17
Prag, 1986
Die Hitze hielt an, und im Wäscheraum der Familie Kobes stapelte sich saubere Kleidung. Es gab so viel Wäsche, dass Laure jeden Tag etwa eine Stunde für das Bügeln aufwenden musste.
Ihr war das egal. Beim Bügeln musste man nicht mit dem Kopf dabei sein. Währenddessen hatte sie Zeit und Spielraum, nachzudenken und über ihre Treffen mit Tomas zu grübeln: über das, was er sagte, was er tat .
Sie spürte ihm nach in ihrem klopfenden Herz. In ihrer Schlaflosigkeit. Sie spürte ihm in ihren zitternden Beinen und schmerzenden Armen nach. Im Fieber in ihren Lenden.
Was dachte er? Und: Was dachte er von ihr?
Sie versuchte, sich an den Songtext zu erinnern, den er zu der Melodie erstellte, die er ihr im Marionettentheater vorgespielt hatte. Er stammte von einem satirischen Pamphlet, das im Untergrund zirkulierte, Die Sieben Wunder der Tschechoslowakei .
»Obwohl jeder einen Job hat, arbeitet keiner«, flüsterte sie, sprühte Wasser auf ein Hemd, mit dem sie sich gerade abmühte. Die Manschette musste korrigiert werden, und ein Knopf löste sich.
»Obwohl keiner arbeitet, ist der Plan zu hundertfünf Prozent erfüllt.«
Das Wasser hinterließ einen feuchten Schleier auf dem Rock von Evas Baumwollkleid.
»Obwohl der Plan zu hundertfünf Prozent erfüllt ist, gibt es in den Läden nichts zu kaufen.«
Petr sah zur Tür herein. »Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finde.«
Er wusste sehr gut, wo sie sein würde. Eva und die Kinder waren zu ihrer Großmutter gefahren, und sie und Petr waren allein in der Wohnung. Dennoch war sie einer kleinen Pause nicht abgeneigt. Sie wischte sich über die Oberlippe und fragte: »Stimmt etwas nicht?«
»Ich finde es schrecklich, wie viele Menschen mir diese Frage stellen.« Er bedachte sie mit seinem anziehenden Lächeln und fügte trocken hinzu. »Ich wünschte, die Leute würden mich fragen, was in Ordnung ist.«
Sie nickte höflich.
Er lehnte sich an die Fensterbank. Trotz der Hitze war er formell gekleidet, mit gut geschnittener Hose und hellblauem Leinenhemd. »Hast du mit deiner Mutter gesprochen? Ist sie damit einverstanden, dass du hierbleibst?«
»Das war tatsächlich meine Entscheidung, Petr.«
Ihr gefiel die Dreistigkeit ihrer Erwiderung, die vermuten ließ, dass sie – endlich – ihr Leben wieder selbst in die Hand nahm. Tatsächlich durfte sie immer nur dreiminütige Telefonate mit England führen, somit war es schwierig herauszufinden, was ihre Mutter dachte, aber sie hatte gewirkt, als wollte sie sie bestärken. »Sie ist damit einverstanden. Sie überlegt, ob sie nicht für eine Weile nach Frankreich zurückgehen soll.«
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn sie das tun würde?«
»Nein. Ich bin eine halbe Französin und fühle mich auch dort sehr zu Hause.«
Er schien das gutzuheißen. »Gefühle für sein Land zu haben ist etwas Gutes.«
Das Bügeleisen war ein schweres, altmodisches Exemplar, das immer häufiger rebellische Anfälle bekam. Sie drehte an dem Einstellungsrädchen und nahm eines von Marias Kleidern.
»Ich weiß es zu schätzen, dass du in ein völlig anderes Land mitgekommen bist, und es muss schwierig für dich sein.«
Worauf wollte Petr damit hinaus? Ihre Gedanken rasten, und sie beschloss, ihn mit Wissen zu blenden. »Wie man hört, ist das ein Land, in dem der Gesellschaftsvertrag zwischen dem Staat und dem Volk sehr gut funktioniert. Der Staat verspricht wirtschaftliches Wachstum, einen hohen Lebensstandard, kostenlose Gesundheitsfürsorge und Bildung. Im Gegenzug ist das Volk damit einverstanden, sich seinen Regeln und Vorschriften zu beugen.«
Höchst amüsiert lachte er. »Meine liebe Laure«, sagte er, »mir musst du solche Dinge wirklich nicht vorkauen.« Kurz überlegte er. »Du hast eine Sache ausgelassen, und das ist die Leidenschaft, die die Leute empfinden, die an diese Doktrin glauben, aber hart dafür arbeiten müssen, um sie zu erfüllen.«
Eindringlich sah sie ihn an. Dieser Mann schien ein so entspanntes Verhältnis zu sich zu haben, so nett und so wenig doktrinär zu sein, und doch wurde er von den Machthabern begünstigt. Zugleich, rief sie sich in Erinnerung und mied dabei seinen gut gelaunten Blick, war er auch der Mann, der seine aufbegehrende, blutende Frau an den Handgelenken aufs Bett gedrückt hatte.
»Geht es Ihrer Frau gut?«, fragte sie, dachte, dass sie vielleicht über diese Situation etwas Klarheit erlangen könnte. »Ich meine, hat sie Albträume?«
»Ja, hat sie.« Er wirkte nachdenklich. »Über dieses eine Mal, als du gesehen hast … ich denke mal, du stellst dir vor, du hättest etwas Schreckliches gesehen.«
Laure spürte, dass sie rot wurde. »Das habe ich mir nicht vorgestellt
»Eva hatte einen Albtraum. Ich hatte mich im Bad geschnitten und die Blutung noch nicht gestillt, als sie nach mir gerufen hat.«
Er beobachtete ihre Reaktion. Wohl auf der Suche nach einem Hinweis der Skepsis, nahm sie an, aber so einfach wollte sie nicht klein beigeben. Sie hatte etwas Verstörendes gesehen.
»Schon eigenartig, oder? Wie zwei Menschen dasselbe sehen und völlig anders wahrnehmen können?«
»Das stimmt, und einer von beiden sieht es für gewöhnlich falsch.«
Das Bügeleisen pfiff und fauchte auf einmal. Petr durchquerte das Zimmer und nahm es Laure aus der Hand. »Geh einen Schritt zurück«, wies er sie an und zog den Stecker. »Alles in Ordnung mit dir?« Laure nickte. Prüfend betrachtete er die Abstellfläche. »Ich habe Eva gesagt, dass wir ein neues brauchen.« Er stellte das Bügeleisen wieder auf der Abstellfläche ab. »Komm, gehen wir etwas trinken, bevor meine Besprechung anfängt.«
»Einverstanden«, sagte sie.
Er wartete, bis sie nach draußen gegangen waren, ehe sie das vorherige Gespräch wiederaufnahmen.
»Weißt du …«, sagte er, »für die meisten Leute hier war der Lebensstandard nie so gut wie jetzt.«
Sie saßen an einem Holztisch vor einem Café auf einem Platz in der Nähe der Kirche, und vor ihnen standen auffällig bunte Gläser mit Orangensaft. Unweit von ihnen standen ein paar schmiedeeiserne Laternen aus einer anderen Epoche, und in der Sonne leuchteten die roten Dächer der Häuser entlang des Platzes heller. Der Baum in der Mitte schien jedoch ums Überleben zu kämpfen.
Petr folgte Laures Blick. »Ich fürchte, die Luft hier ist nicht die beste«, sagte er. »Für den Baum, meine ich. Aber für die Menschen ist das Ausbleiben von Krieg und Teilung nur positiv. Das verstehen die Menschen. Sie wollen ein gutes Leben mit einer starken Familie. Sie konzentrieren sich auf ihre häuslichen Angelegenheiten.«
Laure starrte auf den Baum. Die Blätter waren an den Rändern welk, die Rinde an mehreren Stellen aufgeplatzt. Einer der dickeren Äste war fast gespalten und entblößte eine schuppige Epidermis. Die Verschmutzung hier muss schrecklich sein, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass sich in diesem April das Reaktorunglück von Tschernobyl ereignet und die gesamte Tschechoslowakei in Mitleidenschaft gezogen hatte.
»Aber …« Petr konzentrierte sich wieder auf Laure. »Wir müssen auf die achten, mit denen wir nicht einer Meinung sind. Sie können die Stabilität gefährden. Das sind keine zuverlässigen Arbeiter.«
»›Wir‹?«
»Diese Menschen können ihre Jobs verlieren und eine Zeit lang in Haft genommen werden. Das kann jedoch auch nützlich sein, denn so wird nicht nur ihnen eine Lektion erteilt, alle anderen lernen gleich mit. Wenn sie Künstler sind, wird ihnen zum Beispiel verboten, weiterhin aufzutreten.«
Sie beobachtete einen älteren Mann, der an ihnen vorbeilief und seine Einkäufe in einem rostigen Kinderwagen vor sich herschob.
»Wie zum Beispiel dein Freund?«, fuhr er fort. »Dir wird aufgefallen sein, dass man ihn nicht als guten Arbeiter betrachtet. Weder baut er Lebensmittel an, noch arbeitet er in einer Mine. Seine Arbeit ist oberflächlich, das fällt dem Staat natürlich auf.« Er lehnte sich in seinem Stuhl nach hinten. »Hast du mit deinen neuen Freunden schon einmal über Politik geredet? Wenn du versucht bist, lass es bitte.«
Sie sah ihm an, dass er wirklich besorgt war. »Kann ich Sie etwas fragen, Petr?« Er nickte. »Arbeiten Sie wirklich für einen Pharmakonzern?«
Gefährlich.
»Haben deine neuen Freunde dich auf diese Frage gebracht?«
»Ich habe mit ihnen nie über Sie geredet. Also, arbeiten Sie dafür?«
Seine Antwort war amüsiert, aber leicht schneidend. »Weshalb denkst du, dem wäre nicht so?«
»Sie sind nicht oft im Büro, und Sie stellen mir viele Fragen.«
»Man sollte immer viele Fragen stellen, Laure. Ich werde deine beantworten. Ich arbeite für Potio Pharma, und das schon seit sehr vielen Jahren. Medikamente sind ein wichtiger Industriezweig. Leben hängen davon ab.«
Wieder sah sie zu dem sterbenden Baum. »Entschuldigen Sie mich bitte kurz, ich muss auf die Toilette.«
In der stickigen Kabine saß sie auf der Toilettenbrille und atmete tief durch. In einem Korb auf dem Boden waren Ausgaben der offiziellen Parteizeitung, Rudé Právo , die in Streifen gerissen waren. Im Marionettentheater hatte Milos ihr gesagt, es sei die beliebteste Zeitung für Toilettenpapier, weil ihre Seiten am größten waren, sie auf hochwertigem Papier gedruckt war, und da konkurrierende Zeitungen verbannt waren, bekam man sie fast überall.
Sie hätte diese Frage niemals stellen sollen. Törichte Laure.
Als sie zurückkam, hatte Petr die Rechnung bereits bezahlt. »Du fängst an zu begreifen, dass Prag nicht Paris ist. Und ich denke, du denkst, ich würde mich einmischen. Oder schlimmer noch. Aber das tue ich nicht.« Er stand auf.
Der Riemen ihres Rucksacks hatte sich am Stuhl verfangen, und er beugte sich vor, um ihn zu lösen. Dann reichte er ihr den Rucksack. »Du hilfst meiner Familie sehr, und dafür bin ich dankbar. Ich will nicht, dass etwas schiefgeht.«
Da dieses Gefühl echt war, schmolz ihre Vorsicht im Bruchteil einer Sekunde dahin. »Dass Sie mir den Job gegeben haben, hat mir auch geholfen.«
»Das freut mich zu hören.«
Eva war fast eine ganze Woche im Bett gewesen. Irgendein Virus, sagte sie.
Laure mühte sich ab, die normalen Abläufe aufrechtzuerhalten, und war vollauf damit beschäftigt, sich um die Kinder zu kümmern. Im Zuge ihrer Handlangeraufgaben wurde ihr – mit etwas Bestürzung – bewusst, dass sie einen Hang zu düsteren Gedanken hatte. Eva ins Badezimmer zu bringen und zuzusehen, wie sie ihr Essen auswürgte, rief ein Schuldgefühl bei ihr hervor, weil sie, Laure, im Vergleich jung, stark und das blühende Leben war.
Mehrfach hatte Petr sie gebeten, das Abendessen mit ihm einzunehmen. Das war schon fast zur Gewohnheit geworden. Es schien ihm zu gefallen, Laure mit am Tisch sitzen zu haben und sie zu bitten, ihm das Leben in England zu beschreiben. Laure spielte dabei gern mit, doch je weiter die Woche voranschritt, umso ungeduldiger war sie, endlich freizuhaben.
Bei der erstbesten Gelegenheit ging Laure zur Staré Mĕsto. Ein unerwarteter, aber kurzer Regenschauer setzte ein, als sie die Karlsbrücke überquerte, und in den wenigen Minuten bevor die dampfige Feuchtigkeit sich aufgelöst hatte, glitzerte die Stadt wie ein Gemälde.
Als sie sich dem Altstädter Ring näherte, entdeckte sie weiter vorn Lucia und Tomas. Tomas hatte eine Zeitung unter den Arm geklemmt, und Lucia trug eine Leinentasche, die schon einmal bessere Tage gesehen hatte. Die beiden unterhielten sich angeregt. Bei diesem Anblick breitete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Bauch aus.
Mehrere Meter hinter ihnen lief ein Mann in einem grauen Anzug, und sie begriff, dass er die beiden beschattete. Er war durchschnittlich groß und so gedrungen, dass seine Weste drohte, aus den Nähten zu platzen, außerdem hatte er große Mühe, mit seinen Zielpersonen Schritt zu halten.
Laure fand die Vorstellung aufregend – als würde sie auf einmal zwischen den Seiten eines Romans stecken. Dann war sie beschämt. Das hier war kein Spiel. Sie beschleunigte den Schritt, überholte den Mann, und als sie zu Tomas und Lucia aufschloss, sagte sie leise: »Jemand folgt euch.«
»Daran besteht kein Zweifel«, sagte Tomas und lächelte ihr zu. Während er das sagte, hielt er zwei Finger hoch. Lucia zog seinen Arm herunter und fauchte ihn an. Dann zeigte sie auf Laure und wechselte ins Englische. »Geh weg. Wenn du da bist, macht Tomas dummes Zeug und zieht die Aufmerksamkeit auf uns.«
»Daran bin nicht ich schuld«, verteidigte sich Laure. »Das macht er ganz allein.«
Lucia lief rot an. Ohne ein weiteres Wort drängte sie durch die Menge nach vorn und verschwand. Laure sah ihr nach und drehte sich dann zu Tomas um. »Mache ich dir Ärger? Soll ich besser gehen?«
Ein ungeduldiger Ausdruck überschattete sein Gesicht kurzzeitig. »Das heißt nicht, dass du gehen sollst.« Er zog sie in den geschützten Bereich einer Tür. Der Spitzel lief daran vorbei. Sein grauer Anzug hatte Schweißflecken unter den Armen, sein Gesicht war knallrot.
In einer wunderschönen, zärtlichen Geste fuhr Tomas mit dem Finger über Laures Wange. »Die Dinge hier verändern sich, Laure. Willst du Zeuge dieser Veränderung sein?« Sie war sich unsicher, was er damit beabsichtigte, dennoch nickte sie. »Lucia hat Angst, und sie hat allen Grund dazu. Ihre Familie hat gelitten. Ihre Eltern waren einmal hochrangige Beamte. Jetzt sind sie Tellerwäscher.«
»Wie der Kellner?«
»Wie der Kellner.«
»Verstehe.«
»Das tust du vermutlich nicht«, sagte er. »Aber lass uns weitergehen.«
Im Marionettentheater liefen die Vorbereitungen für die Abendvorstellung. Laure machte sich an ihre inzwischen vertrauten Tätigkeiten.
Nachsehen, ob auf dem Boden oder den Bänken Abfall herumlag.
Nachsehen, ob das Licht funktionierte.
Nachsehen, ob Wasser für diejenigen da war, die von der Hitze übermannt wurden – während einer der letzten Vorstellungen war ein Mann ohnmächtig geworden.
Nachsehen, ob sich das rudimentäre Erste-Hilfe-Kästchen mit einer Packung Aspirin und ein paar Pflastern an dem dafür vorgesehenen Ort befand – möge Gott denen beistehen, die einen Schlaganfall erlitten oder sich versehentlich eine Ader aufschlitzten.
Hinter der Bühne reparierte Milos einen von hloupӯ Honzas Fäden. Die Marionette sah mitgenommen aus. Ihre Nase musste nachgebessert werden, und ihre Hose war auch schon etwas verschlissen.
Laure sah Milos beim Arbeiten zu, sein kahl werdender Kopf glänzte in der Hitze.
»Houpӯ Honza findet das Leben schwierig, nicht wahr? Er ist gestürzt. Wie traurig.«
»Rede nicht so von mir«, sagte die Marionette.
Laure warf einen flüchtigen Blick auf Milos, der mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen weiterarbeitete.
»Houpӯ Honza, das tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen«, sagte Laure.
»Ich leugne ganz entschieden, dass ich von bürgerlicher Abstammung sein soll«, sagte hloupӯ Honza.
»Aber hloupӯ Honza«, sagte Milos streng, »dein Vater war ein bekannter Textilfabrikant.« Er warf einen Blick auf Laure. »Du darfst vor Besuchern keine Lügen erzählen.«
»Meinst du nicht eher, erzähl keine Lügen vor Leuten, die du kennst. Besucher wissen nicht, ob man lügt oder nicht, somit ist es ihnen egal.«
»Ich bin aber kein Besucher mehr«, sagte Laure.
»Nein, bist du nicht, du gehörst jetzt zum Team.«
Laure fing an zu strahlen.
»Das muss man sich verdienen. Bring das nächste Mal etwas Kaffee mit. Diese Marionette hätte liebend gern eine gute Tasse.«
Milos arbeitete ruhig und systematisch, sah dabei konzentriert nach unten.
Laure erinnerte sich daran, dass in der Küche der Familie Kobes Kaffeepäckchen auf einem Regal gelagert waren. »Ich werd’s versuchen. Ich wusste nicht, dass es so schwierig ist, welchen zu bekommen.«
»Ausländer.«
Das war so liebevoll vorgebracht, dass Laure grinste.
Milos befestigte den letzten Faden. »Geht’s dir jetzt besser, alter Mann?«
»Jawohl!«
Milos tippte auf die lädierte Nase. »Falsche Epoche.«
»Erteil du mir keine Geschichtslektionen.«
Die Geschäftigkeit hinter der Bühne nahm zu, wie das immer der Fall war. Aufregung und Anspannung schaukelten einander hoch. So vieles konnte passieren. Eine Darbietung konnte ein voller Erfolg sein. Oder ein totaler Flop.
Eine Darbietung konnte angesehen, verzeichnet und gemeldet werden.
Diese Unsicherheit verursachte einen Rausch, den Laure inzwischen genoss. Jeder Tag brachte eine neue Empfindung, eine neue Erfahrung mit sich – wunderbar intensiv.
Sie ließ Milos aufräumen und ging in den Raum, der als Küche diente, um Wasser für den Backstagebereich zu holen.
Der Raum hatte diese Bezeichnung nicht verdient, denn er besaß nur ein Spülbecken, einen Wasserhahn, und in der Mitte stand ein wackeliger Tisch. Jemand hatte einen Gaskocher mitgebracht, auf dem ein Teekessel bollerte, dazu ein paar Tassen, eine davon ohne Henkel.
Laure füllte einen Krug mit Wasser, wischte ein Tablett mit dem abblätternden Bild der Karlsbrücke ab und stellte die Gläser darauf. Als sie das Tablett hochhob, griff jemand nach ihrer Schulter, und fast hätte sie es fallen lassen. Aufgeschreckt wirbelte sie herum.
Laure stand Lucia gegenüber, die ihr schwarzes Bühnenoutfit und das Kopftuch trug. »Mein Englisch ist heute nicht so gut.« Laure sah eine Auseinandersetzung vorher und stellte das Tablett ab. »Aber man muss es dir sagen. Du denkst, er mag dich? Denk noch mal.«
»Tomas?«
»Wer sonst? Er benutzt dich für das, was du bist. Das macht er so.«
In dem Moment begriff Laure, dass es nicht einfacher wurde, mit einer Situation klarzukommen, wenn man vorgewarnt war. »Ich weiß, ich bin keine Tschechoslowakin, wenn du das damit meinst.«
»Nein, bist du nicht.« Lucia sprach die Worte gedehnt aus. »Und du wirst es nicht verstehen.«
»Vielleicht ist es mir egal.«
Echte Furcht zuckte über das Gesicht der anderen Frau. »Du kommst hierher, mit fremden Kleidern und Geld. Ja, du hast einen Job, aber er ist …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Dein Job ist dumm. Nicht real. Du arbeitest für privilegierte Leute.« Mitten im Redefluss verstummte sie, warf einen Blick über die Schulter zur Tür, als wollte sie sich vergewissern, dass sie nicht belauscht wurden. Doch niemand stand in der Tür, und sie fuhr mit ihrer verbalen Attacke fort. »Du wirst nie wissen, wie es ist, hier zu leben.« Sie klopfte sich auf die Brust. »Tief drinnen.«
Diese dramatische Geste irritierte Laure. »Das ist doch bescheuert«, sagte sie und wollte das Tablett wieder hochheben.
Lucia versperrte ihr den Weg. »Soll ich dir mal erzählen, was passiert, wenn du etwas Schönes in der Tschechoslowakei hast? Egal wie unbedeutend.«
Laure wusste nicht, worauf sie hinauswollte, und sagte: »Man freut sich daran.«
Lucia schob ihr Gesicht ganz nah an Laures. »Du dummes Ding, es wird dir gestohlen. Das passiert. Du kannst es auf dem Grund eines Flusses verstecken, aber sie finden es.« Ihr Englisch holperte. »So leben wir hier. So sterben wir hier. Deshalb kämpfen wir. Aber du … wann immer du genug hast, kannst du einfach gehen. Wir müssen hierbleiben.« Sie zeigte auf den Raum. »Du denkst, diese Vorstellungen wären unterhaltsam, aber das sind sie nicht. Wir erschaffen hier die Zukunft. Entwickeln Ideen. Debattieren.«
»Redest du von Politik?«
»Alles in diesem Land ist Politik. Du bist zu dumm, das zu sehen.«
»Dumm« war offenbar eines von Lucias Lieblingswörtern.
»Lucia, geh mir bitte aus dem Weg.«
»Du wirst ihn nicht klauen. Du solltest nach Hause gehen.«
»Ich habe nicht die Absicht, ihn zu klauen.«
»Hast du wohl.«
Die beiden Frauen starrten einander an, bis Lucia einen Schritt zur Seite machte. Laure nahm das beladene Tablett und ging zum Backstagebereich.
Während sie zusah, wie Lucia die Marionetten bei der Vorstellung führte, wurde Laure klar, dass sie bislang etwas Wichtiges übersehen hatte: die Macht der Erinnerung.
Der Marionettenspieler musste sich jede klappernde Bewegung, jeden Schritt, jedes Auswechseln merken. Eine falsche Bewegung, schon war die Darbietung dahin. Eine falsche oder vergessene Bewegung, schon stimmte die Botschaft nicht mehr.
Wenn Lucia recht hatte und alles in diesem fremden Land mit Politik zu tun hatte, dann musste man das Leben damit zubringen, die anderen zu beobachten. Wie erschöpft mussten sie alle sein und wie eingleisig ihre Gedanken verlaufen, was auch zum Teil Lucias Haltung ihr gegenüber erklären würde.
»Habe ich dir die Geschichte der Sieben Weltwunder der Tschechoslowakei zu Ende erzählt?«, fragte Tomas, als sie ihm berichtete, Lucia und sie hätten eine Auseinandersetzung gehabt. »Sie könnte dir helfen, das zu verstehen.«
»Wie alt ist Lucia?«
»So alt wie ich.«
Er war nach der Vorstellung aufgetaucht. Heiser von einem Auftritt in der Nähe des Wenzelsplatzes, mit vor Wodka und Adrenalin glänzenden Augen und nach Tabak und frischem Schweiß stinkend. Er wirkte sehr zerbrechlich, dennoch war seine Wirkung auf sie so unwiderstehlich, dass ihre Knie weich wurden und sie Schmetterlinge im Bauch hatte.
Sie standen in dem Gang, der von der Bühne zur Küche führte, und er zog sie an sich. Seine Lippen streiften ihr Ohr, als er flüsterte: »Obwohl nichts in den Läden ist, haben wir genug von allem. Obwohl wir genug von allem haben, klaut jeder.«
Sein Mund verweilte an der weichen Lieblingsstelle an ihrem Hals, leicht unterhalb der Kinnlinie.
»Obwohl alle klauen, geht niemals irgendwo etwas verloren.«
Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, und presste sich an ihn, nahm mit Schrecken wahr, wie schmal und dünn sein Körper war. Er schob sie etwas zurück, um sie anzusehen. »Das ist tschechischer Humor, Laure. Wir sind es gewohnt, über uns selbst zu lachen, über das System und die Idiotie des Universums. Wir erwarten nicht, dass ein Außenstehender das versteht.«
Sie legte eine Hand flach auf seine Brust, wollte seinen Herzschlag spüren, war sich seines Getrenntseins nur zu sehr bewusst und wollte es überbrücken. »Alle sind immer so darauf bedacht, mich wissen zu lassen, dass ich eine Außenstehende bin.«
»Außerdem bemitleiden wir uns. Insbesondere über das große Paradox.«
»Das da wäre?«
»Das da wäre das Verständnis dafür, dass die Welt ein schrecklicher Ort ist, weil man zwischen einem Heimatland wählen musst, das Leiden verspricht, und dem Leiden, das einen befällt, wenn man sich dafür entscheidet, das Heimatland aufzugeben.« Er grinste. »Was soll man da machen?«
Unsicher sagte sie: »Das Paradox besteht also darin, zwischen zwei Leiden zu wählen.«
»Für welches entscheidest du dich?«
Das war eine rhetorische Frage, und er erwartete nicht, dass Laure sie beantwortete. Ihre Erheiterung steigerte sich immer mehr. Irgendwie – aber wie nur? – war sie in einen Kreis hineingeraten, der Dinge wie dieses als wichtig erachtete.
»Komm dieses Wochenende mit zur chata , dann erzähle ich es dir. Die Jungs werden dort sein. Es wird dir gefallen. Dort sind wir so richtig in Hochform.«
Sie wusste nur zu gut, was die Einladung eigentlich beinhaltete.