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Sie war davon ausgegangen, dass er sie in ein Café mitnahm. Stattdessen stieg sie eine unbeleuchtete Steintreppe in einem Haus hinauf, das einst – ohne jeden Zweifel – ein prachtvolles Gebäude gewesen war.
Tomas nahm sie an der Hand, um ihr zu helfen. Im ersten Stock schob er Laure in ein Zimmer, das die ganze Breite des Gebäudes einnahm und sehr schön angemutet hätte, wäre es nicht so schrecklich heruntergekommen. Die Farbe an den Wänden war verschwunden, und ein kunstvoller Gipsfries hing gerade noch so fest. Kuhfladenbraunes Linoleum bedeckte den Boden, der mit ausgetretenen Zigarettenstummeln und Essen übersät war. An einem Ende stand ein aufgebockter Tisch voller Flaschen und Gläser. Trotz der Hitze waren die Fenster mit Laken und Decken verhängt.
Als Tomas eintrat, ertönte gedämpfter Jubel. Einer drückte ihm ein volles Glas in die Hand, und eine Frau küsste ihn auf beide Wangen.
Laure stand unsicher herum, aber Tomas legte ihr einen Arm um die Schultern und schob sie nach vorn. »Ich stelle euch eine Freundin vor«, sagte er auf Englisch.
Ein Mädchen, das Laure vom Marionettentheater kannte, drängte durch die Menge. Sie trug ihr platinblondes Haar offen über die Schultern und hatte jetzt ein rotes Wickelkleid an, das selbst gemacht aussah, aber eine reife, begehrenswerte Figur erkennen ließ.
Ein Strom tschechischer Wörter sprudelte aus ihr hervor. Tomas hörte geduldig zu und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Sei bitte nett zu meiner neuen Freundin, ja?« Wieder sprach er auf Englisch.
Seine Bitte fand kein Gehör. Das Mädchen schob Tomas’ Hand weg und ließ eine zweite Tirade los. Tomas wandte sich zu Laure um. »Lucia ist misstrauisch. Sie denkt, die Polizei könnte dich hergeschickt haben. Das wäre nichts Neues. Sie wissen gern darüber Bescheid, was die Leute unter vier Augen sagen und denken.« Er runzelte die Stirn. »Vermutlich sind sie neugierig auf die Witze der Leute.«
»Auf die Witze?«
»Anscheinend erkennt man daran, was die Leute wirklich denken.«
»Verstehe. Könntest du Lucia bitte sagen, dass ich kein besonders guter Spitzel wäre, da ich kein Tschechisch spreche.«
Überrascht stellte sie fest, dass Lucia sie anscheinend verstand. »Sie spricht Englisch«, sagte Tomas. Leiser sprach er weiter. »Aber das behalten wir für uns. Englischsprechende sind bei den Machthabern nicht sehr beliebt. Es wird als subversiv betrachtet.« Er machte eine kurze Pause und sprach dann noch leiser weiter. »Wir mussten für heute Abend eine Sondergenehmigung von den Machthabern einholen. Ohne diese dürfen Musiker nicht auftreten. Es war sehr schwierig, diese zu erhalten, und … sie will einfach keinen Ärger.«
Lucia nickte, und Laure wurde klar, dass ihre Feindseligkeit in Teilen ihrem Misstrauen zuzuschreiben war. Sollte sie kehrtmachen und von hier verschwinden? Laure beobachtete, wie der Bassist mit der langen schwarzen Mähne auf den Tisch stieg, von wo er obszöne Gesten in den hinteren Bereich des Raumes machte.
Tomas’ Blick blieb auf einer in ihrer Nähe herumwirbelnden Gestalt und dem Betrunkenen in einer Ecke hängen, der eine Flasche festhielt. »Willkommen in der Welt der andauernden Ungewissheit«, flüsterte er Laure zu. Er zeigte zu der Gestalt auf dem Tisch. »Das ist Manicky. Die Fans lieben seine langen Haare, was bedeutet, dass er sie niemals abschneiden darf, dabei würde er nichts lieber tun, weil er in seinem tiefsten Inneren ein Bourgeois ist. Und das …«, er zeigte auf den Drummer von Anatomie , der zu Manicky auf den Tisch sprang, »ist Leo. Er wirkt gern unergründlich.«
Hier gab es keine Lautsprecher. Manicky sang einen traditionelleren Song, der nichts mit den Stücken von ihrem Rockkonzert gemein hatte. Ein paar Zuhörer hatten die Augen geschlossen und wiegten sich zur Melodie. Tomas drückte ihr ein Glas in die Hand. »Tja, Laure, die keine gelben Vorhänge mag, wenn du dann da rübergehen und dich ans Fenster stellen würdest, ich muss ein bisschen gefährlich leben, aber ich komme später zu dir.«
Das passte ihr ganz gut. Sie quetschte sich bis zum Fenster durch und lehnte sich dort an. Verborgen von der Verdunkelung drückte sich der Riegel des Fensters in ihren Rücken, doch das half ihr, sich dessen bewusst zu bleiben, wer sie war und wo sie war. Sie nahm einen Schluck aus dem Glas und hätte ihn fast ausgespuckt. Das war purer Wodka, doch nach ein paar Schlucken war der Widerwille verschwunden.
Tomas hievte sich auf den Tisch. Jemand reichte ihm seine Gitarre, und er nahm sie in den Arm. Auf dem Tisch wirkte er größer und älter, weniger zerbrechlich, sein Profil war klar, hatte scharfe Konturen mit einem römischen Einschlag. Es war ihr eine Lehre, dass die äußerliche Erscheinung einen völlig anderen Eindruck vermitteln konnte, sobald jemand auf einer Bühne stand.
Tomas nickte den beiden anderen zu, spielte los, und die drei stimmten einen wilden, frenetischen Song an. Berauscht vom Wodka, lauschte Laure wie gebannt. Die Musik pulsierte durch ihre Adern und passte sich einem noch viel elementareren Pulsieren zwischen ihren Beinen an.
Lust. Lust in Reinform. So hatte sie das noch nie erlebt.
Sie schloss die Augen, gab sich diesen neuartigen Gefühlswallungen hin … sich so unglaublich lebendig zu fühlen … losgelöst von jeglicher Furcht oder Schüchternheit. Eine Abenteurerin in einer neuen Welt zu sein.
Ebenso schnell änderten sie den Kurs. Tomas und Manicky stellten sich einander gegenüber, spielten eine Abfolge melodischer Akkorde und setzten zu einem Folksong an. Die Melancholie, die schmerzhaften Wiederholungen kamen bei den Partygängern gut an, von denen manche so aussahen, als würden sie fast weinen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie am Fenster stand – was sie währenddessen sah, drang wie durch einen Nebelschleier zu ihr vor. Es wurde unverhohlen gefummelt. Körper schmiegten sich aneinander, ein Mann knöpfte die Bluse eines Mädchens auf. Die Musik verklang, und Anatomie verließ ihre improvisierte Bühne. In ihrer alkoholdurchtränkten Analysefähigkeit schlussfolgerte Laure, dass die Leute Sex hatten, wenn sie in ihrer Rede eingeschränkt waren, aber wann waren Gefühle zur Meinungsäußerung geworden?
Ihr gefiel dieser aperçu . Er war gut. Sogar tiefgründig.
Tatsächlich … ihr Blick wanderte zur Decke … tatsächlich könnte sie die ganze Nacht hierbleiben. Sie war absolut glücklich und kein bisschen einsam. Es war nach dreiundzwanzig Uhr, der Geräuschpegel hatte sich halbiert, und alle schienen zu flüstern.
Tomas tauchte auf. »Lebst du noch?«
Sie zeigte auf ihr Glas. »Das hat geholfen.« Um den Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu untermauern, nahm sie noch einen Schluck. »Was mache ich hier?«
Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Hat es dir nicht gefallen?«
»Es war wunderbar.« Sie hoffte, dass ihre Begeisterung nicht zu kindlich klang.
»Gut.«
Die Menschenmenge lichtete sich. Sie drehte sich um, stand ganz dicht vor ihm. »Wo hast du Englisch gelernt?«
»Mein Vater war halb Engländer. Ihm war es wichtig, dass wir zusammen Englisch sprachen. Ich könnte es vielleicht gebrauchen, sagte er.« Tomas sah sie an. »Ich glaube, er hatte recht.«
Der Wodka floss durch ihre Adern. »Meine Mutter ist Französin. Bei uns drängte sie darauf, dass wir es zusammen sprachen. Wir Glückspilze. Wir haben zwei Welten in unserem Leben.«
Er runzelte die Stirn. »Kommt drauf an, in welcher man steckt.« Einen Moment lang schwieg er. »Viele hofften, die bessere Welt wäre hier. Du solltest wissen, dass es gefährlich sein kann, hier Englisch zu sprechen. Die Idioten sehen es als die Sprache, in der wir gegen sie einen Komplott schmieden.« Er schnappte sich Laures Glas und trank es leer. »Wie ist dein Eindruck? Wie sehen wir aus?«
Sie spürte, dass es eine wichtige Frage war, doch sie war nicht in der Verfassung, eine schlüssige Antwort zu formulieren. Sie fuhr sich durch die Haare, die – zu ihrer Bestürzung – ganz wodkaverklebt waren. Wie war das nur passiert? »Ich denke … also, ich denke, dass die Leute nicht über Politik reden, sie aber mit ihrem Körper denken und spüren.« Sie runzelte die Stirn. »Ergibt das irgendeinen Sinn?«
Er grinste. »Wusstest du, dass du wie eine Babylöwin aussiehst? Große Augen, aber wild, und Haare mit einem Eigenleben. Mein Englisch ist nicht so gut. Kannst du das, was du gerade gesagt hast, noch mal in anderen Worten sagen?«
Sie stöberte durch die Überbleibsel ihrer Denkfähigkeit. »Du sagst, dass man gewisse politische Gedanken nicht aussprechen darf.« Er nickte. »Wenn die Leute dagegen rebellieren wollen, dann lassen sie eben ihren Körper sprechen.« Sie zeigte auf ein sich windendes Paar in einer Ecke. »Das ist die Rebellion.«
»Sprich leiser. Nur für den Fall.«
Das machte sie. »Siehst du das denn nicht?«
»Deshalb brauchen wir Menschen, die bezeugen, wie wir hier leben.« Er strich eine Strähne ihrer angeblichen Löwenmähne zurück, und ihr Herz machte einen Sprung. »Du wirst irgendwann zurück nach Hause gehen, und dort kannst du dann sagen, was du sagen willst. Du könntest eine Zeugin für all das hier sein.« Er beugte sich zu ihr. »Tatsächlich habe ich dich als Zeugin auserwählt.«
Was war passiert? In der einen Minute saß sie neben einem Fremden im Marionettentheater, und jetzt wurde sie für den Widerstand angeworben.
Er wirkte so ernst, hatte einen so eindringlichen und gehetzten Gesichtsausdruck, und sie wusste, dass er jedes einzelne Molekül ihres gesunden Menschenverstands durcheinanderbringen konnte.
Schwach sagte sie: »Komm nicht näher.«
»Warum nicht?«
»Weil ich dich dann küsse.«
Oje, Wodka.
»Dann halte mich doch auf.«
Er presste seine Lippen auf ihren gierigen, weichen Mund, und sie spürte, wie ihr Körper sich in flüssiges Verlangen und Sehnsucht verwandelte.
Oje, Göttin Wodka.
»Du verlierst wirklich keine Zeit.«
»Das dürfen wir in diesem Land nicht.«
»Aber wir kennen uns doch gar nicht«, sagte sie schließlich.
»Ich weiß.« Wieder küsste er sie. »Aber ich würde behaupten, dass ich dich kenne, verstehst du?«
»Du kennst mich nicht.«
»Ich kenne dich auf die Art, auf die es ankommt.«
Sie gab auf. »Das sind zu viele ›kennen‹.«
»Wie schrecklich.« Er fuhr an ihrer Kinnlinie entlang, und sie stand reglos da, wagte kaum, zu atmen. »Ich könnte dir vieles sagen … dass du wunderschön bist, ganz bestimmt auch intelligent, und dass du hier aufgetaucht bist wie ein Stern in einer finsteren Nacht.« Er riss sich zusammen. »Du siehst aus, als würdest du mir nicht glauben. Das stimmt. Das alles könnte stimmen. Tut es vielleicht sogar.« Dann folgte ein Schweigen, das Laure beredter fand als Worte. »Aber ich rede hier von einer anderen Verbindung, doch das musst du selbst herausfinden. Mehr kann ich nicht versprechen.«
Sie schluckte. »Das reicht.«
Seine Hände lagen auf ihren Schultern. »Ich sollte dich zurückbringen.«
Sie mussten sich einen Weg aus dem Raum bahnen. Jeder wollte ein Stück von Anatomie , und ganz besonders von Tomas. Laure beobachtete, hielt sich im Hintergrund und kam zu dem Schluss, dass die Gruppe eine Art Notfallmittel war, bei dem jeder meinte, sich bedienen zu können.
»Tomas.« Lucia tauchte aus der Menge auf. Sie hielt eine Bierflasche in der Hand, eine weitere ragte aus der Tasche ihres roten Kleides heraus. »Wohin gehst du?«
»Unsere neue Freundin nach Hause bringen.«
Lucia sah von Laure zu Tomas. »Verstehe«, sagte sie auf Englisch. »Das ist bescheuert. So bescheuert.« Sie wandte sich ab und schob sich wieder durch die Menge.
Draußen auf der nächtlichen Straße umfing sie die eingekesselte Hitze des Tages. Tomas ergriff Laures Hand. »Es tut mir leid, dass ich kein Auto habe. Aber die Füße tun es auch. Wohin gehen wir?«
Sie sagte es ihm.
»Ah.«
Ihr fiel die Veränderung in seiner Körpersprache sofort auf. Ein Zurückweichen. »Du weißt, dass, wer auch immer dort lebt, vermutlich für den Staat arbeitet?«
»Mein Arbeitgeber ist für eine pharmazeutische Firma tätig. Er ist die meiste Zeit in Paris stationiert.«
Tomas steckte die Hände in die Hosentaschen, und ihr wurde schwer ums Herz. Irgendwie hatte sie eine Grenze überschritten, aber sie hatte keine Ahnung, wodurch. Schließlich schien er eine Entscheidung getroffen zu haben. »Okay, come along then . Das sagt ihr doch so in England, oder?«
Ihr wurde wieder leichter ums Herz. »So was in der Art, ja.«
»Ich muss dich vorwarnen, man wird uns folgen.«
Sie warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. »Gewöhnt man sich daran?«
»Betrachte es als Alternativuniversum.« Er legte ihr einen Arm um die Schulter. »Davon haben wir heute Nacht gesungen. Oder vielmehr, wir haben von den Universen gesungen, in denen wir gern wären.«
Er war ihr so nah, dass sie seinen Schweiß, den Tabak und den Alkohol riechen konnte. Nichts davon war abstoßend. Eher im Gegenteil: Es war anziehend. »Ich habe ein paar englische Wörter aufgeschnappt.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass Englisch subversiv ist«, meinte er.
»Okay. Dann flüstere ich.«
Als Tomas sie vom Platz weg durch die Straße und über die Karlsbrücke nach Malá Strana führte, erklangen die Schritte eines anderen versetzt zu ihren. Die Hitze in den engen Gassen war fast schon erdrückend, die Sandalen klebten ihr an den Füßen, und Schweiß sammelte sich an ihrem unteren Rücken. Im Gegensatz dazu schien Tomas mühelos neben ihr herzugehen, und bei diesem Anblick wechselte Laures Stimmung zwischen dem Leichtsinn ihres halbtrunkenen Zustands und den Bedenken hin und her.
Ein Schatten fiel von oben über sie, und sie blieb stehen. »Was ist das?«
Er nahm ihren Arm und zeigte nach oben. »Ein Ladenschild.« Der Griff seiner Finger wurde fester. »Wie wir alle hier wirst du lernen müssen, nicht mit den Schatten zu boxen. Wir brauchen unsere Energie für den eigentlichen Kampf.« Seine Stimme wurde weicher. »Vertrau mir.«
In dem Hof unter der Wohnung der Kobes stellte sich Tomas vor Laure. »Tust du das?«
Sie wusste, was er meinte. »Dir vertrauen? Ja.«
Er war ein Star und sich dessen durchaus bewusst, aber das schien ihm nicht zu Kopf gestiegen zu sein. Außerdem schien er jemand zu sein, der Taten sprechen ließ. Das gefiel ihr.
»Vertrauen sollte nicht leichtfertig geschenkt werden«, sagte er.
Mit einem Nicken pflichtete sie ihm bei. »Meinetwegen musstest du einen Umweg machen.«
»Und wenn schon? Werde ich dich wiedersehen? Normalerweise bin ich im Marionettentheater. Oder aber jemand dort weiß, wo ich bin. Kommst du?«
Er wirkte angespannt, wartete ungeduldig auf eine Antwort.
Zögernd fragte sie: »Lucia?«
Ein verärgerter Zug zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Sie ist eine Kämpferin. Ihr ist nichts wichtiger als unsere Arbeit.«
Sie spürte, wie sie rot wurde. »Oh.«
»Mach dir keine Sorgen. Aber angesichts des Spitzels da drüben bei dem Torbogen muss ich dich jetzt küssen.«
Sie warf einen flüchtigen Blick zu dem kräftigen Mann in der Lederjacke am Eingang zur Straße, der viel Aufhebens um das Anzünden einer Zigarette machte. »Küssen ist also politisch?« Sie verstand die Aussage, hoffte aber, dass Tomas sagen würde, es sei auch noch etwas anderes.
»Das ist es.« Er zog sie an sich, sein Gesicht schwebte über ihrem. Das Schweiß, der sich in ihren Augenwinkeln gesammelt hatte, trübte ihre Sicht. Sie zitterte, stand kurz vor einer Halluzination.
Tomas presste seine Lippen auf ihre.
Sein Körper war heiß, fremd und in seinen Linien und seiner Feinheit fast schon katzenhaft.
Der Spitzel beobachtete sie, vertieft, vielleicht auch ein bisschen erregt.
Tomas trat zurück, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Ich verstehe das nicht«, sagte er.
»Was?«
»Wie das …« Er berührte ihre Wange. »Wie das passiert ist.«
Sie musste nicht nachfragen. Sie wusste es. Sie wusste es einfach.
Er bewegte sich leicht, und seine Hüfte presste sich gegen ihre. »Kommst du zum Theater?«, flüsterte er ihr zu.
Laure presste sich an ihn. »Ja.«
Sie war hilflos … vor Alkohol oder Verlangen?
Tomas flüsterte: »Ich werde dich noch mal küssen.«
»Ja. Ja, tu das.«
Es hatte angefangen.
Bei einem frühen Abendessen am Sonntag im Esszimmer kämpften sich Laure und die Kobes durch eine unappetitliche Pastakreation von Eva.
So höflich wie immer erkundigte sich Petr danach, was sie und die Kinder tagsüber gemacht hatten. Laure beschrieb ihren Ausflug zum Schloss. »Ich musste Maria die letzten Stufen huckepack nehmen«, sagte sie. »Danach war ich total fertig.«
»Wie nett von dir.«
»Beim Runtergehen hat sie meine Hand gehalten, weil ich nicht schwindelfrei bin.« Sie verzog das Gesicht. »Wir kommen gut miteinander klar, Maria und ich. Unten angekommen haben wir getanzt. Die Leute dachten, wir wären übergeschnappt.«
Eva aß langsam, und nicht zum ersten Mal fiel Laure eine wesentliche Veränderung bei ihr auf, seit sie nach Hause gekommen waren. Insbesondere nach dem verheerenden Essen mit den englischen Abgesandten.
An manchen Tagen wirkte sie angespannt und erging sich in schnellen Monologen. An anderen war sie verhalten und lustlos. Als Laure Eva kennenlernte, war sie nicht sehr schlank gewesen. Aber auch nicht dick. In den letzten Wochen hatte sie ein paar Pfunde auf die Hüften bekommen und sah blass und müde aus.
Die meiste Zeit verlief das Essen schweigend.
Laure war mit den Gedanken woanders und hatte nichts dagegen einzuwenden. Jan und Maria waren den ganzen Tag laut gewesen, somit war sie dankbar für Ruhe, jegliche Art der Ruhe. Die Pastasoße bestand aus geräuchertem Fisch, war salzig und streng, und Laure musste sich darauf konzentrieren, sie hinunterzuschlucken. Nach einem weiteren solchen Kampf legte sie die Gabel ab.
»Ist dir der Appetit vergangen?« Petr sah von seinem Teller auf, den er ebenfalls noch nicht leer gegessen hatte.
»Ich hoffe, Sie entschuldigen das, aber diese Hitze …«
»Bestimmt liegt es daran.«
In seiner Stimme lag ein Hauch Humor, doch, wie so häufig bei Petr, war Laure sich unsicher. »Ich bin sie nicht gewohnt.«
Das war nur halb gelogen. Laure und die Hitze waren gute Freunde, aber sie war in den Klauen von etwas Komplizierterem gefangen. Nach Rob und dem, wie sie unter seiner Gleichgültigkeit gelitten hatte, hatte sie ihrer Freundin Jane gesagt, sie hätte sich geschworen, sich nie mehr auch nur annähernd von irgendeinem Typen ablenken zu lassen. »Das tue ich mir nicht noch einmal an.«
Jane hatte sie eine Dramaqueen genannt, aber Janes Mutter hatte sie beiseitegenommen. »Dieser Typ ist ein Schwachkopf«, hatte sie gesagt. »Erzähl einfach allen, dass er einen ganz Kleinen hat, gerade mal so groß wie ein Stecknadelkopf, und dass du ihn gar nicht finden konntest.«
Und nun war sie trotz aller Vorsätze doch wieder von einem Gefühl gefangen genommen, das sie so bald nicht wieder loslassen würde. Das Ganze hatte auch einen Namen: verfluchte, schmerzliche, sinnlose sexuelle Anziehungskraft.
Petr schob seinen Teller von sich. »Entschuldige, aber ich glaube, du hast einen Freund.«
Laure spürte eine nagende Furcht. »Das würde ich so nicht sagen.«
Eva mied Laures Blick, als sie aufstand. »Ich muss nach den Kindern sehen.«
Laure stapelte die Teller – die hübschen Porzellanteller, die ihr bei ihrer Ankunft hier gleich aufgefallen waren – und brachte sie in die Küche, wo sie sie zum Einweichen ins Spülbecken stellte. Sie hielt sich am Rand des Spülbeckens fest, ehe sie ins Esszimmer zurückging.
Petr sah auf. »Ein fester Freund?«
»Nein«, antwortete sie.
Petr nahm einen Schluck aus einem Krug, auf dem ein Wappen eingraviert war. »Ich denke doch, dass du einen hast.«
»Vielleicht bringen Sie die Bezeichnungen durcheinander«, entgegnete sie. »Ein Freund ist etwas anderes als ein fester Freund.«
»Dieser Unterschied ist mir durchaus bewusst.« Er nahm einen weiteren Schluck Bier und stellte den Krug mit einem Knall ab. »Ich spreche genauso lange Französisch wie du.«
Aber nicht so gut. Sie hielt sich zurück, ehe ihr diese Worte über die Lippen kamen, und sagte stattdessen: »Das ist ein wunderschöner Krug.«
Petr fuhr mit einem Finger über das Wappenbild. »Er gehörte der Familie, die hier wohnte. Sie … sie haben ihn zurückgelassen.« Er klopfte auf den wilden, von Sternen eingerahmten Löwen. »Warum setzt du dich nicht?«
Laure gehorchte, und sie saßen einander am Tisch gegenüber. Trotz der Fragen wirkte er entspannt. Er beugte sich vor, nahm ihr Glas und schenkte ihr etwas Bier ein. »Du solltest das wirklich mal probieren. Das ist Teil unseres Lebens in diesem Land.«
Laure gehorchte. Hin und wieder trank sie etwas mit Freunden, aber das hier war ein fremdes Gebräu. »Ich kenne mich mit Bier nicht sonderlich aus, aber das hier scheint … ganz gut zu sein.«
Leicht amüsiert sah er sie an. »Du bist eine schlechte Lügnerin.«
Laure zog den Kopf ein. »Stimmt.«
Er dachte nach. »Ich hoffe, du hast kein Heimweh.« Fragend zog er eine Augenbraue hoch, woraufhin sie den Kopf schüttelte. »Wenn doch, dann versprich mir, dass du es mir sagst.«
»Das ist sehr nett von Ihnen.«
Er sah auf seinen Krug. »Du bist interessant. Und freundlich. Freundlichkeit ist der Ausdruck eines soliden sittlichen Lebens, und wir sind jedem dankbar, der es gut mit unseren Kindern meint.«
Das war ihr peinlich, und um dem entgegenzuwirken, nahm sie das Glas und sah hinein. »Ich sollte Sie warnen, Leute aus Yorkshire geben nicht so einfach auf.«
»Was gibst du sonst noch nicht auf?«
Er klang sehr eindringlich, und sie verschluckte sich fast. »Vieles.«
Petr schien sich zu entspannen. »Ich hoffe, du gibst die Arbeit hier nicht auf. Du passt gut hierher.« Er nahm sich die Zigaretten, die auf dem Tisch hinter ihm lagen. »Könntest du mir den Aschenbecher reichen?«
Laure schob ihn über die polierte Oberfläche des Tisches zu ihm. Es war lächerlich, aber in diesem Moment kam ihr kurzzeitig der Gedanke, sie würde in einer Parallelwelt leben, sie wäre diejenige, die mit Petr verheiratet war, sie hätte Evas Platz am Tisch inne.
»Also, wie heißt er?«, fragte Petr.
»Wer?«
»Der Mann, der dich neulich abends nach Hause ge-
bracht hat.«
Ihr fiel ein, wie Tomas zurückgewichen war, als sie ihm gesagt hatte, wo sie lebte. »Werde ich etwa beobachtet?«
Petr zuckte mit den Schultern. »Viele Leute werden beobachtet. Das ist normal. Es ist uns wichtig sicherzustellen, dass sie unversehrt sind.«
»Normal?« Sprach sie etwa eine fremde Sprache? »Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen.«
»Hier geht es nicht so sehr um rechtliche Gesetze, sondern um von Menschen erstellte Regeln.«
Laure schluckte. »Was sind das für Regeln?«
»Schwer zu sagen.«
»Das ist doch absurd.«
»Du wirst noch herausfinden, dass in diesem Land sehr viele Dinge absurd erscheinen.«
Bei diesem Punkt wollte sie hartnäckig bleiben. »Aber woher wissen Sie, was ich gemacht habe?«
»Das habe ich dir doch gesagt. Uns ist es wichtig, dass du unversehrt bist.« Er klang fast entschuldigend. »Bei einer Sache kannst du dir ganz sicher sein. Hübsche junge Ausländerinnen, die sich in regimekritische Rockstars verlieben, sind am Ende richtig übel dran. Rockstars oder Leute wie sie verfolgen ihre eigenen Interessen.« Das war ein ziemlich heikles Thema, nicht zuletzt, weil sie genau darüber selbst gegrübelt hatte. Aber wenigstens war er taktvoll. »Diese neuen, aufreibenden Gefühle könnten einseitig sein, Laure.«
Er machte einen ehrlichen Eindruck, was sie beruhigte.
»Ich will, dass es keine Probleme gibt«, sagte er.
Daran ist nichts auszusetzen , dachte sie.
Mit dem Zeigefinger zeichnete Petr das Wappen auf dem Krug nach.
»Also? Wie heißt er?«
»Wenn Sie wissen, dass ich verfolgt wurde, dann wissen Sie das doch schon.« Noch bevor sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr klar, dass es der falsche Kampf war, da Petr Kobes ganz bestimmt darüber informiert war. »Tomas Josip.«
»Das war doch gar nicht so schwer, oder? Erzähl mir etwas von ihm.«
»Ich weiß nicht mehr als Sie. Vielleicht weiß Eva mehr.«
In seinem Tonfall schwang ehrliche Besorgnis mit. »Ich bin für dich verantwortlich, und du musst mich als stellvertretenden Erziehungsberechtigten akzeptieren. Du bist in meiner Obhut, und ich muss dieser Verpflichtung nachkommen. Das muss ich.«
Laure wusste nicht, was sie davon halten sollte.
»Hat dir die Aufführung im Marionettentheater gefallen?«
Dieser Themenwechsel war eine Erleichterung. »Es war toll. Der Prinz war … ähm, sehr charmant. Bevor er die Prinzessin bekam, musste er von einem Bären gerettet werden.« Nachdem sie gerade über das Offensichtliche gestolpert war, hielt sie inne. Wenn die Hose des Bären mit Hammer und Sichel bestickt war, was zutraf … Wenn das hier die Tschechoslowakei war, was ebenfalls zutraf … dann repräsentierte der Bär das hilfreiche, unterstützende Russland. Auch wenn ihm im Theater jemand mit einem gewissen Sinn für Humor geradewegs eine Sichel in den Rücken gerammt hatte.
»Ein Bär?«
Sie zögerte. »Ich glaube.«
»In unseren Geschichten kommen immer viele Hexen, Wälder und wilde Tiere vor.« Petr zeigte auf die Gipsfiguren an der Wand und lächelte. Dieses winzige Zucken seines Mundes verwandelte ihn von einem ernsthaften Arbeitgeber in ein charmantes Gegenüber mit Sinn für eine kleine Neckerei.
»Es war wunderbar«, sagte sie unvermittelt übersprudelnd. »Magisch.«
Er stand auf und legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter. »Ich kann dir nicht sagen, wie erfrischend deine Antwort ist.«
»Petr, den Kindern geht es gut«, unterbrach Eva von der Türschwelle. Die Lampe im Gang warf ein unvorteilhaftes Licht auf sie, ließ sie noch blasser und ausgelaugter aussehen.
Petr warf einen Blick auf seine Frau. »Laure, wir müssen etwas mit dir besprechen.«
Eva unterbrach ihn, und es folgte ein kurzer Wortwechsel auf Tschechisch. Petr antwortete ihr, dann sprach er wieder Französisch. »Meine Firma will, dass ich das nächste Jahr hierbleibe, bevor ich nach Frankreich zurückkehre. Jan und Maria …«, seine Stimme wurde weich, wie immer, wenn er von seinen Kindern sprach, »mögen dich sehr gern. Du hast uns gesagt, dass du dein Studium ein Jahr lang auf Eis legen willst, und uns würde es freuen, wenn du so lange hier bei uns bleiben würdest.« Ihm schien klar zu sein, dass das überraschend für sie kam. »Überleg es dir bitte. Lass uns in ein paar Tagen wissen, wie du dich entschieden hast.«
Später sah Laure von dem Fenster in ihrem Zimmer über die Dächer von Malá Strana. Brympton wurde zu einer Erinnerung: das rote Backsteingebäude, das ihr Zuhause war, die Schlange an der Bushaltestelle – der beste Ort, um den neuesten Tratsch aufzuschnappen –, der Wind, der von den kahlen Hügeln herunterwehte.
Waren Schlangen nicht die Tiere, die sich häuteten? Laure hatte die Haut ihres früheren Lebens abgelegt und stand nun ohne da: ungeschützt, erregt, bereit, sich eine neue Haut zuzulegen.
Sie legte ihre gespreizten Finger an die Scheibe. Weiter unten das verborgene Pulsieren der grauen, unterdrückten Stadt, unterirdisch und unbekannt.