alle behandelte, als wären sie seine Familie. Seine Kinder.
»Ich leugne ganz entschieden, dass ich von bürgerli-
cher Abstammung sein soll«, hatte hloupӯ
Honza zu Milos gesagt.
»Aber hloupӯ
Honza«, hatte Milos streng geantwortet, »dein Vater war doch ein bekannter Textilfabrikant.« Er warf einen Blick auf Laure. »Du darfst vor Besuchern keine Lügen erzählen.«
Das Klappern der hölzernen Gelenke. Der beißende Schweißgeruch der Marionettenspieler, die unter den unzuverlässigen Strahlern des Theaters verbissen arbeiteten … all das hatte sie unauslöschlich abgespeichert, so schneidend und scharf war ihre Erinnerung daran.
Sie öffnete die Augen. »Ich habe in Prag für ein Marionettentheater gearbeitet. Ich glaube, das erwähnte ich bereits. Vor der Revolution, als es noch schwierig war.«
»Oh.«
»Ich hatte einen Freund im Marionettentheater. Er sagte …«
Er
sagte. Laure riss sich zusammen. Sie musste Milos immer beim Namen nennen, denn die Regierung würde versucht haben, ihn auszulöschen, und, Gott bewahre, vielleicht war ihr das auch gelungen. Weil er ihr Freund war.
Milos hatte gesagt: »Bitte vergiss nicht, was wir hier tun.«
May wartete darauf, dass Laure ihren Satz zu Ende brachte. Doch sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht mehr, was er, Milos, sagte.«
»Hat Milos sie Ihnen gegeben?«
»Nein, hat er nicht. Tatsächlich hat jemand anders sie mir gegeben. Viele Jahre später.«
May ließ Laure Zeit, es weiter auszuführen, aber das tat sie nicht.
»Sie sieht lebensüberdrüssig aus. Als hätte sie zu viel gesehen«, sagte May.
»Da könnten Sie recht haben.«
May schob einen Finger unter den Arm der Marionette und hob ihn zum Hitlergruß an. »Marenka, im Namen aller Frauen, die von dir wissen, muss ich dich das fragen: Hat es ein gutes Ende genommen?«
Laure beobachtete sie. »Das wird sie Ihnen nicht sagen. Sie hat ein Schweigegelübde abgelegt.«
»Das passt. Keiner will zugeben, dass er Teil eines großen, umwälzenden Umbruchs war. Aber Sie könnten für sie antworten, Laure. Sie
könnten es mir erzählen.«
Laure biss sich auf die Lippe und wandte sich ab. Trotz ihrer Entschlossenheit gingen ihr die Fragen unter die Haut. »Dazu bin ich nicht kompetent genug«, sagte sie nach einer Weile. »Wirklich nicht.«
May war skeptisch. »Oho. Da bin ich wohl gerade in einer Sackgasse gelandet. Stimmt’s? Darf ich mal unter den Schleier sehen?«
»Wenn es sein muss.«
Der Schleier war aus feinstem Material gearbeitet und viel zu gut für eine Marionette. May lehnte sich zurück und betrachtete Marenkas Gesicht. »Eigenartig. Ein Auge ist blau, das andere grün. Ist ihnen die Farbe ausgegangen?«
»Farbe zu bekommen war immer schwierig. Man musste nehmen, was da war.«
»Man hätte sie doch einfach mischen können, oder?«
»Stimmt. Aber nicht alles war so unkompliziert wie das.«
May wusste nichts von diesen Geheimnissen, aber die ungleichen Augen übermittelten jedem Eingeweihten die Botschaft: Nicht alle denken dasselbe.
May zuckte mit den Schultern. »Fühlt sich für mich eigenartig an, das ist alles.«
Laure kannte diese hölzernen Gesichtszüge gut. Sehr gut. Auch wenn das bemalte Gesicht im Lauf der Jahre etwas abgeplatzt war, so waren die dunkelroten Lippen noch immer trotzig.
May sah Laure von unten herauf an. »Wie würden Sie sie beschreiben?«
»Tja«, fing Laure an. »Sie ist eine Unschuldige.«
»Ah«, sagte May.
»Aber nicht unschuldig. Marenka weiß bestimmte Dinge. Wenn man sie ansieht, dann ist sie hölzern und steif, und doch pulsiert das Leben in ihr.« Sie hörte in ihrer Stimme die Aufregung, die sie vor so vielen Jahren gespürt hatte. »Sie ist eine Marionette, aber sie besitzt eine Seele.« Sie hielt inne. »Vielleicht halten Sie das für Blödsinn, aber es ist kein Blödsinn.«
»Erzählen Sie weiter. Es ist egal, was ich denke.«
»Marenka besteht aus vielen Paradoxa. Man kann sie als das sehen, was sie ist. Oder der Betrachter kann sich selbst auf sie projizieren.«
Marenka war Milos’ Geschöpf. Er war der Künstler, und in diese Augen waren der Wahnsinn und die Verzweiflung gemalt, wie sie gewesen waren.
»Hat sie einen Prinzen?«
»Er ist noch nicht aufgetaucht«, sagte Laure. »Sie wartet noch immer auf ihn.«
»Immer die gleiche Geschichte«, meinte May. »Meiner Erfahrung nach tauchen sie nur selten auf.« Sie zog den Schleier wieder über das Gesicht des Dornröschens und verließ die Vitrine. »Sie sagten, im Museum gebe es nichts doppelt. Sollte Marenka ihren Schleier dann nicht ablegen, wo Sie doch nun einen anderen ausstellen? Wenn Sie Ihre eigenen Regeln anwenden, meine ich?«
»Nein«, antwortete Laure etwas schärfer als beabsichtigt.
»Die Augen sind bizarr«, sagte May. »Irgendwie gespenstisch. Aber zurück zum Marionettentheater. Was ist damit passiert?«
»Politik«, antwortete Laure. »Das Ensemble hat immer gehofft, in Paris auftreten zu können, hat es aber nie hierhergeschafft, weil es keine Erlaubnis erhielt, die Tschechoslowakei zu verlassen. Es bekam Ärger mit den kommunistischen Behörden. Wie ich bereits erwähnte, habe ich Marenka viele Jahre später bekommen.«
May spähte zu der schlaff herabhängenden Marionette hinten in der Vitrine. »Aufgrund der Politik konnten wir unser Versprechen nicht einlösen«, las sie von dem Schild ab. Sie steckte die Hände in die Taschen. »Überrascht Sie jemals etwas von dem, was Sie hier erfahren?«
»Die ganze Zeit. Diese Gegenstände laden einen an den Rand eines Abgrunds ein und drängen einen dazu, nach unten zu sehen.«