20
Berlin, 1999
Petr ging davon aus, dass die Briten im Großen und Ganzen nicht sonderlich interessiert daran waren, ihn in der Stadt zu haben. Da sie seit dem Zweiten Weltkrieg eine Paranoia hysterischen Ausmaßes wegen Russland und den osteuropäischen Ländern aufgebaut hatten, würde es Zeit brauchen, bis diese abflaute, und durch seine bekannte frühere Verbindung zu Laure würde er wahrscheinlich auf der Liste der Personen von marginalem Interesse landen. Sie würde ihnen Bericht erstatten.
Diese Ironie entging ihm nicht.
Er war im Hotel Natalya und wartete darauf, dass Laure für das Abendessen zu ihm stieß. Ihr Anruf zur Vereinbarung eines Abendessens war für ihn nicht gänzlich unerwartet gekommen, und sie hatte dafür das Natalya vorgeschlagen. »Es ist berühmt für seine Kartoffelpuffer und seine Schnitzel«, hatte sie ihm gesagt.
Im Empfangsbereich drängte sich eine große Reisegruppe, die gerade aus einem Bus gestiegen war. Gepäckträger waren mit Kofferkulis im Foyer zugange.
Als Faustregel konnte man sagen: Die Russen trugen glänzende Anzüge und zogen wilde Haarschnitte vor. Die Deutschen waren legerer gekleidet, und die Männer trugen einen Siegelring als Ehering. Die Italiener hatten Seidenkrawatten umgebunden, die Polen bevorzugten Leder.
Die Unterhaltungen fanden mehrsprachig statt, es roch nach Damenparfum, kein sehr angenehmes, wie man sagen musste, aber die Zigarren rochen gut. Aus heiterem Himmel kam es zu einer Auseinandersetzung. Einer der Deutschen an einem Nachbartisch wurde lauter. »Scheiße, Mann, vermarkte einfach die verfluchten Immobilien«, zischte er seinem Begleiter zu. »Das ist dein Job.«
Petr registrierte die Aufforderung »vermarkten«. Das war der Beweis, dass die ehemalige Stasi im Bereich Immobilien und Versicherungen tätig war, Berufe, die es in der ehemaligen DDR nicht gegeben hatte. Aber alle brauchten die Verwaltungskenntnisse und Überredungskünste, in denen die Stasi sich spezialisiert hatte.
Die Auseinandersetzung ging weiter. »Ihr Wessis kommt mit euren abgefahrenen Klamotten und Autos hierher und erwartet, dass wir tun, was ihr wollt. Falsch gedacht.«
Petr fing den Blick des Russen auf, der neben ihm stand. »Spannungen innerhalb ein und desselben Volksstammes«, murmelte er auf Deutsch.
Schon immer hatte die Anonymität eines Hotels die Zungen gelöst.
»Ich verstehe«, antwortete der Russe seufzend. »Im Grunde genommen sind wir Russen Imperialisten. Wir wollen Osteuropa im Griff haben, wie der Westen den Westen im Griff haben will. So ist es nun einmal.«
Das Natalya gehörte zu den wenigen Ausnahmen von Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert, die überlebt hatten. Es befand sich nicht in bestem Zustand, aber der Großteil seiner charakteristischen Merkmale – Steinbildhauerei und kunstvolle Kragsteine – war intakt.
Das Foyer war mit Marmorplatten ausgelegt, von denen manche einen Sprung hatten. In abgetrennten Bereichen waren Sessel und Sofas, deren Polster schon bessere Tage gesehen hatten, zu Grüppchen angeordnet, und ein paar eingetopfte Feigenbäume kämpften ums Überleben. Tabakmief wehte von der Bar herüber. Die Gäste an der Bar, die meisten in gleichfarbigen Regenmänteln vom selben Fabrikat, wimmelten um den Barmann herum.
Diese Szene erinnerte ihn an ähnliche Orte in Prag, ehe die Partei verdrängt worden war und als jede Anstrengung, es dort elegant und weltgewandt erscheinen zu lassen, daran scheiterte, dass es an Geld fehlte und man fürchtete, als jemand angesehen zu werden, der den Westen imitierte.
Er wählte einen Platz mit zwei Sesseln in der Lobby und setzte sich, während er wartete. Nicht lange. Ein Auto fuhr vor dem Hotel vor und ließ seine Fahrgäste aussteigen. Petrs Hand, die locker auf dem Knie lag, verkrampfte sich.
Laure betrat das Foyer und gab ihren Mantel an der Garderobe ab. Sie ließ ihren Blick schweifen, entdeckte ihn und steuerte auf ihn zu. Sie überließ es ihm, zu bewundern, wie wenig sie den ganzen Aufruhr, den sie verursachte, zu bemerken schien. Sie trug nichts, was schockiert hätte oder beeindruckend war. Tatsächlich war ihr graues Kleid schlecht geschnitten und brachte etwas zuwege, das er nicht für möglich gehalten hätte, nämlich ihrem eleganten Körper eine plumpe Note zu verleihen. Ihre Haltung jedoch, ihr dickes, glänzendes Haar zog jedermanns Blicke auf sich.
Er erhob sich und streckte die Hand aus. »Hast du den Tag gut überstanden?«
»Ob du es glaubst oder nicht.« Sie ignorierte die ausgestreckte Hand. »Wir wurden vorgewarnt, dass Ostberlin abends immer noch ein Paradies für Gauner ist.« Die Feindseligkeit war zurück. »David, mein Chef, den du neulich abends getroffen hast, war besonders besorgt. Er macht immer viel Aufhebens. Ich habe ihm versichert, dass du dich an die Regeln hältst.«
»Hast du das?«
Sie ließ keine Sekunde verstreichen. »Ich denke, dass ein so unbedeutendes Detail wie ein Regimewechsel oder die Tatsache, in einem fremden Land zu sein, dich nicht davon abhalten würde, die Dinge so zu arrangieren, wie es dir passt. Täusche ich mich da?«
Laure ließ ihm verschiedene Botschaften zukommen. Zum einen, dass das Treffen vorab überprüft worden war. Zweitens, dass sie währenddessen ein Auge auf sie haben würden. Vermutlich der Fahrer des Wagens.
»Ich habe einen Tisch reserviert«, sagte er als Antwort. »Da es nur eine Servicerunde gibt, sollten wir vielleicht besser Platz nehmen.«
Der Saal war groß, an einer Seite war eine Tanzfläche mit willkürlich arrangierten Topfpflanzen. Sie bekamen einen Tisch am Fenster, das zum gegenüberliegenden Bürogebäude aus Beton zeigte. An dessen Eingang brannte ein schwaches Licht, das den fleckigen Beton und die kaputten Fenster erkennen ließ.
Sie schwiegen, als würde jeder für sich festlegen, wie sie miteinander umgehen sollten. Freundlich hoffte er.
»Petr«, sagte sie leise. »Du solltest dir abgewöhnen, die Leute so anzustarren.«
Er war überrascht. »Starre ich etwa?«
»Du beurteilst sie. Du beobachtest sie. Du bist jetzt ein europäischer Kapitalist.«
Er zog den Kopf ein. »Alte Angewohnheit, was?«
»Du siehst gut aus.« Sie legte den Kopf schief. »Es hat mich immer beeindruckt, wie gepflegt du dich gekleidet hast. Wenn man bedenkt.« Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Du hast dich nicht verändert.«
Er warf einen Blick auf sein Jackett, das er, tatsächlich, in Paris gekauft hatte.
»Und ich habe immer gedacht, deine Schuhe wären handgefertigt.«
»So weit wäre ich dann doch nicht gegangen.« Er grinste. »Oder doch?«
Es gefiel ihm, dass ihre Lippen als Erwiderung darauf leicht zuckten. »Nein.« Sie ließ zu, dass der Kellner ihr die Serviette auf den Schoß legte, während Petr für beide Gulasch und Kohl bestellte. Ursprünglich wollte er beim Kellner auch noch eine Flasche Wein bestellen, aber Laure hatte ihn umgestimmt, stattdessen lieber ein Bier zu nehmen.
»Das passt gut zu Gulasch und Kohl.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Hier kann man nicht mit Tuzex-Kronen bezahlen.«
»Hör auf«, sagte er leise.
Laure stichelte. In den letzten Jahren des Regimes hatten diejenigen, die von der Partei bevorzugt wurden, darunter auch die Kobes, Zugang zu den Tuzex-Läden gehabt, die unvorstellbaren Luxus verkauften – Jeans, Lego, Mandeln, Turnschuhe, Milka-Schokolade und gelegentlich auch die Schokoriegel von Hershey.
»Hat es dich nicht gestört, dass es die größte, übelste Form des Schwarzmarktes war, die es gab?«, fragte sie. »Noch dazu kontrolliert von Gaunern? Ein Einfallstor für das organisierte Verbrechen? Ich habe mich immer gefragt, weshalb die Machthaber das erlaubten, bis mir klar wurde, dass es genau das war, was sie wollten.«
»Die Regierung brauchte die harte Währung«, betonte er. »Es gibt ein ostdeutsches Pendant. Und ganz bestimmt auch ein französisches und ein britisches.«
»Und wozu brauchten sie die harte Währung?«, fragte sie leichthin. Ironisch.
Sollte er bislang Zweifel gehabt haben – was nicht der Fall war –, so war das definitiv nicht mehr die Laure von einst.
Er beobachtete, wie sich die Band am anderen Ende des Saales versammelte. Die Musiker sahen lustlos und unterernährt aus, und die ersten Noten waren misstönend.
Laure beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorn. »Am 28. November 1989 verkündete die kommunistische Partei der Tschechoslowakei, dass sie den Einparteienstaat auflösen würde. Stacheldraht und andere Hindernisse wurden an den Grenzen zu Deutschland und Österreich abgebaut. Am 10. Dezember wurde eine größtenteils nicht kommunistische Regierung ernannt, und 1990 willigte die Regierung ein, die Preise nicht mehr zu reglementieren.«
»Als Ergebnis davon ging die Arbeitslosenquote nach oben, und Sozialleistungen mussten eingeführt werden«, antwortete er trocken.
»Was ich zu sagen versuche, ist, dass das Leben sich für dich verändert haben muss, Petr. Erschreckend? Ja? Du warst nicht mehr an der Macht. Hast du die Wohnung in der Malá Strana behalten?«
»Eine Zeit lang.«
Aus vielen Gründen schreckte er davor zurück, über die Wohnung nachzudenken, doch ab und an wurde die Erinnerung daran nahezu unerträglich.
Wie Eva aufstand, nach unten in den Hof und auf die Straße ging. Weiter zum Fluss.
Der Kellner war mit voll beladenen Tellern erschienen, und Laure wartete, bis er sie vor sie hingestellt hatte. »Hast du wieder geheiratet?«
»Nein.« Er probierte eine Gabel voll und verzog das Gesicht.
Sie beobachtete ihn. »Hast du von den Kindern gehört?«
»Ich habe mit ihnen geredet, und sie sind ganz begeistert davon, dass wir uns getroffen haben. Maria meint, wenn du jemals in Paris bist, dann will sie dich sehen.«
Laure legte ihre Gabel hin. »Darf ich dich etwas fragen? Das treibt mich schon eine Weile um.« Sie blickte auf den Teller. »Evas Tod? War das schnell? Was du mir davon erzählt hast, ließ darauf schließen, dass dem nicht so war.«
»Das werde ich nicht beantworten.«
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«
»Ich kann nicht.« Er sah sich um, wollte das Thema wechseln. »Was deine Worte vorhin über meine Kleidung betrifft, so gibt es keinen logischen Grund, weshalb man schöne Sachen nicht mögen sollte, nur weil man gleichzeitig Kommunist ist.«
Laure schob ein Stück Knorpel an den Tellerrand. »Ein Kommunist darf einen König ansehen und seine Kleidung kopieren?«
»Bist du hergekommen, um mich wütend zu machen?«
»Vielleicht.« Ihr Lächeln war nachdenklich. »Das ist ziemlich verlockend.« Sie schwieg. »Du bist also bei Potio Pharma geblieben, allerdings als Geschäftsführer und nicht als internationaler Vertriebsleiter?«
»Das Gremium …«
»Das Gremium  …?«, warf sie ein. »Das klingt super.«
»Das Gremium«, wiederholte er eindringlich, »war der Meinung, ich sei der zuverlässige Typ, den man braucht, um den Wechsel von einer staatseigenen Firma in eine mit Anteilseignern zu vollziehen.«
Nach dem Gulasch bekamen sie eine Scheibe streng duftenden Käse mit kompaktem Brot serviert, und beides war erstaunlich gut. Darauf folgte eine Platte mit gräulichem Kuchen und einem Klecks Marmelade. Dieses kulinarische Meisterwerk betrachteten sie nachdenklich.
»Auf dem Menü stand Torte «, sagte Laure in einem Tonfall, der ihn an das leicht zu amüsierende Mädchen erinnerte, das sie einst gewesen war.
Petr nahm einen Probebissen. »Nenn es, wie du willst, es schmeckt schrecklich.« Er schob den Teller von sich. »Ist dein Deutsch so gut wie dein Französisch?«
»Fast. Ich habe es studiert, zusammen mit Französisch und ein bisschen Italienisch.«
Er wischte sich mit der Serviette über den Mund. »Wolltest du nicht Politik studieren? Weshalb hast du deine Meinung geändert?«
»Ob du es glaubst oder nicht, ich wollte eine Pause von der Politik.« Die Ironie war deutlich. »Und für eine Anstellung im Auswärtigen Amt brauchte ich Sprachen.« Sie spielte mit der unbenutzten Nachtischgabel herum. »Was für ein eigenartiger Zufall, dass wir uns wieder getroffen haben. Aber so etwas passiert. Das macht das Leben so interessant.« Sie sah ihn mit ihren großen Augen an. »Was machst du wirklich in Berlin, Petr?«
»Wie ich dir gesagt habe. Ich bin jetzt Geschäftsführer. Einer großen Firma. Die muss ihren Platz auf der europäischen Karte finden.«
»Und als du mich beim Empfang gesehen hast?«
Er dachte an ihr letztes Treffen und was da stattgefunden hatte.
»Das war etwas. Das gebe ich zu. Ich wollte wissen, ob …«
»Ob was?«
»Ob du mich noch immer hassen würdest.«
Es gab kein Zögern. »Tat ich.« Er hatte ein Bild vor sich, wie sie die spitzen Scherben dieses Hasses aufsammelte. »Tue ich immer noch, Petr.«
Er legte seine Serviette auf den Tisch. »Wie alles in dieser Welt altert Hass. Er fängt brennend und heiß an, ist manchmal sogar brutal. Aber letztlich wird er miefig und spröde. Stimmst du da nicht zu?«
»Oder man lernt, sich darauf zu verlassen.«
Der Kaffee wurde aufgetragen. Er war dünn, Ersatzzeugs, verbrannte einem aber fast die Zunge. Sie zündeten sich jeder eine Zigarette an und tranken ihn langsam.
Die Band spielte einen langsamen Schmusesong, und die Tanzfläche füllte sich immer mehr.
Über den Rand der Kaffeetasse sah er sie an. »Tanzen?«
Sie stand auf. »Ist es gefährlich für dich, mit mir gesehen zu werden?«
Petr schüttelte den Kopf. »Warum sollte es das sein? Wir haben eine Vergangenheit, die solide ist. Die Tschechoslowakei, die du kanntest, gibt es nicht mehr. Die Berliner Mauer ist ein Haufen Schutt. Ost und West machen gemeinsame Sache. Ich bin ein Witwer ohne Bindung. Mit dir gesehen zu werden ist inzwischen kein politisches Problem mehr.«
»Aber vielleicht ein gesellschaftliches?«
Eine Gruppe Männer wurde immer lauter. Einer von ihnen versuchte, auf einen Tisch zu klettern, und wurde von seinen Kumpanen heruntergezogen.
Sie schob sich in seine Arme. Einen unbeschreiblichen Moment lang schloss Petr die Augen.
»Ist es einfach, mit dem Westen klarzukommen?«, fragte sie. »Es gibt auf beiden Seiten bestimmt viel Misstrauen.«
»Kannst du dir vorstellen, dass wir es hinbekommen, obwohl wir solche Neandertaler sind?« Er zeigte auf einen Nebentisch mit einer Gruppe kräftiger Männer in grauen Anzügen, die einen Wodka nach dem anderen kippten. »An welche Sünde hattest du genau gedacht? Bestechung? Erpressung? Schmuggel? Die knappe Antwort lautet Ja. Es gibt viele Gelegenheiten, das Misstrauen zu wecken.«
Ihre Finger tippten im Rhythmus auf seine Schulter. »Ich halte euch Tschechen für sowohl intelligente als auch empfindsame Menschen. Genau wie die Russen. Die Ostdeutschen und die Briten sind da anders. Aber jeder will gern reich sein. Oder noch reicher.«
»Und?«
Er hielt sie vorsichtig, taktvoll fest – das Mädchen, das zur Rockmusik getanzt hatte, mit vom Sonnenbrand geröteten Wangen. Aber er hatte das Mädchen auch zusammengeschlagen und halb nackt auf dem Boden einer Zelle gesehen. Ein Anblick, der jeglichen Gedanken aus seinem Geist verdrängt hatte, mit Ausnahme des Verlangens, sie zu beschützen.
»Versuchst du etwa, mir Informationen zu entlocken, Laure?«
Ihr Rücken verspannte sich etwas. »Wenn dem so ist, dann ist das ziemlich lustig, was? Ein Wendepunkt in der Geschichte, wenn man so will.«
Die Laure von heute war viel zu gut geschult, um sich etwas anmerken zu lassen. Dann sah sie zu ihm auf und sagte leise: »Erzähl mir die Wahrheit über Eva.«
Sein Griff an ihrer Hüfte wurde fester. Suchte Trost in ihrer Schmalheit, ihrer Wärme. »Du hast recht«, sagte er. Blickte über ihre Schulter zur Band. »Eva hat sich umgebracht.«
»O Gott.« Sie schüttelte den Kopf, als hätte man ihr einen Schlag verpasst. »Das tut mir leid, so leid, so schrecklich leid.« Nach einem winzigen Moment fügte sie hinzu: »Ich fühle mit den Kindern. Und dir. Und Eva.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Wenn ich mich damals zu ihr gesetzt habe, hat sie von dir gesprochen. So oft.«
»Hat sie das?« Die Innigkeit dieses Gesprächs ließ ihn unbeholfen werden, und fast wäre er über seine eigenen Füße gestolpert.
Nach einem Moment sagte sie: »Eva hat dich sehr geliebt. Das hat sie mir gesagt. Sie war immer um dein Glück besorgt.«
»Eva war ein guter, wundervoller Mensch. Ich hatte das Glück, sie zu meiner Frau gehabt zu haben. Es war einfach nur … es ist einfach zu viel geworden.«
Bildete er sich das nur ein, oder war ihm Laure etwas näher gekommen? Fast berührte ihre Wange seine.
Sie tanzten zusammen weiter, und Petr spürte, wie ein Glücksgefühl über ihn hinwegwehte, wie ein leichter Gazeschleier.
»Es tut mir leid«, wiederholte sie. »Das Leben kann sehr grausam sein.«
Er zog sie an sich.
Sie roch nach Blumen. Ihr Körper war warm und anschmiegsam – als sollte er genau unter seiner Hand sein. Was er für sie empfand, war ein so starkes, so unabänderliches Gefühl, dass es ihm den Atem raubte.
Ohne Vorwarnung blieb sie stehen. »Sollen wir uns wieder setzen?«
Sie nahmen Platz und bestellten noch einmal Kaffee. »Lass uns nicht mehr über Eva sprechen«, sagte er, und sie nickte.
Der Abend neigte sich dem Ende zu, und er wartete auf den coup de grâce , den Gnadenstoß, auf den Grund, weshalb Laure sich mit ihm getroffen hatte.
Er kam.
Die Falten ihres missratenen Kleides waren etwas nach oben gerutscht, entblößten die lange Beine, die von dem kurzen Baumwollkleid im Sommer 1986 kaum verhüllt gewesen waren. Bei diesem Anblick rollte eine Welle des Verlangens – und der Zärtlichkeit – über ihn hinweg.
Sie faltete die Hände im Schoß. »Petr, ich weiß, dass du weißt, was Tomas zugestoßen ist. Das hast du bei unserem ersten Aufeinandertreffen in Berlin anklingen lassen. Warum sagst du es mir nicht einfach?«
Er erinnerte sich daran, wie der Wind den Rauch und den Splitt zwischen ihm und der wartenden Laure am Bahnhof direkt hinter der tschechoslowakischen Grenze aufgewirbelt hatte. »Mir ist klar geworden, dass man die Dinge am besten so belässt, wie sie sind.«
»Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Das hätte ich wissen sollen.« Sie hielt kurz inne, bevor sie weitersprach. »Du hältst so daran fest, dass nicht du derjenige warst, der Tomas verraten hat«, sagte sie hinreichend gefasst, allerdings waren ihre Knöchel weiß. »Das ist nicht die ganze Wahrheit, oder?«
Diese ganzen Jahre der quälenden Selbstprüfung. Er wollte nicht zusammenrechnen, was ihn das alles gekostet hatte. Oder sie. »Wie ich schon sagte«, erwiderte er. »Meine Familie stand auf dem Spiel.«
»Was willst du, Petr?«
Er kannte sich aus mit den kleinen Verschiebungen in den Machtspielchen zwischen den Menschen.
Er sah sie eindringlich an. Was wollte er?
Ihre Augen wurden weit.
»Hallo, ihr beiden«, sagte da eine Stimme hinter ihnen.
»Wir waren gerade hier in der Gegend«, verkündete eine weibliche Stimme, die Petr zu erkennen glaubte. »Und da seid ihr auch.«
»David. Sonia«, sagte Laure, die nicht so erstaunt wirkte, wie sie hätte sein müssen. »Erinnert ihr euch an Petr Kobes von der Party? Ich habe in Prag für ihn gearbeitet. Petr, du erinnerst dich bestimmt an meinen Boss David Brotton und seine Frau Sonia. Wollt ihr euch auf einen Absacker zu uns setzen?«
Dunkelblaues Kleid mit weißen Nähten. Die Frau von der Party.
Wie vermutet hatte Laure dieses Treffen durch das Räderwerk der Botschaft laufen und absegnen lassen, was auf sorgfältige Überlegungen und ein penibles Einhalten des Protokolls schließen ließ. Er winkte den Kellner heran.
Sonia Brotton war wieder betrunken. Noch nicht sturzbetrunken, aber auf dem besten Weg dorthin. Petr fragte sich, wie man diese Belastung aushielt und ob sie wohl der Karriere ihres Mannes geschadet hatte. Sie ließ sich neben Petr fallen und sagte: »Laure hat mir ein bisschen von ihrer Zeit bei Ihnen in Prag erzählt. Von den Marionetten und den Ausflügen aufs Land.«
Petr warf Laure einen flüchtigen Blick zu. »Die Tschechen geben sich gern als Landeier aus, insbesondere die …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… die Stadtmenschen. An den Wochenenden sind die Städte leer, jeder macht sich zu seiner chata auf. Im Sommer kann man einen Großteil seiner Zeit ganz gut dort verbringen. Die Wiesen und Wälder sind sehr beliebt. Viele unserer Geschichten und Volksmärchen spielen im Wald.«
Er empfand ein kleines bisschen Mitleid mit Sonia. Ihr Lippenstift war verschmiert, die Hand, mit der sie ihr Glas festhielt, zitterte leicht, und sie trank dieses nichtssagende Gebräu mit erschreckender Begeisterung.
»Ich erinnere mich noch an die Feuer im Freien«, sagte Laure. »Es roch immer stark nach Rauch. Die Kinder haben es geliebt. Ich erinnere mich auch noch an das Rauschen der Bäume, wenn man im Bett lag und die Fenster weit geöffnet hatte.«
Sonia ließ sich nach hinten auf den Stuhl sacken. »Ich bin müde.«
David Brotton warf einen Blick auf die Uhr. »Der Wagen kommt jeden Moment.« Er wandte sich an Petr. »Ich nehme an, dass Sie Paris gut kennen.«
»Ja. Ich habe gern dort gelebt.«
David nahm sich etwas Eis, das in einem Glas mit den Drinks gebracht worden war. »Das ist das Paradoxe. Wenn man in ein anderes Land entsandt wird, sollte man das Beste daraus machen. Gleichzeitig ist es nicht ratsam, übermäßigen Gefallen an einem Ort zu finden.«
Petrs Englisch war gut, aber nicht so gut wie sein Französisch, doch sein Hörverständnis war ausgezeichnet, und er kam auch ganz gut mit den Redewendungen zurecht. »Gibt es da nicht dieses Sprichwort, sich in die Büsche schlagen?«
»Doch, genau.« Sonias Aussprache wurde undeutlich. »Und dann tragen ein paar dieser Jungen Röcke aus Gras und stecken sich Blumen hinters Ohr. Die Generaldirektion sucht verzweifelt nach Strafen, aber was will man machen? Wenn der Sonnenuntergang einen in den Fängen hat und die Mädchen willig sind.«
»Halt den Mund, Liebling«, sagte David.
Petr dachte, dass eine Frau wie Sonia keine Ahnung hatte, und wenn sie mehr wüsste, würde sie Zeter und Mordio schreien. In der Gegend, aus der er kam, gab es Dinge, die man mit denen machen konnte, die sich in die Büsche geschlagen hatten. Oder sich in die Büsche schlugen.
Die Lektionen in Überwachung brachten einem bei, wie man Hinweise darauf erkannte, und Leute festnehmen war ein gut gehendes Geschäft gewesen. Traf man nicht auf Kooperation, gab es immer noch Scopolamin, das Wahrheitsserum. Im schlimmsten Fall Hinrichtung mit anschließender Entsorgung der menschlichen Asche in den Straßen außerhalb von Prag.
Während seiner gefahrvollen Jahre hatte man bei ihm seine Vorliebe für den Westen notiert, und er wusste, dass er damit sein Glück geschmälert hatte. Andererseits hatte er weiterhin Ergebnisse gebracht.
Er sah sich in der Lobby um. Jeder, der sie beobachtete, würde sie für vier Freunde halten, die die neue europäische Ordnung darstellten und einen gemeinsamen Abend genossen. Er sah zu Laure, die mit Sonia redete, obwohl diese inzwischen fast kein Wort mehr herausbrachte und dazu übergegangen war, Tanztitel mitzusummen.
David Brottons Aufmerksamkeit galt nach wie vor Petr. Der erste Eindruck von ihm, der eines erschöpften, wohlmeinenden Mannes, der für seine Frau einstehen musste und es niemals in eine höhere Position schaffen würde, war irreführend. »Ich bin beeindruckt von der Zahl der angesehenen Chemiker, die für Potio Pharma arbeiten.« Brotton hatte seine Hausaufgaben gemacht. »Die Arbeit an Virostatika wird die moderne Medizin verändern.«
Seine Bewunderung war ehrlich. Petr lächelte. »Die Tschechische Republik ist sehr stolz auf Doktor Holý und die anderen.«
»Doktor Holý ist führend beim Kampf gegen Aids, Pocken, Hepatitis B und Herpes Zoster. Das heißt schon was. In der Vergangenheit hingegen …«, merkte Brotton vorsichtig an, »war die öffentliche Gesundheit stark gefährdet, denke ich.«
Er bezog sich auf eine Zeit, als die Konzentration der giftigen Schwefeldioxide in der Luft über Nordböhmen zehnmal höher war als der zugelassene Grenzwert.
»Wie Sie sagen, das liegt in der Vergangenheit.«
»Sollte Potio Pharma vorhaben zu expandieren, dann würde ich gern mehr über Ihre Arbeit an Virostatika wissen.«
Ach tatsächlich , dachte Petr. Als es der Föderation der europäischen kommunistischen Ländern verboten war, mit dem Westen zu handeln – mit dem Ergebnis, dass es dort keine harte Währung gab –, war es mit der Produktion schwierig gewesen. Jetzt starteten sie so richtig durch.
»Sicher doch.« Er umriss ausreichend nachvollziehbar ein Programm, das von der Firma eingeführt wurde, ließ dabei aber Details aus, die für die Briten nützlich sein könnten. Wenn die Briten eine Parität in der Partnerschaft wollten, würden sie dafür bezahlen müssen.
Brotton verstand das voll und ganz. Mit einem Seitenblick auf Sonia sagte er: »Ich glaube, es ist Zeit, ins Bett zu gehen.« Er stand auf. »Wenn Sie das nächste Mal in Berlin sind, dann melden Sie sich.«
Sie verabschiedeten sich, und die Brottons gingen. Laure machte sich bereit, ihnen zu folgen. »Petr?«
Er sah sie an und dachte daran, wie sie in Prag gewesen war. Damals hatte sie darauf gewartet, dass sich ihre Zukunft vor ihr ausbreitete, und dieser freudige, neugierige Ausdruck hatte ihn zutiefst berührt. Außerdem hatte ihm auch ihre Fähigkeit gefallen, die witzige Seite der Dinge zu erkennen, und er hatte beobachtet, wie sich die Trauer um ihren Vater in Lebensfreude verwandelt hatte. Sie hatte damals den Eindruck vermittelt, als stünde sie kurz davor, eine Entdeckung zu machen. Und mit ihrem Liebesabenteuer kam das Strahlen.
Er hatte sie darum beneidet, sich danach verzehrt, danach gegiert.
»Du musst mir das von Tomas sagen. Du musst es mir sagen.«
Es war nach Mitternacht, als Petr zum Hotel zurückkam und sich für den nächsten Morgen ein Taxi zum Flughafen bestellte.
Brotton hatte gute Arbeit geleistet, als er ihn in die Mangel genommen hatte, ohne es danach aussehen zu lassen, und er hatte es ihm mit gleicher Münze zurückgezahlt. Ganz bestimmt war der andere ebenso erschöpft wie er.
Laure war nicht dumm. Sie hatte recht, als sie sagte, die Tschechen seien intelligente Menschen. Sie hatten einen Riecher für Gelegenheiten, um aus ihren neuen Systemen politisches und finanzielles Kapital zu schlagen, selbst wenn sie noch nicht genau wussten, in welche Richtung es weiterging. Ganz bestimmt interessierte sich der Westen für ihr Erscheinen.
Als er durch die Lobby zum Aufzug ging, bemerkte er eine Frau in einem violetten Viskosekleid, die bedächtig einen Drink zu sich nahm und sich die größte Mühe gab, Petr davon zu überzeugen, dass sie nicht auf ihn fokussiert war. Sie war mittleren Alters und sah fast schön aus, aber ihre langen Haare, die sie zum Dutt hochgesteckt hatte, waren viel zu stark gefärbt. Ein Spitzel? Das wäre niemand mehr von der Partei, aber vielleicht vom neuen tschechischen Staat, der darüber wachte, dass seine Industriegeheimnisse gewahrt würden. Oder vielleicht die Briten? Nein, sicher nicht. Ein konkurrierender Pharmakonzern?
Vielleicht saß auch die Angewohnheit, nach Spitzeln Ausschau zu halten, zu tief?
Sollte sie ein Spitzel sein, dann war sie darin nicht sehr gut, weil man sie so einfach ausmachen konnte. Er drückte auf den Knopf für den Aufzug und nickte ihr zu. Sie zuckte zusammen, leichte Röte überzog ihre Wangen. Er spielte mit dem Gedanken, sie zu fragen, ob sie mit ihm aufs Zimmer kommen wolle, entschied sich aber dagegen. Sollte sie wirklich auf ihn angesetzt sein, könnte das dazu führen, dass sie abgezogen wurde, und das wäre schade, schließlich konnte er sie so einfach erkennen.
Er ließ sich auf das Bett fallen und drückte eine Hand zu jeder Seite seines Körpers in die Matratze. Irgendwann würden beide Seiten den Schein nicht länger aufrechterhalten und einfach zugeben müssen, dass sie dem jeweils anderen so viel Informationen entlocken wollten, wie sie nur konnten. Dann könnten sie einander in die Arme fallen und ihre Liebe beteuern.
Er schlug die Bettdecke zurück und legte sich hin.
Er dachte an seine Frau.
Dank der Betreuung im Sainte-Anne-Krankenhaus in Paris hatte Eva sich im Griff gehabt.
Als sie von Paris nach Prag zurückgekommen waren, war dem nicht mehr so. Die Tiefs wurden schlimmer. Die Höhenflüge führten zu häufigen Halluzinationen und der Weigerung, zu essen oder zu schlafen. Die finstere Faser einer Psychose, verwoben mit ihrer Familiengeschichte, reichte weit zurück, wie er inzwischen wusste, und war nach Marias Geburt zum Vorschein gekommen.
»Es tut mir so leid«, hatte sie nach jedem Vorfall gesagt. »Es tut mir so leid, Petr.«
Vergib mir.
Er erinnerte sich an die Versprechen, die sie einander gegeben hatten. Einander zu respektieren. Einander zu lieben. Eine gute Ehe zu führen. Ehrlich zu sein.
»Ich hasse dich dafür, dass du mir das nicht gesagt hast«, hatte er einmal zu ihr gesagt, als sie sich wie ein verletztes Tier wand. »Denk an das Risiko, das wir damit eingegangen sind, dass wir Jan und Maria bekommen haben.«
»Bitte«, flehte sie. »Sag das nicht.«
Er dachte daran, wie sie war, als sie sich kennenlernten. So frisch, vielversprechend und genau wie er mit dem Verlangen nach Sex, Glück in einer Partnerschaft und der Bereitschaft, sich auf einen jüngeren Mann einzulassen.
Im Gegensatz zu Paris war es in Prag schwierig, die richtigen Medikamente zu bekommen, wenn Eva sie am dringendsten brauchte. Das bedeutete, dass Eva immer mehr auf ihr Schlafzimmer beschränkt war, was die Anstellung von Laure umso notwendiger gemacht hatte.
Es war heiß gewesen, ein wahnsinnig heißer Sommer.
An den meisten Abenden wirbelte Eva in der Küche herum, in dem Versuch, eine Mahlzeit zustande zu bringen. Sie trank viel. »Bei aller Liebe zu Marx …« »Marx« wurde mit extremem Sarkasmus vorgebracht. »… gesteh mir etwas Entlastung zu.« Sie ging früh zu Bett und ließ ihn häufig mit Laure allein.
Das waren die Momente der Ruhe gewesen, zwischen den bitteren Episoden von Manie und Depression, in denen Eva versucht hatte, alles zusammenzuhalten, und sich für das entschuldigte, was aus ihr geworden war. Zu diesen Zeiten war es ihm unerträglich gewesen, sich anzuhören, wie sie sich mit Erklärungen abmühte, um zu beschreiben, wie es sich anfühlte, mit innerem Zerfall zurechtzukommen.
»Es ist, als wäre nichts von mir übrig. Als wäre nichts in mir drin.«
»Ich habe dich enttäuscht.«
»Ich habe Angst.«
Er hatte immer Angst, die Kinder könnten sie hören, und gab sich die größte Mühe, sie zu schützen. Die Rückkehr nach Prag war besonders schrecklich gewesen. Prags Golem hatte Eva an der Kehle gepackt, und die Errungenschaften aus Paris waren wie weggewischt.
»Ich sollte sterben.«
Das sagte sie ziemlich häufig, wenn sie sich von einer Tiefphase erholt hatte.
Einmal – dieses eine Mal – waren sie im Badezimmer und machten sich gerade bettfertig.
»Tu das nicht, Eva.«
Ihr Blick wanderte hin und her, und er wusste, dass etwas drohte. Instinktiv sagte er sich, dass er sie aus dem Bad bringen musste. Zu spät, Eva hatte bereits seinen Rasierer vom Regal genommen und war schon aus der Tür.
Er hoffte inständig, dass die Kinder schliefen, als er ihr ins Schlafzimmer hinterherrannte. Sie stand am Fenster, hielt den Rasierer in der rechten Hand, über ihrem linken Handgelenk. Als er hereinkam, drehte sie sich zu ihm um. Ihr Gesicht war leichenblass, die Ringe unter ihren Augen dunkel und ihr Körper unter dem Nachthemd durch die Medikamente aufgedunsen.
»Ich hasse mich.«
»Wenn ich dir egal bin, dann denk wenigstens an Jan und Maria.«
Eva hörte ihm nicht zu. Hatte sie schon lange nicht mehr. Auch niemand anderem. Was auch immer in ihr steckte – ein Dämon –, es hatte ihre Gedanken gekapert, ihren Geist, ihre Gefühle.
Er war angespannt. Bereit.
Sie hechtete zur Tür. Er sprang zu ihr, warf sie aufs Bett und drückte sie nach unten.
»Stop!«, schrie Eva.
Er packte sie an den Handgelenken, doch sie wand sich und stemmte die Fersen in die Matratze. Ihre Hände waren feucht, genau wie seine, und er konnte sie nicht richtig festhalten. Sie bekam ihre Hand mit der Rasierklinge frei, riss sie hoch und schlitzte ihn am Unterarm auf.
Der Schmerz war überraschend. Gleich darauf erschien eine rote Linie, die zu einem Rinnsal wurde. Wut wallte in ihm auf, verlieh ihm noch mehr Kraft. Er drückte Eva nach unten, und es gelang ihm, sie an den wild um sich schlagenden Arme zu packen und festzuhalten.
In dieser Position beruhigte sie sich, rollte sich mit ihrem blutbefleckten Nachthemd auf die Seite und fragte die Wand: »Wie lange noch?«
Keuchend stand er auf und öffnete eine Schublade. Ließ den Rasierer hineinfallen und nahm sich ein Taschentuch, das er sich mehr schlecht als recht um den Arm band.
»O Gott«, sagte er. Es war die Anrufung einer Gottheit, an die er nicht glaubte.
Auch Eva keuchte, rührte sich aber nicht mehr, wehrte sich nicht mehr.
Er beugte sich über sie, küsste sie auf die Schulter, ein Friedenskuss, der besagte: Dieses Mal liegt hinter uns. Dann sah er auf und entdeckte Laure, die vom Türrahmen aus zu ihnen schaute.
Sie war wie erstarrt. Vor Schrecken? Angst? Unglauben?
Wohl alles zugleich.
Warum hatte Laures Gegenwart ihn in diesem Sommer in Prag so sehr berührt? Er vergötterte seine Kinder, sein Job war anstrengend und ließ nur wenig Zeit für anderes. Er hatte auch Eva vergöttert. Auf seine Art. Er war jemand, der sein Bestes gab, um seine Haltung – in moralischer, philosophischer und praktischer Hinsicht – für sich zu klären, und war seinen Verpflichtungen nachgekommen.
Rückblickend jedoch musste er einräumen, dass es ihm nicht gelungen war, die Widersprüche in sich selbst zu erkennen.
Er verbarg sein Gesicht in den Händen und tat etwas, das er schon sehr lange nicht mehr getan hatte. Nicht, seit er das Foto von den Kindern und ihm vor dem Eiffelturm in die Hand genommen hatte, das Eva ihm zurückgelassen hatte.
Er weinte.