18
Spät an einem heißen Freitagnachmittag mit dem Zug aus Prags Hauptbahnhof zu fahren war nicht die beste Zeit.
Vor dem Ticketschalter, wo sie sich mit Tomas traf, hatte sich eine lange Schlange gebildet; er trug eine Leinenweste und hatte die Haare mit einem schwarzen Schnürsenkel nach hinten gebunden. »Wenn wir Glück haben, bekommen wir einen Sitzplatz«, sagte er.
Die Gänge im Zug waren brechend voll. »Was ist dir lieber? Tod durch Erdrücktwerden im Gang oder in einem Abteil?« Sie quetschten sich in ein Abteil, in dem es bereits voll und stickig war. »Tut mir leid«, sagte Tomas freudig zu den Mitreisenden. Er schob Laures Rucksack nach oben in die Gepäckablage und legte seine Gitarre vorsichtig darauf ab. »Sehr leid.«
Der Reisende am Fenster sah auf, und Laure amüsierte sich über seinen erstaunten Blick, als er Tomas erkannte. Tomas bedachte ihn mit dem ihm eigenen Lächeln, mit dem man einen Affen vom Baum herunterlocken konnte, und schüttelte den Kopf, als der Mann ihm seinen Platz überlassen wollte.
Zum Glück dauerte die Fahrt nicht lange. Der Zug rollte durch die Prager Vororte, auf die ländliche Landstriche folgten, die mit Birken und Eschen getupft und von Bächen und Flüssen durchkreuzt waren.
Nicht dass Laure viel davon hätte sehen können. Sie konzentrierte sich darauf, das Gleichgewicht nicht zu verlieren und sich nichts aus dem Gestank der Fleischsandwiches zu machen, die die Frau vor ihr an ihre Familie verteilte.
Anscheinend war chata die Bezeichnung für Hütten und Landhäuser, zu denen Mann, Frau, Kind und Kegel wann immer möglich aufbrachen. »Wenn man um die Abzocke mit den Baugenehmigungen herumkommt, kann man etwas bauen«, sagte Tomas. »Das hängt davon ab, wen man kennt. Wenn man das nicht machen kann, dann mietet man. Als dekadente Musiker müssen wir mieten.« Ein paar Minuten lang war er etwas mürrisch. »Dafür aber keine Spitzel«, sagte er. »Keine Einschränkungen. Keine Propaganda.«
Laure sah zu, wie die Sandwiches verspeist wurden, und fragte sich besorgt, ob sie die richtige Kleidung eingepackt hatte. Jeans. Einen Baumwollrock. Das Kleid, das so viele Kommentare provoziert hatte. Sie mochte es nicht mehr so sehr, wie das zunächst der Fall gewesen war. Irgendwie erschien es ihr unangemessen .
Vom Bahnhof musste man zwanzig Minuten zu Fuß zu einem abseits gelegenen Weiler gehen, wo Tomas sie einen Pfad zu einem einstöckigen, mit roten Schindeln bedeckten Haus führte. »Wir haben die Besitzer bestochen, damit Anatomie es die ganze Saison über mieten kann.« Er sagte das betont ironisch. »Das war nicht einfach. Wir sind gebrandmarkte Männer, und niemand will mit uns Geschäfte machen.«
Der Riemen ihres Rucksacks drückte sich in ihre Schultern ein, und sie verschob ihn ein wenig. Tomas streckte die Hand aus und nahm ihr den Rucksack ab. »Bist du schon einmal festgenommen worden?«, fragte sie.
»Zweimal. Jedes Mal verliert man ein Leben.« Er betrachtete ihr erschrecktes Gesicht. »So ist das hier nun einmal.«
Sie rieb sich über die gepeinigte Schulter und fragte: »Hast du je darüber nachgedacht, in den Westen zu fliehen?«
Sie hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als sich seine Haltung leicht änderte. Ein verschlossener Ausdruck ersetzte seine lächelnde Unbeschwertheit. »Warum fragst du das immer wieder?«
Sie war verwirrt. »Ich … entschuldige. Habe ich dich beleidigt?«
»Stell nicht solche Fragen, Laure. Frag so etwas einfach nicht.«
Er wandte ihr den Rücken zu und klopfte an die Tür.
Ein offensichtlich betrunkener Manicky öffnete. »’tschuldige.« Sein heißer, alkoholgeschwängerter Atem hätte sie fast umgehauen. »Ich musste mit den anderen Schritt halten.« Er führte sie zur Sitzecke, in der ein Ofen stand und von wo aus andere Räume abgingen.
Hier herrschte das reinste Chaos. Ein auf dem Bauch liegender Leo schnarchte auf dem Sofa. Jemand anders lag dahinter, den schweren Schnürstiefeln nach zu urteilen vermutlich ein Mann. Überall standen schmutzige Biergläser, der Stummel einer Wurst lag herum, und Brotkrumen waren über den Tisch verteilt, und es stank nach Schweiß, Zigaretten und säuerlichem Bier.
Tomas kickte nach dem, der hinter dem Sofa lag. »Entschuldige«, sagte er. »Es sollte eigentlich nicht so heftig sein.«
Laure versuchte immer noch, sich davon zu erholen, wie ihre Unterhaltung in Schieflage geraten war, und empört über all den Dreck fragte sie: »Soll ich besser gehen?«
»Nein. Aber geh ein bisschen spazieren, bis ich die Dinge hier in Ordnung gebracht habe.«
Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Du musst ihnen das verzeihen.«
Draußen fiel ihr das Atmen leichter. Die aufgestaute Hitze des Tages streifte über ihre bloßen Arme, und die Sonne stand tief am Horizont. Ein paar chata , die in der Ferne zum Wald hin immer weniger wurden, standen gesäumt von gesund aussehenden Eschen an der Kreuzung, die das Zentrum des Weilers bildete. Viel mehr gab es hier nicht, also ging sie langsam im Kreis um den Weiler herum. Das sommerliche Unterholz knackste trocken, und dort, wo die Bäume am dichtesten standen, warfen sie dunkle Schatten.
In mehreren Gärten saßen Familien beim Essen, während sie blechern klingenden Radios lauschten. Kinder rannten unbeschwert lärmend herum, und die Hunde lagen hechelnd im Schatten. Laure beobachtete zwei Kleinkinder unter einem Baum, die mit kleinen Blechtassen Wasser von einem Eimer in einen anderen schöpften.
Alles sah so normal aus. Es war so normal.
An der Kreuzung setzte sie sich auf eine Bank. Wenigstens veränderten sich die Bäume nicht, oder das Sonnenlicht oder der Himmel, und es war eine Wohltat, sie anzusehen. Ansonsten leistete sie sich in diesem fremden Umfeld einen Schnitzer nach dem anderen.
Nach einer Weile suchte Tomas nach ihr. Er fand sie auf dem Pfad, der von den Häusern zum Wald führte. Er hatte sich gewaschen, rasiert und eine geflickte, aber saubere Jeans und ein T-Shirt angezogen. »Melde mich gehorsamst zum Dienst«, sagte er.
Sie war leicht schockiert. »Es ist kein zu großer Dienst, hoffe ich.«
Seine Augen wurde schmal. »Ich habe völlig vergessen, wie es ist, so alt wie du zu sein«, sagte er leise.
»Ich bin nicht sehr viel jünger als du.«
»Aber ich fühle mich sehr viel älter.«
Sie deutete auf eine Familienszenerie ganz in ihrer Nähe. »Erinnerst du dich daran, wie du mir gesagt hast, dass jeder klaut, obwohl genug von allem da ist?«
»Theoretisch ist genug von allem da.«
»Es klang so, als würde hier draußen Anarchie herrschen, aber was ich hier sehe, erinnert mich sehr an England.«
»Stiehlt in England etwa niemand? Kein Wunder, dass du willst, dass ich dorthin gehe.« Er berührte ihre Brust. »Darf ich das tun?« Eine Augenbraue wanderte nach oben. »Oder heißt es: Kann ich?«
Sie lachte und fühlte sich gleich viel besser. »Du bist ein guter Schüler.«
Seine Finger fühlten sich rau an auf ihrer Haut. »Tatsächlich gibt es ein Achtes tschechoslowakisches Weltwunder, das besagt, unter unserem großartigen Parteiführer Husák, möge er ewig leben, hätten diese Regeln vierzig Jahre lang funktioniert. Vorausgesetzt, wir sprechen das Wort ›Russland‹ niemals aus.«
Wie in Trance ließ sich Laure von Tomas den Pfad zum Wald hinaufführen. Im Dickicht der Blätter wanderten die abendlichen Schatten über den Boden, und die Vögel waren verstummt. Es roch nach trockenen Pflanzen und heißem Stein, und die Wärme des Bodens drang durch die dünnen Sohlen in ihre Schuhe.
Sie wusste, wohin sie geführt wurde. Und freute sich. Wie verrückt. War überglücklich.
Tomas blieb stehen. »Bist du dir sicher?« Sie nickte. »Wir können umkehren, wann immer du willst.« Er lächelte ironisch. »Sex kann so lächerlich sein. Lustig und ernst und grausam.«
Auch in kryptischer Form wollte sie nichts von seinen Erfahrungen hören, insbesondere wenn sie … Lucia beinhalteten. Sie atmete tief durch. »Ich bin nicht sonderlich erfahren.«
Er musterte ihr Gesicht. »Ich glaube nicht, dass du Spaß gehabt hast. Habe ich recht?«
Es war ihr noch immer unangenehm, über Rob zu sprechen. »Ich war ihm nicht wichtig, aber er war mir wichtig. Die ewig gleiche Geschichte.« Es war immer ein Fehler, darüber zu reden, weil es ihre Gefühle aufwirbelte.
Er nahm ihre Hand und zeichnete einen Kreis auf ihre Handfläche. »Wir sind im Wald, einem Ort voller Magie und neuer Entdeckungen. Du hast geschlafen, und ich bin gekommen, um dich zu wecken.«
»Das klingt bei dir, als wären wir Geschichten.«
»Das sind wir auch. Wunderschöne, aufregende Ge-
schichten.«
Bei diesen Worten lief sie verlegen rot an. War es so offensichtlich, dass sie sich danach sehnte, Liebe zu erfahren? Richtige Liebe. Nicht diese erbärmliche Obsession wie mit Rob, sondern eine ursprüngliche Antwort auf ihre lebhaften Träume, Erwartungen und sinnlichen Tagträume … auf die unerforschten Bereiche ihrer Gedanken, die undurchsichtigen Orte ihrer Psyche.
Sie wagten sich tiefer in den Wald hinein, wo die Luft stand, aber die Farben leuchtend waren – dunkle Grüntöne, ein bisschen Orange und Gelb, die blutroten Tupfen früher Beeren. Das Knacken der Äste unter ihren Füßen, das Rascheln aufgescheuchter Tiere, das listige Aufblitzen von Pilzen in den Rissen einer Wurzel, Schatten gossen dunkle Flecke zwischen die Bäume, an denen sie vorbeikamen. Der Ruf eines alten, mystischen Ortes lockte sie.
Bis Tomas bei einer grasbewachsenen Lichtung stehen blieb, klebte ihr das T-Shirt am Rücken. Keuchend vor Hitze ließ sie sich auf den Boden fallen und zupfte sich den schweißnassen Baumwollstoff etwas von den Armen.
Tomas kniete sich neben sie. »Du bist Dornröschen, denke ich.«
Sie drehte den Kopf zu ihm um und sah ihn eindringlich an. »Aber du hast die Dornenhecke noch nicht überwunden.«
»O doch, das habe ich. Du hast geschlafen.«
»Es hat lange gedauert.«
»Mach dir keine Sorge. Er kommt immer durch. Irgendwann.« Er zog kurz an ihrem durchgeschwitzten T-Shirt. »Warum ziehst du es nicht aus?«
Jetzt bekam sie es mit der Angst zu tun – davor, worauf sie sich hier einließ, auf den Schmerz, der vielleicht vor ihr lag, und das Ende. Wie sollte es ein gutes Ende nehmen?
Tomas zog ihr das T-Shirt über den Kopf. »Macht es dir etwas aus, dass es hier passiert?«, fragte er. »Privatsphäre ist schwierig in diesem Land.«
Instinktiv schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. »Es sollte hier sein. Draußen im Freien.«
Er streichelte über ihre bloßen Schultern. »Ich werde dir nicht wehtun.«
Nein, das würde er nicht. Das war das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, und sie ließ sich los und legte die Arme um ihn.
Obwohl hier Gras wuchs, war der Boden nicht weich, und Steine drückten sich in ihren Rücken. Ihre mangelnde Erfahrung war offensichtlich, und zunächst fühlte sie sich hölzern und im Nachteil.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich kümmere mich darum, dass es dir gut geht.« Er küsste eine Brust. »Du bist wunderschön und süß. Du hast Blätter im Haar und siehst aus wie ein Geist, der im Wald lebt.«
»Du hast gesagt, ich wäre eine Löwin.«
»Auch das«, sagte er so zärtlich, dass Laure meinte, sie würde vor lauter Gefühlen noch ohnmächtig. »Hast du immer noch Angst? Ich werde mich gut um dich kümmern.«
Sie blickte ihm in die Augen und sah, dass er ehrlich und aufrichtig war. »Nein, ich habe keine Angst.«
Nach einer Weile hatte sie die Steine vergessen, die gegen ihren Rücken drückten, und konzentrierte sich auf die brennenden Empfindungen und das Verlangen. Wie versprochen machte Tomas es ihr einfach, und er war so bemüht, dass sie am liebsten gelacht und geweint hätte.
Als es vorbei war, lagen sie in einer verschwitzten Umarmung da. Langsam wurde es dunkel, das Rascheln im Dickicht war lauter geworden, und ein abendlicher Lufthauch ließ die Blätter an den oberen Ästen erzittern. Aber all dem wohnte nichts Bedrohliches inne, nur eine unermessliche Friedlichkeit.
Tomas’ Kopf lag an Laures Schulter. Sein Geruch war warm, männlich und absolut verführerisch. Die Intimität ihrer verschlungenen Körper ließ sie nach Atem ringen. Sich noch mehr zu verlieben – was ihr gerade passierte –, bedeutete, sich von sich selbst zu lösen. Es war die Freiheit, mit einem anderen zu verschmelzen und dessen Welt anzunehmen.
Ja.
Sie blinzelte nach oben zum Blätterdach und dachte: Lass mich bitte nicht alt werden.
Tomas bewegte sich. »Ich höre dich denken.«
»Ich habe mir einen Moment lang vorgestellt, wie es wohl ist, alt zu sein, ohne … das da.« Sie legte eine Hand auf seinen Rücken.
»Du bist nicht alt.« Tomas hob den Kopf. »Und du musst nicht ohne es sein. Oder?«
Voller Freude und Dankbarkeit schloss Laure die Augen.
Manicky und Leo waren viel zu betrunken, um sie freundlich willkommen zu heißen. Als Tomas und Laure in die chata zurückkamen, murmelten sie etwas von wegen zu viel Alkohol, artikulieren in einer Fremdsprache würde nicht funktionieren, und hingen auf ihren Stühlen, wo sie irgendwie versuchten, ihren Kater zu überstehen.
Jemand hatte sich bemüht, sauber zu machen. Das Geschirr war abgewaschen, die leeren Flaschen standen vor der Tür. Aber es stank noch immer nach Zigaretten und ungewaschenen Männerkörpern.
Tomas riss die Fenster auf und ließ die Tür offen stehen. Manicky murmelte etwas von Insekten, aber Tomas meinte, daran hätten sie früher denken sollen.
Laure half Tomas, den Tisch abzuwischen, und er stellte Wurst und Brot darauf. »Kein Festessen, aber du bist bestimmt hungrig.«
Ihre Sinne waren noch immer völlig überwältigt und berauscht, aber sie bemühte sich, die Wurst zu essen. Zu behaupten, dass diese penetrant roch, wäre eine Untertreibung gewesen, außerdem musste man sie gut kauen. Das Brot war nicht viel besser, aber es half, ihr Hungergefühl zu stillen.
Nachdem der Höflichkeit Genüge getan war, sagte Tomas: »Tut mir leid für das hier«, verschränkte die Arme auf dem Tisch, ließ den Kopf darauf fallen und schlief ein.
Sie ging nach draußen zu der Bank vor der chata und überließ sich ihren Gedanken. Wie sie so im getüpfelten Schatten saß, hörte sie die Stimme ihres Vaters, der sie drängte aufzuräumen. Unordentliches Zimmer, unordentliche Gedanken . Sie spürte einen Knoten im Hals, musste gleichzeitig aber auch lächeln.
Später am Abend wurden die Männer wieder wacher und hielten eine Jamsession an der Kreuzung ab. Fast sofort hatte sich eine Zuhörerschaft um sie versammelt.
Es wurde geraucht, gesungen, getanzt, und manche stimmten mit ein. Ein Mädchen in superengen Jeans von der chata nebenan schlich sich zu ihnen und beäugte Manicky mit kaum verhohlener Begierde. Ein älterer Mann setzte sich auf einen gefällten Baumstamm und hielt den Daumen hoch. Kinder wurden zum Schweigen gebracht.
Anatomie klang rau und schäbig – nicht sonderlich er-
staunlich nach dem Exzess des vorangegangenen Abends –, und sie sangen auf Tschechisch. Provozierende Songs, wie Laure anhand der Wirkung, die sie auf das Publikum hatten, vermutete, und sie war besorgt, die Gruppe könnte hier unnötige Risiken eingehen.
Die drei sahen einander nicht oft an. Das war nicht notwendig. Von der musikalischen Seite her kannten sie einander in- und auswendig. Ihre Bewegungen waren koordiniert, ihre Akkorde stimmten auf die Millisekunde überein, ihre pulsierende sexuelle Einladung war kollektiv.
Ein ihr unbekannter Mann fasste sie an der Hand und tanzte mit ihr. Mit hämmerndem Puls und keuchendem Atem ließ sie sich gehen, bis sie ganz atemlos war.
Die Welt drehte sich um sie herum. Sie war umfangen von dunklen, flüsternden Bäumen, der spätabendlichen Hitze, dem Geruch der Sommernacht. Sie war zu etwas Überirdischem geworden. Sie war Heidin. Feuer und Verlangen pulsierten in ihr.
Sie war nicht länger das Mädchen, das erst vor ein paar Wochen in diesem Land angekommen war.
Der Morgen dämmerte schon fast, als Tomas seine Finger mit ihren verschränkte und sagte: »Komm, gehen wir schlafen.«
Sie ertasteten ihren Weg zu einem Zimmer mit einem schmalen Bett und ließen sich darauf fallen. Die Laken waren rau und ungelüftet und die Matratze einfach nur schrecklich, aber das war Laure egal. Leo und Manicky stolperten in ihren Zimmern herum. Aus Manickys Zimmer war der Schrei einer Frau zu hören.
Tomas zog Laure an sich. »Ich kann gerade nicht.« Er war heiser und erschöpft. »Macht dir das was aus?«
Die Intimität dieser Beichte ließ sie nach Luft ringen. »Nein.«
Sein Lachen war mehr ein Krächzen. »Solltest du nicht eher sagen, dass es dir etwas ausmacht? Das wäre schmeichelhafter.«
»Aber das würde nicht stimmen. Ich bin müde und wund und würde gern schlafen.«
»Eine ehrliche Antwort.« Er zog sie noch enger an sich und schloss die Augen. »Du riechst nach Blumen.« Nach wenigen Augenblicken war er eingeschlafen.
Ihr fiel es schwerer einzuschlafen. Sie war es nicht ge-
wohnt, sich ein Bett mit jemandem zu teilen, versuchte wegen Tomas, still liegen zu bleiben und nicht in die Kuhle in der Mitte zu rollen. Noch dazu war sie zu erschöpft, um zu schlafen, und ihre Gedanken rasten. Sie suchte nach dem Sinn dessen, was gerade passierte – der Sex, ihre Gefühle für Tomas, die Entdeckungen, die sich in diesem komplizierten Land, in dem sie jetzt lebte, dicht und schnell zusammendrängten.
Aber sie musste eingeschlafen sein. Als sie das nächste Mal den Kopf drehte, fielen Sonnenstrahlen durch das Fenster auf den Holzboden. Zunächst konzentrierte sie sich darauf, aber es war zu hell, also wanderte ihr Blick stattdessen zu den Holzwänden. Diese wechselten in der Farbe von Honig zu Dunkelbraun und hatten eine schöne Maserung und Struktur, an denen sich das Auge aufhalten konnte. Vogelgesang drang durch das geöffnete Flügelfenster herein, zusammen mit einem pinienartigen, grasigen Duft. Tomas lag dicht an sie gepresst, was unangenehm, aber nicht unerträglich war. Sie dachte: Das ist Glück.
Eine Hand berührte ihren Schenkel, und sie seufzte voller Vergnügen. »Ist das ein Ja?«, fragte Tomas.
»O ja.«
Er rollte sich auf sie. »Aber ich warne dich, ich bin nicht gewaschen, nicht gekämmt, und ich stinke nach Alkohol.«
Er scherzte nicht. »Das ist egal.«
Die Sonnenstrahlen fielen auf ihr Gesicht, und sie blinzelte.
»Weißt du, dass du wunderschön bist, Laure?«
Sie blieben den ganzen Vormittag über im Bett, tauchten erst zur Essenszeit auf. Leo und Manicky waren draußen und sonnten sich auf der Bank. Sonst war niemand da.
Leo wackelte zum Gruß mit dem Finger und sagte auf Englisch: »Ihr werdet gebeten, nur sehr leise zu sprechen.«
»Guten Morgen, Leo«, sagte sie.
Er presste sich die Hände auf die Ohren – lange Finger, schöne Hände, wie sie bemerkte. »Zu laut. Zu LAUT
Sie konnte nicht anders und kicherte.
Laure versuchte, jedes Detail dieses Tages in sich aufzunehmen. Die Sonne auf ihrer Haut, den Vogelgesang, die Erde zwischen den Zehen. Den Geschmack des ausgezeichneten Eintopfs, den ein zerzauster Manicky gezaubert hatte, der mit unerwarteten Kochkünsten aufwartete, wie sich herausstellte. Den Anblick des im Gras ausgestreckten Leo. Wie Tomas Leos hingestreckten Körper mit dem Fuß anstupste und sagte: »Er redet nicht viel. Aber wenn er mal etwas sagt, dann pass bloß auf.« Dieses Gefühl, in ein privates Königreich eingeladen worden zu sein, aus dem andere Ankömmlinge vertrieben würden.
Sie versuchte, es nicht zu unverhohlen zu zeigen, konnte sich aber nicht davon abhalten, hin und wieder einen Blick auf Tomas zu werfen, der ein verblichenes blaues T -Shirt von der Farbe eines englischen Sommerhimmels trug. Die Farbe der Liebe, so sagte sie sich. Fasziniert stellte sie fest, dass er die Angewohnheit hatte, mit der linken Hand zu gestikulieren. Er hatte lange, schmale Füße und war insgesamt sehr schlank. Vielleicht zu schlank. Im Licht deckten seine braunen Haare das Spektrum von Kastanie bis Kupfer ab.
Mehr als einmal trafen ihre Blicke aufeinander, und die Mischung aus Verlangen, Zärtlichkeit und Erregung, die durch ihren Körper wanderte, war, als würde sie einen elektrischen Schlag abbekommen.
»Weißt du, was genau dein Arbeitgeber macht?«, fragte Manicky irgendwann an diesem langen, faulen Nachmittag.
Sie hatten sich über Privilegien unterhalten, die nur wenigen zuteilwurden. Das zumindest entnahm Laure den übersetzten Salven. Große Autos, private Krankenversicherungen, größere Wohnungen. Laure antwortete, dass er, sofern sie wisse, seinen Pharmakonzern in Frankreich repräsentiere.
»Lass dich nicht reinlegen«, sagte Manicky in überaus gutem Englisch. Er lag auf dem Rücken im Gras. »Bestimmt betreibt er Industriespionage. Deshalb hat er eine so große Wohnung und jemanden wie dich. So viel ist ihnen die Info wert, die er mit zurückbringt.«
Manickys Theorie war nicht von der Hand zu weisen. Die undeutlichen, halb ausformulierten Verdächtigungen, die ihr selbst durch den Kopf geisterten, fanden zu-
einander. Überrascht stellte sie fest, wie enttäuscht sie war. Abgesehen davon, wie er Eva behandelte, fing sie an, Petr zu mögen, und ihr gegenüber verhielt er sich korrekt. Sie musste jedoch einräumen, dass sie für gewöhnlich alles unbesehen glaubte. Dass Petr da nicht gleichzog, war durchaus möglich.
»Nimm dich vor ihm in Acht«, fügte Manicky hinzu.
Seine verschlafen gedehnte Sprechweise war wacher geworden, und sie fragte sich, ob er meinte: Du solltest nicht mit uns zusammen sein.
Am Abend würde Laure den Zug zurück nach Prag nehmen müssen. Widerstrebend ging sie in die chata , um zu packen. Als sie zurückkam, war die Unterhaltung deutlich erregter.
Tomas machte ihr Platz auf der Bank. »Leo meint, dass die Konfliktlinie nicht länger zwischen Herrschenden und Beherrschten verläuft, sondern durch die Individuen hindurch. Mit anderen Worten, die Menschen wissen nicht mehr, wer sie sind. Was sie sind.«
Zu Hause hätte eine solche Unterhaltung niemals stattgefunden. Wo komme ich an guten Stoff? In welche Bar gehen wir heute?
Sie schob die Arme durch die Riemen ihres Rucksacks. »Ich verstehe das nicht.«
Tomas half ihr, ihn auf den Rücken zu hieven. »Was Leo damit sagen will – so unbeholfen wie immer« – Leo warf eine Sandale nach Tomas, der sich wegduckte. »Was Leo so geistreich wie immer sagen will, ist, dass Enttäuschung und Trennung für uns alle ziemlich normal sind.« Er richtete einen Riemen für sie aus. »Nimm einen ganz normalen Mann.«
»Oder eine Frau.«
»Oder eine Frau. Jemanden, der zum Beispiel einen Obst-und-Gemüse-Stand in der Stadt hat. Oder eine Metzgerei. Fällt dir bei denen irgendetwas auf?«
»Die Slogans in ihren Läden. Wie ›Arbeiter der ganzen Welt vereint euch‹.«
»Aber glaubt dieser Mann – oder diese Frau – an die internationale Solidarität der Arbeiter? Bestimmt nicht. Was er oder sie mit dem Aushängen des Slogans sagt, ist: Ich verhalte mich so, wie du, lieber Staat, es haben möchtest. Deswegen musst du mich in Ruhe lassen. Es ist also ziemlich egal, woran er oder sie glaubt.« Er wirbelte herum. »Habe ich nicht recht, Leo?«
Leo lag noch immer ausgestreckt im hohen Gras und grunzte.
Tomas verschränkte die Finger mit denen von Laure. »Dann hat er es also akzeptiert«, sagte Laure vorsichtig, »sich in einer Weise zu verhalten, dass er im Gegenzug in Ruhe gelassen wird, und toleriert die vom Staat verbotene Botschaft.« Sie sah über die Bäume. »Das garantiert ihm, dass er mit seinem Leben weitermachen kann.«
»Schlaues Mädchen. Wie du siehst, kommen die Meinungen in vielen Schattierungen.«
Manicky griff nach seiner Gitarre und ließ einen Akkord erklingen. »Passiert das auch in England?«
»Manchmal schon, nehme ich an.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, so funktioniert der Staat dort nicht. Nicht einmal für einen Verbrecher.«
Abrupt setzte sich Leo auf und sagte etwas auf Tschechisch, spuckte die letzten Worte geradezu aus.
Tomas beugte sich nach unten, um den Schnürsenkel seiner Turnschuhe zuzubinden. »Mein Gemüseverkäufer hat sich Millionen Mal über das Land vervielfältigt, und als Ergebnis davon sind wir eine Nation von Zombies. Wir haben keine Wahl.«
Manicky spielte einen anderen Akkord, einen melancholischen, und Tomas sang: »Liebling, ich habe dir ein gutes Leben versprochen. Wie ist es nur so schiefgelaufen?«
In diesem Land schien die Politik alles zu infiltrieren, und Laure wollte nicht darüber nachdenken. Sie wollte über die Liebe nachdenken und darüber, wann sie Tomas das nächste Mal sehen würde. »Sollte ich nicht besser losgehen?«
»Bis bald.« Leo küsste sie zum Abschied auf die Wange, was sie überraschte, Manicky hingegen vermied Körperkontakt.
»Ist Manicky mir gegenüber misstrauisch?«, fragte sie auf dem Weg zum Bahnhof.
»Nicht so sehr dir gegenüber als vielmehr deiner Situation. Er denkt, du könntest uns in Schwierigkeiten bringen.«
Sie lief rot an. »Ich würde euch niemals verraten. Oder etwas über euch sagen.«
Falls sie auf eine Beschwichtigung gehofft hatte, so kam diese nicht. »Das weiß keiner von uns«, sagte Tomas.
Als der Bahnhof zu sehen war, blieb er stehen. »Lass uns einander ein Versprechen geben, ja?«, sagte er.
Sie musterte ihn eindringlich. »Wenn du willst.«
»Versprechen wir uns, dass wir einfach das sind, was wir sind. Keine Politik zwischen uns. Nur wir selbst, die diesen Moment genießen. Einverstanden?«
Ihre Stimme zitterte. »O ja.«
Er brachte sie in den überfüllten Zug, küsste sie lange zum Abschied, sagte aber nichts von einem nächsten Treffen.
Sie beobachtete, wie die Landschaft an ihr vorbeizog, vom ländlichen Flair langsam in die Vorstädte von Prag überging, wo sich zwölfstöckige paneláks oder Wohnblöcke, manche davon dreihundert Meter lang, trostlos über der Ebene erhoben.
Wurde sie von jemandem beobachtet? Die Frau mit dem Kopftuch, der Teenager mit dem Bluterguss auf der Wange? Der Mann ihr gegenüber roch nach Knoblauch und hätte sich nicht weniger für Laure interessieren können. Oder war das nur der Eindruck, den er vermittelte?
Die Gewohnheit, andere zu verdächtigen, hatte Wurzeln in Laure geschlagen. Es war völlig nebensächlich, ob es nun etwas Gutes oder Schlechtes war, dass sie sich weiterentwickelt hatte, dachte sie. Es war einfach passiert.