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Berlin, 1999
In seinem Hotelzimmer am Alexanderplatz zog sich Petr Kobes mit der üblichen Sorgfalt für den abendlichen Empfang an. Anzug, hellblaues Hemd, Seidenkrawatte. Die Krawatte war aus Paris und eines seiner Lieblingsstücke.
Sein Zimmer befand sich im vierten Stock eines unlängst erbauten Hotels, wie sie seit der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland aus dem Boden geschossen waren. Der Ausblick ging über eine städtische Landschaft, die mit alten Einschlagstellen von Bomben durchsetzt war und reizlose, ehemals kommunistische Wohnblöcke zeigte. Eine gute Sache waren die vielen gepflanzten Bäume, die sich in ihrem Winterkleid präsentierten. Berliner hatten ihm erzählt, sie seien der Ersatz für die Bäume, die während des Krieges und der Nachkriegszeit gefällt worden waren, als man schon befürchtete, in der Stadt würde niemals mehr ein Baum gedeihen.
Das Telefon neben seinem Bett klingelte, und er hob ab.
»Will nur mal hören, wie es meinem alten Herrn so geht«, sagte eine Stimme.
Das war seine Tochter, Maria, die aus Paris anrief.
Petr setzte sich auf das Bett. »Ginge das auch ohne das ›alt‹? Mit sechsundvierzig ist man doch immer noch ein Teenager.«
Sie sprachen Französisch miteinander, nicht Tschechisch, was zur Gewohnheit zwischen ihnen geworden war. Er stellte sie sich vor, war sich fast sicher, dass sie sich eine Strähne ihrer inzwischen langen Haare um den Finger wickelte, genau wie sie bestimmt eine französische Zigarette rauchte, für die sie sich inzwischen so begeisterte.
»Geht es dir gut?«, fragte er liebevoll. »Genug Geld?«
Die neunzehnjährige Maria war an der Sorbonne, studierte dort Politik und Wirtschaft, und Petr war bewusst, wie tief und unüberwindbar die Trauer seiner Tochter um ihre Mutter auch jetzt, Jahre später, noch war. Während der guten Momente umfing Evas Geist sie wie eine Erinnerung, die handhabbar, sogar angenehm war. In schlechten Momenten war sie so undurchdringlich und gnadenlos wie der Golem, der die Straßen des alten Prag heimsuchte.
»Meinst du das ernst, Dad? In Paris hat niemand genug Geld.« Ihr Tonfall veränderte sich. »Natürlich. Mir geht es gut. Vergiss nicht, dass ich anrufe, um zu fragen, wie es dir geht.« Kurzes Schweigen. »Wir nehmen in diesem Semester Kommunismus durch. Ich werde dich anrufen, um mir ein bisschen Insiderwissen zu verschaffen.«
Petr zog eine Augenbraue hoch.
»Dad, du glaubst doch noch immer daran, oder? Oder ist das alles verschwunden? Die Ideale, die Methoden, die Vorteile?«
Die Vorstellung, dass er sein Leben und seine Energie in den Dienst einer Ideologie gestellt hatte, von der man gemeinhin sagte, sie habe ihre Schwächen, machte ihn traurig und deprimiert. Aber vielleicht ging es bei Mut genau darum? Wissen, dass etwas kein gutes Ende nehmen würde, aber dennoch bereit sein, seine Zukunft dafür aufs Spiel zu setzen?
Was empfanden seine Kinder angesichts seines Lebens und seiner Arbeit? Unsicher, wo ihre heimlichen politischen Sympathien lagen, achtete er sorgsam darauf, sie nicht infrage zu stellen, für den Fall, dass Partei ergriffen werden müsste. Doch er erinnerte sich Wort für Wort an den Brief, den ihm Laure, sein ehemaliges Au-pair, nach ihrer Rückkehr nach England geschickt hatte.
»Wenn du die Freiheit des Denkens aufgibst, dann löst sich dein tatsächliches Sein Tropfen für Tropfen auf. Wenigstens das wird Tomas nicht passieren, was auch immer du mit ihm angestellt hast.«
Der Brief war bitter und unversöhnlich, und jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, schmerzte es ihn. Doch, und auch das berührte ihn jedes Mal zutiefst, das Päckchen, mit dem sie den Brief geschickt hatte, hatte auch eine flauschige grüne Wolljacke für Eva enthalten, weil Laure wusste, wie sehr Eva diese Farbe mochte. Er konnte nicht nachvollziehen, weshalb er so gehandelt hatte, wie er gehandelt hatte, doch nachdem er den Brief aus den Klauen der Zensoren bekommen hatte, hatte er ihn vernichtet. Nicht aber die Wolljacke.
»Ich glaube noch immer an die Ziele«, antwortete er mit der brennenden Inbrunst, die einst sein Handeln befeuert hatte. »Diese sind gut und wahrhaftig. Ich bin ein Gefolgsmann, durch und durch. Das bedeutet aber nicht, dass die Partei die Notwendigkeit einer Veränderung ignorieren sollte.«
»Sehr diplomatisch ausgedrückt.«
Dieser Handel war ihm an seinem sechzehnten Geburtstag aufgenötigt worden, als er einem Fremden in einem beigefarbenen Regenmantel und einem Porkpie gegenüberstand. Fünf Minuten zuvor hatte dieser Fremde bei seinen Eltern an die Tür geklopft und mit einem Petr Kobes zu sprechen verlangt.
»Der bin ich. Und Sie sind?«
»Das ist nicht weiter wichtig.«
Ohne um Erlaubnis zu fragen, stellte der Mann seine Aktentasche auf dem Tisch ab. Die Tasche war aus gutem Leder, sah neu aus, und Petr beäugte sie neugierig. Man bekam nicht viele solcher Taschen zu sehen. Der namenlose Besucher machte sie auf und schob Petr irgendwelche Unterlagen zu. »Das musst du lesen und unterschreiben.«
»Warum? Was steht da drin?«
Der eindringliche Blick, der ihn unter dem Porkpie musterte, sagte Petr, dass es nicht ratsam war, Fragen zu stellen.
»Du wirst für uns arbeiten«, lautete die Antwort. »Wir haben dich beobachtet und erachten dich als geeignetes Material. Mit der Unterschrift haben wir die offizielle Erlaubnis. Wir haben solche Angelegenheiten gern dokumentiert.«
»Aber …«
»An deiner Stelle würde ich kein ›aber‹ anführen.« Der Blick des Fremden schweifte durch den Raum, der als Küche und Wohnraum diente, wanderte über die leeren Regale, den fleckigen Linoleumboden, den Gasherd mit den zwei Kochstellen, den Teekessel aus Blech und blieb schließlich an der Tür hängen, hinter der seine kranke Mutter schlief. »Du wirst die Medikamente deiner Mutter auch zukünftig noch beschaffen müssen.«
Petr antwortete noch immer nicht.
»Außerdem gehe ich nicht davon aus, dass dir der Militärdienst sehr zusagen würde«, fügte der Fremde hinzu.
Jeder in der Tschechoslowakei wusste, dass in solchen Aussagen immer eine Drohung lag, die ein ganzes Leben lang andauern konnte, und es wäre Wahnsinn, sie zu ignorieren.
Nachdem Petr unterschrieben hatte, holte der Mann ein Päckchen aus der Aktentasche. »Pralinen für deine Mutter.«
Petr starrte sie an. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal eine Schachtel Schweizer Pralinen gesehen hatte, und war davon ganz gefesselt. Genau darum ging es ihnen.
Der Mann gab der Pralinenschachtel einen Stups, sodass sie bis zur Mitte des Tisches rutschte und liegen blieb. Mit ihren bunten Geschenkbändern wirkte sie irgendwie fehl am Platz. »Wir werden dich weiter beobachten«, sagte er.
Er packte die Unterlagen zurück in die Tasche und verschwand so unauffällig, wie er aufgetaucht war, den Plan für Petrs Zukunft bei sich.
Wie aufs Stichwort ging die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter auf. »Ich wusste, dass sie früher oder später vorbeikommen.«
Eine Vermutung keimte in ihm auf.
Petr sprang vom Stuhl auf und half ihr, sich zu setzen. Sie war einmal eine wunderschöne Frau gewesen – und war es noch, aber ihre Erfahrungen in einem Gefangenenlager der Nazis während des Zweiten Weltkriegs hatten ein körperliches Wrack mit unsicherem Gang aus ihr gemacht. Er kniete sich neben sie. »Hast du das veranlasst?«
Sie legte die Hände an sein Gesicht. Da sie einige Zähne im Lager verloren hatte, lächelte sie nur selten, aber in diesem Moment gestand sie sich ein Lächeln zu. »Mein Junge.« Ihre Worte, die von Liebe und Zärtlichkeit durchdrungen waren, umfingen ihn in einer warmen Umarmung. »Das ist das Beste, was dir passieren kann.«
Irgendwie – wer wusste, wie – hatte sie ein Parfum in die Finger bekommen, und er roch den schwachen, veilchenhaften Duft an ihren Handgelenken, den er für immer mit ihr verbinden würde. »Woher weißt du, was am besten für mich ist?«
Er kannte seine Mutter. Sie war seit dem Niedergang des Faschismus davon überzeugt, dass sie gut daran getan hatte, sich für die kommunistischen Werte zu entscheiden und ihr Leben daran auszurichten. »Kommunismus ist der moralisch gangbare Weg, der einzige Weg. Es ist die einzige Möglichkeit, wie man etwas Gutes erreichen kann.« Sie ließ seinen Kopf los, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich kenne dich so gut, Petr. Du musst auf deine Gedanken und dein Verlangen achtgeben. Solltest du herausfinden, dass es eine Kluft zwischen den Geboten der Partei und deinen eigenen Wünschen gibt, dann musst du bereit sein, sie hintanzustellen. Betrachte sie als eine bourgeoise Schwäche.«
Er dachte an die indirekte Drohung hinsichtlich ihrer Medikamente. »Das sind Tyrannen.«
Eindringlich und mit wildem Blick sah sie ihn an. »Sie werden sich um dich kümmern.«
Petr wusste seit Langem, dass es so sein würde. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn – weil er etwas Unersetzliches loslassen musste: die Freiheit, selbst zu wählen. »Das hat seinen Preis, denke ich.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht so sehr.«
»Du hast mich als praktisches Päckchen angeboten.«
Er ahnte, was als Nächstes kommen würde. Die verkrüppelten, verdrehten Beine unter ihrem geflickten Rock, der mindestens fünfzehn Jahre alt war, zitterten. »Du musst immer daran denken, dass der Kommunismus das absolute Gegenteil des Nazismus ist, und du darfst niemals daran zweifeln. Nur an dir selbst.«
Er wusste es, sein Vater wusste es, und sie wusste es – der psychologische und physische Schaden, den sie erlitten hatte, hatte nicht nur ihre Gesundheit zerstört, sondern machte es ihr auch schwer, gut von Menschen zu denken.
»Manchmal«, sagte sie über diese Erinnerungen und ihre Konsequenzen, »kann ich nicht dagegen ankämpfen. Aber sie bringen mich nicht um.« Doch in gewisser Hinsicht hatten sie genau das getan.
Ihr entging Petrs Besorgnis nicht. »Mach dir keine Sorgen.«
Also hatte er seiner Mutter in diesem Augenblick, verstrickt in seine Liebe und ein noch stärkeres Mitleid, zugestanden, ihm die Freiheit zu nehmen, eigene Entscheidungen zu treffen.
In dem winzigen Raum, der ihm als Zimmer diente und nach feuchter Fäulnis und dem Ergebnis von verstohlenem Wichsen roch, verbrachte er eine schlaflose Nacht. Irgendwann wanderte eine Hand in seinen Schritt, aber er verkniff es sich. Er musste sich um Kontrolle bemühen, die Flamme der Rebellion unterdrücken und einen Plan erstellen. Im Morgengrauen ging ihm auf, dass seine Zukunft niemals anders gewesen wäre und er wohl am besten aus der Not eine Tugend machte. Im Bewusstsein seines Schicksals wäre er umso mächtiger, effizienter und insofern vielleicht auch freier.
Seine Aufgabe war es zu glauben – und genau das würde er tun.
Sobald er die Entscheidung gefällt hatte, schlief er ein.
Der Staat kümmerte sich um Petr, im Gegenzug dazu erlernte er perfekt, was vonnöten war.
Die Státní Bezpe
č
nost
, die StB, trainierte ihn für Geheimdienstoperationen und Infiltrationen. Diese Methoden mussten angewandt werden, wo auch immer Geheimagenten stationiert wurden, in der Industrie, Medizin oder Politik. Oder aber auch als einfache Ladenbesitzer.
Halte den Mund, und lehne dich niemals zu weit aus dem Fenster.
Versteh dein feindliches Ziel, und präge dir alle Details ein. Dessen Laster, die Lieblingszeitung, die Schuhgröße, die Marke der Zahnpasta.
Den Ausgewählten wurde beigebracht, wie sie in den Denkvorgang ihrer Zielpersonen eintauchten, ihre Schwächen ausmachten und ihre Psychodramen verstanden. Der
Trick bestand darin, niemals so tief einzutauchen, dass man Mitgefühl bekam. Sieh in einer weinenden Hausfrau, der man aufgetragen hat, ihren Sohn zu bespitzeln, niemals etwas anderes als eine nützliche Nummer.
Während der Ausbildung wurden sie vor den Gefahren der Übertragung gewarnt.
»Lernt ihren Geruch kennen«, sagte ein Ausbilder, der ein wirklich fieser Kerl war. »Wo gehen sie etwas trinken, wo haben sie Sex, wo gehen ihre Kinder zur Schule.«
Er zeigte ihnen einen Film, eine körnige, flackernde Abfolge von Aufnahmen einer jungen Mutter, die zu einem Wrack wurde, weil die Reifen ihres Fahrrads immer platt waren. Sie wusste nicht, ob sie einfach Pech hatte oder ob man sie deshalb schikanierte, weil sie eine verbotene Zeitung abonniert hatte, was tatsächlich der Fall war.
»Sehr einfach«, sagte der Tyrann. »Sehr
einfach.«
Petr hatte seinen Eltern niemals etwas von seiner Arbeit erzählt. Ein paarmal dachte er, sein Vater stünde kurz davor, ihm eine Frage zu stellen, aber jedes Mal gelang es seiner Mutter mit ihrem sechsten Sinn, das noch einmal abzuwenden. Somit blieben seine Eltern im Unwissen über die angewandten Methoden für Infiltration, Überwachung und Manipulation derjenigen, die die Machthaber anvisierten. Oder über die Methoden, die vonnöten waren, um politisch Andersdenkende, die in den Westen geflohen waren, dort wieder herauszuschleusen und sie dann zu Hause auszuquetschen.
Mit zwanzig hatte er eine Juniorstelle als Handelsvertreter der westeuropäischen Abteilung für Potio Pharma inne, eine Stellung, die es ihm erlaubte, den Bedarf der Tschechoslowakei nach starker fremdländische Währung zu nutzen und, ebenso wichtig, Industriespionage zu betreiben, worin er ein Experte wurde. Abgesichert durch seinen Status, sofern das im Rahmen der aktuellen Regierung möglich war, heiratete er Eva und bekam Kinder.
Er dachte an das zahnlose Lächeln seiner Mutter und ihr leidenschaftliches Brennen. »Das Problem mit deiner Mutter«, hatte Eva einmal gesagt – es war einer ihrer guten Tage gewesen –, »besteht darin, dass sie sich schuldig fühlt, das Lager überlebt zu haben. Sich zur Fanatikerin zu entwickeln ist ihre Art, damit fertigzuwerden.« Da sie älter war als er, hielt Eva sich auch für weiser, und in mancherlei Hinsicht war sie das auch. »Wenn wir alles, worum wir uns sorgen, für ein politisches System opfern und erwarten, dass andere dasselbe tun«, hatte sie ihn gewarnt, »dann werden wir wie die Nazis.«
Die Samtene Revolution fand 1989 statt, das kommunistische Regime wurde aufgelöst und kam in Verruf. Seine Eltern waren seit Langem tot, hatten bis zum Schluss verbissen an ihren Überzeugungen festgehalten. Kurz darauf war Petr zum CEO
von Potio Pharma ernannt worden, und in dieser Funktion war er momentan in Berlin.
Er überprüfte den Sitz seiner Krawatte im Spiegel und kämmte die Haare nach hinten.
Ihn überraschte es immer ein wenig, dass er nicht anders aussah.
Mutter? Eva? Was würdet ihr jetzt von dem Sohn und Ehemann, von dem braven Gefolgsmann halten, der durch und durch Kapitalist geworden war?
Die Kälte draußen war beißend, der Wind ein Teufel, der sich durch Petrs Kragen kämpfte und die verschiedenen Schichten, die er anhatte, durchdrang.
Er bat den Portier, ihm ein Taxi zu rufen. Dankbar setzte er sich in das warme Auto und dachte über die Bruchlinien dieser seit einigen Jahren wiedervereinten Stadt nach. Die Mauer war zerstückelt worden, Teile davon wurden auf der ganzen Welt als Souvenir in Keksdosen aufbewahrt, und ein geteiltes Deutschland hatte sich mit sich selbst vermählt. Ossiland
und Wessiland
waren zu Mann und Frau erklärt worden.
Eine romantische Verbindung … aber nicht ohne Probleme. Eigentlich war das kommunistische Regime Ostdeutschlands beendet, doch wie Petr aus seinem eigenen Land nur zu gut wusste, war dem nicht so. Wie der Leichnam eines Ermordeten hatte es überall seine DNA
hinterlassen, und genau wie in Prag blieben Wut, Spannungen und Ressentiments zurück, mit denen man fertigwerden musste.
In seinem Bericht für den Vorstand von Potio Pharma schrieb Petr: »Es wurde nicht genau analysiert, inwiefern die Intensität, die Furcht und die Unwirklichkeit eines wahr gewordenen Traumes selbst die am praktischsten veranlagten Menschen destabilisieren können – und die Deutschen sind ein sehr praktisch veranlagtes Volk.«
Er war zur Erkundung in Berlin, um die Beziehungen zwischen der neuen tschechischen Republik und möglichen Handelspartnern zu prüfen. Der Empfang, zu dem er geladen war, war die Idee einer Gruppe ostdeutscher Industriebarone, die westliche Unternehmen dazu überreden wollten, ihre Firmen im Osten anzusiedeln. Dort könnten sie ihre westlichen Konkurrenten mit dem dort vorherrschenden Arbeiterüberfluss, absoluten Niedriglöhnen und billigen Immobilien ganz fröhlich unterbieten.
Nicht jeder teilte diese Meinung. »Der Osten wird zur verlängerten Werkbank des Westens«, hatte ein vergrämter ehemaliger Parteivorsitzender angeblich dazu gesagt. Im Gegenzug würde der Wessi
versuchen, jeglichen Ge-
heimdienstmitarbeiter, den er in die Finger bekam und der mit Informationen über die Russen aufwarten konnte, in die Mangel zu nehmen oder auf seine Seite zu ziehen – was auch immer einfacher wäre.
Allerdings hatten alle ihre Finger im Spiel, was die Neuausrichtung Europas betraf. Die Kulturattachés, unter anderem auch der britische, hatten ein Programm mit Aktivitäten erstellt, darunter ein Besuch in einer Bäckerei und in einer Motorradfabrik sowie der Empfang an diesem Abend. Wie immer handelte es sich, wie er amüsiert feststellte, um einen Mischmasch konkurrierender Interessen und Ideologien, aber er beschwerte sich nicht.
Im dichten Verkehr um den Alexanderplatz wurde das Taxi langsamer. Soweit er es beurteilen konnte, hatte sich die jüngere Generation der Berliner auf dem Platz versammelt. Restaurants und Gebäude wurden von Leuchten angestrahlt, und blinkende Flugverkehr-Warnlichter umringten den hässlichen Fernsehturm.
Nicht zum ersten Mal musste er sich eingestehen, dass das allumfassende Grau von Prag während seiner Kindheit fest in seiner Psyche verankert war. Obwohl er Westeuropa ziemlich gut kannte und auch glaubte zu verstehen, wie es funktionierte, störte ihn diese verschwenderische Beleuchtung.
Ein Großteil der Klientel auf dem Platz war betrunken oder zugedröhnt. Meist verliefen die Abende friedlich, doch er wusste nur zu gut, dass manche dieser Leute arm waren, und wenn sie noch dazu Ossis waren, dann grollten sie den Wessis vielleicht und lehnten deren Einmischung ab, was sie gefährlich machte.
Bier- und Wurststände machten ein Bombengeschäft. Eine Gruppe mit E-Gitarren schmetterte irgendwelche Schnulzen. Sie hatte Schwierigkeiten mit der Stromversorgung, und die Begleitung brach immer wieder ab. Doch das schien niemanden zu stören. Die neue Ordnung war etabliert, und sie machten mit Musik und Alkohol weiter.
Würde die Geschichte aufgeschrieben, käme heraus, wie viel beide Seiten von ihrem Staatshaushalt für Menschen und Maschinen ausgegeben hatten, mit dem Ziel, den anderen auszustechen – und in der DDR
hatte die Stasi das effizienteste Überwachungssystem überhaupt entwickelt.
Während der letzten Tage der DDR
hatte die Stasi versucht, Berge von Unterlagen und Akten zu vernichten, in denen Jahrzehnte der Überwachung festgehalten waren. Es wurde darüber gescherzt, dass das effizienteste Überwachungssystem weltweit darin nicht sehr effizient gewesen war. Zurückgeblieben war ein Berg Papier, aus dem – wie Petr nur zu gut wusste – ein Miasma von Gehässigkeiten, Rache und Unterdrückung aufstieg.
All das musste in der beginnenden Demokratie aufgearbeitet werden, und Teams von »Puzzlefrauen« waren an langen Tischen damit beschäftigt, Abertausende Papierschnipsel anzuordnen, mit denen sie aus den alten Fragmenten die neue Geschichte Deutschlands schreiben sollten.
Meine Frau hat bourgeoise Gedanken.
Ich verdächtige meinen Nachbarn, sich verbotene Sendungen auf Piratensendern anzuhören.
Bürger B. hat einen bekannten Regimekritiker in der Jüdenstraße getroffen.
Die staatlichen Schnüffeleien und deren Ergebnisse waren in jedem Land so ziemlich dieselben.
Der Empfang wurde im ersten Stock eines Bürogebäudes aus Beton abgehalten, in einer Straße unweit der ehemaligen Amerikanischen Botschaft im Viertel Berlin-Mitte. Die Heizung war hochgedreht, wodurch die durstigen Gäste unaufhaltsam immer betrunkener wurden. Der Raum war zu groß für die Anzahl der Gäste, und ihm fehlte jegliche Behaglichkeit. Mit Ausnahme von ein paar gerahmten Fotos von Mähdreschern auf Feldern in auffällig goldgelbem Weizen waren die Wände kahl. Die kleinen Gruppen, die auf dem bräunlichen Teppich mit dem Wirbelmuster sich selbst überlassen waren, machten nicht gerade den Eindruck, als würden sie sich amüsieren.
Petr hatte eine Gästeliste bekommen, doch noch bevor er sie durchgehen konnte, wurde er abgelenkt.
»Hallo.« Eine große, langgliedrige Frau in einem dunkelblauen Kostüm mit weißen Nähten, die aussah wie die Frau eines Botschafters, sprach Petr mit dem Selbstvertrauen des englischen Landadels an. »Ich bin Sonia.«
»Petr Kobes.«
»Kein Deutscher, denke ich mal.«
»Tscheche.«
Ihr Gesicht verströmte gute Laune und Trunkenheit. »Engländerin. Ich habe mich gerade gefragt, ob ich in einem vergangenen Leben zu sehr gesündigt habe und mich deshalb jetzt in diesem über alle Maßen deprimierenden Gebäude befinde.« Leiser sprach sie weiter. »Glauben Sie, dass ehemalige Stasi-Leute hier sind?«
»Ganz bestimmt«, antwortete er, versuchte zu erwägen, ob diese Unaufrichtigkeit ehrlich war oder nicht.
»Jemand hat meinem Mann erzählt, als der Hauptsitz der Stasi übernommen wurde, hätten sie einen internationalen Supermarkt voller Ware gefunden. Und natürlich diese schrecklichen Unterlagen über alle. Dazu eine ganze Etage, möbliert mit den teuersten Möbeln.«
»Ja, das habe ich auch gehört.« Es gelang Petr, einen Blick auf die Liste in seiner Hand zu werfen, und fast hätte er sie fallen lassen. Ein Name war ihm ins Auge gestochen.
Eine ungewöhnliche Kombination aus einem französischen Vornamen und einem englischen Nachnamen. Laure Carlyle.
Er war stolz darauf, jemand zu sein, der seine Gefühle unter Kontrolle hatte, doch in diesem Moment brachte er kaum ein Wort heraus. »Würden Sie mich bitte entschuldigen?«
Sonia zuckte mit den Schultern. »Ich habe Sie erschreckt. Na dann, viel Glück in Berlin. Das hier ist nicht … es ist nicht Paris.« Sie sah sich ihn genauer an. »Um Himmels willen, Sie sehen ja ganz erschüttert aus.«
Er erwiderte nichts darauf, weil er buchstäblich nicht dazu in der Lage war.