13
Sie machte es sich zur Aufgabe, jeden Winkel des Gebäudes, in dem das Marionettentheater untergebracht war, zu erforschen. Obwohl es gut proportioniert und mit vielen Fenstern versehen war, hatte es auch seine dunklen Ecken und Schatten. Schmutz überzog fast alle Oberflächen und säumte die Fensterrahmen und Gesimse. In den meisten Räumen standen keine Möbel. In manchen lagen Matratzen und Schlafsäcke, die nach nicht gelüfteter Kleidung, Sex und verschüttetem Alkohol rochen. Hinter der Bühne gab es ein ganzes Gewirr von Räumen, darunter auch den, der als Küche und Aufenthaltsraum diente. Der Gang, der vom Zuschauerraum dorthin führte, war mit gesprungenen Spiegeln versehen, wodurch jegliche Spiegelung gebrochen reflektiert wurde.
Wenn du hierherkommst, darfst du niemals etwas von dem, was hier passiert, weitererzählen. Das ist ein Versprechen, das du uns geben musst
, hatte Tomas gesagt.
Der zweite Stock wurde von Anatomie
genutzt, die hier ihre Instrumente – zwei Gitarren, ein Schlagzeug, ein Keyboard und einen kostbaren Verstärker – aufbewahrten. »Der wird wie ein Neugeborenes behandelt«, sagte Milos, »weil man ihn unmöglich ersetzen kann.«
Welche Gitarre gehörte Tomas? Sie sehnte sich danach, sie zu berühren, ging aber weiter nach oben in den Speicher, setzte ihre Füße in die ausgetretenen Stufen der Treppe. Irgendwann musste sie sich mit einer Hand an der Wand abstützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dort war es warm und feucht, und sie hatte das eigenartige Gefühl, als würde sie in eine andere Zeit versetzt.
Ohne nennenswerte Probleme – zumindest machte es diesen Eindruck – wurde Laure in das Leben der Truppe aufgenommen. In der Theaterkluft – schwarze Jeans und schwarzes T-Shirt – pilgerte sie zweimal pro Woche zum Altstädter Ring, kochte Tee, putzte und machte den Einlass.
Wie Tomas vorhergesagt hatte, wechselte Lucia so wenig Worte wie möglich mit Laure, aber Milos hatte sich zu ihrem Tutor ernannt, und ihm gefiel diese Rolle. »Ich darf nicht reisen«, sagte er, »also musst du mir alles über fremde Orte und Dinge erzählen.« Ihm fehlten ein paar Vorderzähne, und er hatte sich angewöhnt, die Oberlippe über die Unterlippe zu ziehen, um die Zahnlücken zu verdecken, weshalb Laure ganz beschämt war, so viele gute Zähne zu haben.
Einmal traf sie früher ein und stellte fest, dass im Zuschauerraum ein Treffen abgehalten wurde. Ein Mann bewachte den Eingang und ließ sie nicht eintreten. Er winkte sie weiter in den Bereich hinter der Bühne. Die Doppeltür stand einen Spaltbreit offen, so erhaschte sie einen Blick auf eine Gruppe von etwa zwanzig schwarz gekleideten Leuten, die wie besessen rauchten und sich um eine Gestalt versammelt hatten, die ein Dokument tippte.
Gehorsam verzog sie sich hinter die Bühne und erwähnte nicht, was sie gesehen hatte. Bis es Zeit für die Aufführung war, hatte sich das Treffen aufgelöst.
Tomas war auf Abstand gegangen.
Würde er kommen oder nicht? Sie hatte die fürchterliche Vorahnung, dass er mit ihr gespielt hatte oder, schlimmer noch, dass er sie vergessen hatte, und auf wahnsinnige, unvernünftige Weise war sie eifersüchtig auf die Leute, die bei ihm waren. Doch als er eines Abends wiederauftauchte und ihr sagte, sie solle ihre Tasche holen, weil er sie zum Essen ausführen wolle, irritierte sie seine Überheblichkeit.
Das spürte er. »Vergib mir, Laure, ja?«
Ihre Antwort kam etwas steif heraus. »Es gibt nichts, was ich vergeben müsste.«
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter – ihre Schulter brannte. »Ich war bei Leo. Er hatte eine ziemliche Krise. Wegen einer Frau.«
Sie gingen zu einem Lokal in der Malá Strana, das er kannte, und als sie über die Karlsbrücke liefen, sagte er: »Du hast die Stadt noch nicht richtig erkundet, oder?« Sie schüttelte den Kopf. Er zeigte auf eine Statue. »Der heilige Johannes Nepomuk. Er war ein … wie heißt das gleich noch mal? Ein Märtyrer. Er wurde in den Fluss geworfen, weil er seinen Glauben nicht aufgeben wollte. Die Leute berühren ihn, damit er ihnen Glück bringt.«
Das Restaurant war sehr bescheiden, es verdiente diese Bezeichnung kaum, denn es war nur ein kleiner Raum im hinteren Bereich eines Ladens, der Lederwaren verkaufte. Doch von dort ging es hinaus zu einem kleinen Garten, in dem Tische mit braunen Papierdecken standen, die von den vorherigen Gästen schon ganz fleckig waren.
Tomas sah auf das Bierglas, das vor ihm stand. »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber ich fürchte, du musst deinen Teil selbst bezahlen.« Reumütig sah er sie an. »Ich wünschte, dem wäre nicht so, aber einen Musiker wie mich lässt man nicht viel Geld verdienen.«
Die Beichte und die Demütigung trafen sie mitten ins Herz. »Das ist egal.«
»Ist es nicht. Wir werden als dekadent betrachtet, und der Staat sorgt dafür, dass wir nicht zu viel Geld verdienen. Wäre ich ein Bergarbeiter, wäre das anders, auch wenn man als Bergarbeiter nicht so produktiv ist. Aber mach dir keine Sorgen um uns, und bemitleide uns nicht. Wir wissen, wie man damit klarkommt.«
Eingehend betrachtete er sie.
Sie beugte sich nach vorn und fragte leise: »Ist es sicher, hier darüber zu sprechen?«
Wieder einmal zog er eine Augenbraue hoch. »Was denkst du, warum wir wohl draußen essen?«
Sie zog den Kopf ein. »Ich schäme mich für meine Ahnungslosigkeit.«
»Das musst du nicht.«
Seine Stimme war wie ein Streicheln. Es fiel ihr schwer, normal zu atmen, und um den Pfad der Tugend nicht zu verlassen, bohrte sie einen Fingernagel in die weiche Seite ihres Daumens.
»Nach den stürmischen Zeiten durchlebt die Tschechoslowakei jetzt die normalizáce
, was …«, Tomas seufzte schwer, »nicht so nett ist, wie es sich anhört.«
Sie dachte daran, wie wenig sie doch wusste und dass sie unbedingt rasch mehr herausfinden sollte.
»Sieh dir den Kellner an«, sagte Tomas.
Folgsam wanderte ihr Blick durch den warmen, schattigen Garten zu einem gebeugten, älteren Herrn, der sparsam Essen auf Teller verteilte.
»Früher war er der respektierte und erfolgreiche Leiter einer Oberschule. Dann hat er einen Fehler gemacht.« Laures Augen wurden weit. »Man warf ihm vor, die Grabrede bei der Beerdigung eines bekannten Regimekritikers gehalten zu haben. Sein Vertrag wurde sofort gekündigt und …« Tomas schnipste mit den Fingern. »Damit galt er als nicht einstellbar, und daran wird sich für den Rest seines Lebens nichts ändern. Und so schlägt er sich hiermit durch. Taucht jemand von der Regierung hier auf, versteckt er sich in der Küche.«
Laure fragte sich, ob Tomas ihr das alles erzählen sollte, schließlich kannten sie sich doch noch gar nicht so lange.
Die Suppe wurde vor sie hingestellt, und Tomas griff zum Löffel. »Die eigentliche Frage lautet aber: Ist er glücklich?« Mit einer Ecke der papiernen Tischdecke verscheuchte er eine Fliege, die es auf seine Schale abgesehen hatte.
Laure versuchte, diese Frage mit all ihren Konsequenzen gedanklich durchzugehen, wusste aber, dass ihr das klare Denken abhandenkam. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ist er das?«
»Früher wäre er in der Bartolomějská-Straße, im Gebäude
der Staatssicherheit, eingebuchtet, zusammengeschlagen und vermutlich ermordet worden. Heutzutage ist die Herangehensweise etwas subtiler, dagegen kann nichts getan werden. Aber er wird niemals ein besseres Leben haben. Das ist ganz unmöglich.«
»Dann muss er Berufung einlegen«, flüsterte sie. »Auf jeden Fall.«
»Hier ist das, was die Obrigkeit schreibt, die Wahrheit, auch wenn alle wissen, dass es falsch ist, inklusive der Obrigkeit selbst.«
Laure bekam nicht viel Suppe herunter. Sie legte den Löffel weg, warf einen verstohlenen Blick in den Garten, der sich mit Gästen gefüllt hatte. Nachdem Tomas seine Schale leer gegessen hatte, griff er nach ihrer halb leeren Schale. »Kann ich?«
»Du kannst«, sagte sie neckend, »und du darfst auch.« Sie war sich nicht sicher, ob er ihre linguistische Haarspalterei wirklich zu schätzen wusste. Egal.
Ohne aufzusehen, sagte Tomas: »Wir werden beobachtet. Wenn er zu uns an den Tisch kommt, dann überlass mir das Reden.«
»Woher weißt du das?«
»Das ist hier so«, sagte Tomas nüchtern. »Häufig.«
Der Eintopf, der als Nächstes kam, war sehr viel besser, und Laure ließ ihn sich schmecken. »Sind da Wacholderbeeren drin?«
Bevor Tomas antworten konnte, trat ein Mann näher und beugte sich über sie. Er war älter, aber sein Gesicht wirkte unverbraucht und ganz entspannt. Gekleidet war er fast vollständig in Grau.
Er sagte etwas auf Tschechisch, und Laure hörte die Worte »Tomas« und »Anatomie« heraus. Tomas sah von seinem Teller auf. »Können wir für meine Begleitung hier Englisch sprechen?«
Ohne zu zögern, wechselte der Mann in ein Englisch mit starkem Akzent. »Sie müssen Tomas von Anatomie
sein.« Tomas nickte, und der Mann wandte sich an Laure. »Und Sie sind?«
Tomas stellte Laure vor und erwähnte, dass sie bei den Kobes arbeitete. Der Fremde warf nur einen kurzen Blick auf Laure, dennoch hatte sie das Gefühl, als hätte er jedes Detail in sich aufgenommen.
»Sie sind sehr gut«, sagte er. »Ich habe versucht, eine Ihrer Aufnahmen zu bekommen, aber das ist mehr als schwierig.«
Laure kam sein Englisch sehr düster vor.
Tomas bedachte ihn mit dem, was Laure als sein professionelles, charmantes Lächeln betrachtete, das dazu diente, sein Opfer wehrlos zu machen. »Da müssten Sie schon sehr gewieft sein, schließlich ist es den Läden verboten, sie zu verkaufen.«
»Wie schade.« Kurzerhand nahm der Mann Platz. »Ich bin Major Hasík.«
Der ältere Kellner war verschwunden, und die Menschen um ihren Tisch hatten sich verzogen.
»Arbeiten Sie an neuen Songs? Anscheinend sind ein paar Titel in Frankreich gespielt worden. Habe ich recht? Mir wurde gesagt, aber vielleicht irre ich mich da, dass sich ein paar Texte über dieses Land lustig machen.«
»Tatsächlich?«, meinte Tomas.
»Tatsächlich. Das ist vielleicht keine besonders gute Idee?« Er verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Ich nehme an, Sie fahren gern aufs Land. Das ist so gesund. Gehen Sie Pilze suchen? Da, wo ich hinfahre, sind die Wälder leer geräumt. Ich weiß immer gern, wo man gute Sachen herbekommt.« Er zog eine Karte aus seiner Hosentasche und legte sie auf den Tisch. »Melden Sie sich bitte bei mir, sollten Sie welche finden. Ich würde das sehr gern wissen.«
Tomas sah sich die Karte kaum an. »Bei mir wurde die Telefonleitung abgestellt.«
»Sollten Sie das nicht richten lassen?«
»Mir wurde gesagt, es kann nicht gerichtet werden.«
Major Hasík erhob sich. »Eigenartig. Warum melden Sie sich nicht bei mir, und ich sehe zu, was ich tun kann?« Sein Lächeln war freundlich und hilfsbereit. »Ich fürchte, die Leute in diesem Land wollen nicht richtig arbeiten, also behaupten sie immer, man könne die Dinge nicht in Ordnung bringen. Ich kenne jemanden, der in der Kommunikation arbeitet und helfen kann.«
»Machen Sie sich nicht die Mühe«, sagte Tomas. »Ich finde es entspannter, kein Telefon zu haben.«
Laure sah dem Mann nach, als er wieder ging. »Woher wusstest du, dass er Englisch spricht?«
»Das tun sie oft. Gehört zum Handwerkszeug.«
Sie blieben nicht mehr lange, nachdem Major Hasík gegangen war. Laure gab Tomas alles Geld, das sie bei sich hatte, und er kam für den Rest auf. »Süße, entzückende, großzügige Laure«, sagte er. »Eines Tages werde ich dasselbe für dich machen.«
Nachdem er bezahlt hatte, fasste er sie am Ellenbogen und führte sie nach unten zum Fluss, wo sie am Ufer entlanggingen.
Ein paar Cafés schlossen gerade. Der Geruch von Sommerwasser zog vom Fluss herauf, als Tomas sie küsste und dabei eine Hand auf ihre Brust legte. Überrascht darüber, wie heftig ihre Reaktion ausfiel, presste sie sich an seinen schmalen Oberkörper.
Sie fühlte … sie fühlte … was eigentlich? Sehr vorsichtig strich Tomas mit dem Daumen über eines ihrer geschlossenen Augenlider und murmelte etwas auf Tschechisch. Ihre Haut brannte, und sie wusste, dass sie sich auf etwas einließ, das politisch und sexy und überaus kompliziert war – und ihr Herz jubilierte bei dieser Vorstellung.
Auf dem Weg zur Wohnung der Kobes fragte Tomas, ob sie ein Bankkonto in England habe und ob es funktioniere. Das tue es, antwortete sie und beschrieb Brymptons überall präsente Bank mit den eingepflanzten Geranien davor sowie die Bankschalterbeamtinnen mit ihren weißen Blusen und dem grell leuchtenden Lippenstift.
»Niemand beobachtet dich, wenn du hineingehst?«
»Natürlich nicht.«
»Du könntest Geld einzahlen oder abheben, ohne dass dir jemand Fragen stellt?«
»Für gewöhnlich ja, das ist eine völlig private Angelegenheit. Warum willst du das wissen?«
»Stelle ich zu viele Fragen?«
»Nein.«
Er griff nach ihrer Hand. »Sei vorsichtig, süße Laure. Ich könnte ein Informant sein.«
Sie stieß ein unbehagliches Lachen aus. »Daran habe ich keine Sekunde lang gedacht.«
Tomas lachte ebenfalls. »Du hast soeben bewiesen, dass du keine Tschechin bist.«
»Oder eine Slowakin?«
»Slowaken sind Slowaken.« Er blieb stehen. »Sieh mich an, Laure. Was siehst du?«
»Jemanden, der die Hälfte meines Abendessens verschlungen hat.«
Vor vielen Monaten war das Verlangen nach Rob Dance stark und dringlich gewesen, doch die Emotionen, die sie damals hatte, waren nichts im Vergleich zu denen, die sie jetzt verzehrten.
Tomas’ Hände schwebten über ihren Schultern, als könnte er
die Hände nicht von ihr lassen. »Glaubst du, was du da siehst?«
»Muss ich?« Vertraute sie ihren eigenen Antworten? »Ja.« Sie schluckte. »Wie alt bist du, Tomas?«
»Siebenundzwanzig.«
Er wirkte älter.
»Und du?«
»Zwanzig.«
Er lächelte, kam näher. Sie atmete den Geruch nach Tabak und frischem männlichem Schweiß ein, ihr Herz machte einen Satz, und ihre Sinne flammten auf.
Das nächste Mal tauchte Tomas kurz vor einer frühen Abendvorstellung im Theater auf.
In der Zwischenzeit hatte Laure unablässig an ihn ge-
dacht – weshalb sie sauer auf sich selbst war, sie wollte ihren Gefühlen nicht ausgeliefert sein. Sie wollte nicht nach Tomas Ausschau halten wie ein liebeskranker Teenager. Oder immer unter Hochspannung stehen, sobald er in ihrer Nähe war. Sie wollte ihre Freizeit nicht damit zubringen, sich jedes physische Merkmal in qualvollen Details vor Augen zu führen. Haare, Hände, die Stellung seiner Füße.
Oder seinen Mund, der so ausdrucksvoll war und so häufig lächelte. Sie anlächelte.
Laure stand im Schatten in der Nähe des Ausgangs und beobachtete die Reaktionen der Kinder, nachdem die gelben Vorhänge wieder zugezogen waren. Manche waren schweigsam, aber die meisten waren durch die Vorführung wachgerüttelt worden, und ihr aufgeregtes hohes Geplapper übertönte den Trubel und die Geräusche des im Gehen begriffenen Publikums.
Eine Hand schob sich in ihre, und sie zuckte zusammen.
»Hast du mich vermisst?«
»Vielleicht.«
»Nur vielleicht?« Seine Finger schlossen sich kräftiger um ihre Hand. »Das klingt nicht so gut.«
Sie wollte wissen, wo er gewesen war, hielt sich aber zurück. Sie wollte nicht klammern, wollte nicht das bettelnde Ding sein, das sie bei Rob Dance gewesen war.
»Ich war nicht in der Stadt«, sagte er. »Ich konnte keine Nachricht hinterlassen.«
Dann hatte er also doch an sie gedacht. Sie schluckte. »Ich war auch beschäftigt.«
»Ich will, dass du jemanden kennenlernst«, sagte er. »Kannst du mitkommen?«
»In einer Viertelstunde.«
Sobald die Marionetten verstaut und die Kostüme zusammengepackt waren, schlenderte sie zu Tomas am Eingang, wo er sich gerade mit Lucia unterhielt. Als Laure näher kam, winkte Lucia ab und ging.
Laure wandte sich an Tomas. »Wohin gehen wir?«
»Wir besuchen jemanden, den ich sehr mag.«
Hitze umfing sie, als Tomas sie durch die Straßen ins alte jüdische Viertel brachte, wo er vor dem Eingang zu einem großen Wohnblock stehen blieb. Er hatte ihr eine Hand auf den unteren Rücken gelegt und führte sie hinein. »Sag nichts«, meinte er nur. »Ich erkläre es später.«
In der Eingangshalle saß eine ältere, schwarz gekleidete Frau an einem improvisierten Schreibtisch. Als Tomas hereinkam, hob sie den Kopf, und Laure bemerkte, dass ihr harter Blick ihnen beiden galt.
Die Hand auf Laures Rücken verkrampfte sich etwas.
»Tomas Josip«, sagte die Frau. Der Tonfall war feindselig.
Tomas führte Laure zur Treppe. »Hoch«, befahl er und überholte sie.
Laure warf rasch einen Blick zurück über die Schulter. Jetzt schrieb die Frau etwas in ein dickes Buch.
»Ich nenne sie Genossin Concierge«, raunte Tomas ihr leise über die Schulter zu, während er die Treppe hinaufhastete. »Sie herrscht über diesen Ort hier. Sie berauscht sich an ihrem Schnüffeln. Und wehe dem, der es wagt, Zigarettenasche auf die Treppe zu schnippen. Sie hält mich für einen Dekadenten.« Er keuchte leicht, während sie eine dritte, engere Treppe hinaufstapften, die zum obersten Stockwerk des Gebäudes führte. »Sie hasst mich. Ich habe versucht, ihr ein Geschenk zuzustecken, aber das hat bei ihr nicht funktioniert.«
Laure war besser in Form als Tomas und holte ihn ein. »Wünschst du dir denn nichts Besseres, als von einer alten Frau ausspioniert zu werden?«
»Pst«, er drehte sich um und hielt ihr eine Hand vor den Mund. »Pst.«
Gehorsam sprach sie leiser. »Ich
wünsche mir etwas Besseres für dich.«
Unsicher balancierte er auf der Stufe über ihr. »Das glaube ich dir.«
»Ich weiß, dass es mich nichts angeht. Aber dennoch kann ich mir doch wünschen, dass du nicht alles und jeden bestechen musst.« Sie sah zu ihm auf. »Dass du frei bist, deine Songs zu schreiben.«
»Das ist deine
Freiheit.«
Sie runzelte die Stirn. »Aber nicht deine.«
»Mir gefällt die Vorstellung. Ich liebe diese Vorstellung. Aber ich lebe hier.«
Starrköpfig sagte sie: »Deshalb höre ich trotzdem nicht auf, es für dich zu wollen.«
Seine Gesichtszüge wurden weicher. »Komm her.« Sie trat auf seine Stufe, und er zog sie an sich. Dann beugte sich Tomas auf dieser schmalen Treppenstufe zu ihr und küsste sie, bis sie glaubte, den Verstand zu verlieren.
Würde sie das jemals vergessen? Das Gefühl von seinen Lippen auf ihren? Dieses Ringen darum, das Gleichgewicht nicht zu verlieren? Die Treppe, die sich unter ihnen in die Tiefe schraubte?
Sie wiederholte es. »Deshalb höre ich trotzdem nicht auf, es für dich zu wollen.«
»Hör nicht auf, es zu wollen«, flüsterte er Laure zu. »Ich finde es wunderbar, wenn sich jemand um einen sorgt. Ich liebe deine Dickköpfigkeit.« Sein Mund fand die weiche Stelle unterhalb ihres Ohres. »Ich liebe deine Frische. Deine Süße. Einfach alles an dir.«
Sie legte ihm eine Hand auf den Hinterkopf, als wollte sie ihn wiegen. Wenn man vor Glück oder Gefühlen sterben konnte, dann starb sie gerade.
»Komm.« Er nahm ihre Hand und führte sie die letzten Stufen hinauf zu einer Tür, die aussah, als wäre sie erst vor Kurzem angebracht worden.
Tomas klopfte, und ein blasser Mann um die vierzig, der sichtlich an Vitaminmangel litt, öffnete die Tür. Er bat sie auf den Speicher mit einem Gang, von dem mehrere Türen abgingen.
Der Ort roch nach Krankheit – eine Mischung aus Desinfektionsmittel und Urin –, und es war dunkel und beengt.
»Das ist mein Cousin Pavel«, sagte Tomas. »Er kümmert sich um meine Großtante, die wir besuchen wollen.«
Während eines kurzen Gesprächs auf Tschechisch wurde Tomas ganz ernst. Er stellte ein paar Fragen und nahm Laure dann beiseite. »Meine Großtante ist krank geworden. Das wusste ich nicht.« Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Es tut mir leid, aber es wäre wohl am besten, wenn du gehst. Findest du allein nach Hause?«
Sie nickte. Offensichtlich erleichtert drehte er sich zu Pavel um.
Auf dem Weg die Treppe hinunter und vorbei an der Concierge dachte Laure über die Ironie nach. Sie gehörte zu Tomas, das war etwas ganz Elementares, da war sie sich sicher. Obwohl sie sich noch nicht lange kannten, war sie sich sicher. Ziemlich sicher.
Aber sie gehörte nicht in seine Welt.