23
Paris, heute
Das festliche Mittagessen im Maison de Grasse war genau so genusssüchtig und stilvoll, wie May es sich gewünscht hatte. Während Laure Mays Reaktionen beobachtete, wurde sie daran erinnert, dass es gesund und angenehm war, sich an Luxus zu ergötzen.
»Es ist wunderschön«, sagte May, als sie den Raum sah, in dem das Festessen stattfinden würde. »So wunderschön … dass es wehtut.«
Die betörend duftenden Blumen – Lilien, Orangenblüten und Hortensien – waren aus Südfrankreich eingeflogen worden. Ein Bogen aus diesen Blüten befand sich über dem Eingang zum Saal. Ansonsten waren sie überall auf den Tischen und in jeder freien Ecke verteilt. Das verlieh dem Raum eine außergewöhnliche Atmosphäre.
Die Tische waren exquisit, jeder einzelne ein Traum aus weißem Tuch, Silber und Blumen. Neben jedem Gedeck stand eine Flasche vom teuersten Parfum von Maison de Grasse mit einem Sträußchen Kräuter, darunter auch Rosmarin. »Zur Erinnerung«, informierte Laure May.
»Tja, genau darum geht es bei Ihnen, nicht wahr?«, antwortete sie.
Als sich Laure nach dem Essen, bestehend aus Wildlachs und Vacherin mit Johannisbeeren, erhob, war ihr das Publikum wohlgesinnt Es war die Art Freundlichkeit, die fantastischem Essen, Champagner und der Magie von weißem Burgunder entsprang.
»Dies ist ein ganz besonderer Moment«, fing sie an. »Tatsächlich ist es der Tag, an dem sich zwei Seiten unserer Kultur begegnen. Die eine, die herstellt und produziert …«, sie machte eine elegante Verbeugung in Richtung des wichtigen Tisches von Maison de Grasse, »und die andere, die bewahrt.« Sie zeigte auf den Tisch, an dem Nic, May, Simon, die Anwälte und die Treuhänder saßen.
Sie war öffentliche Auftritte und Reden gewohnt, und in der Regel hatte sie alles im Griff. Aber dies war ein Moment, auf den sie hingearbeitet und den sie gestaltet hatte, und sie stand kurz davor, von ihren Gefühlen übermannt zu werden. »Wie viele von Ihnen gehe auch ich davon aus, dass Museen eine Faszination ausüben. Als Kind habe ich ein Knopfmuseum errichtet. Knöpfe waren das Einzige, was ich sammeln konnte. Meine langmütige Familie musste ein Sixpencestück bezahlen, um es zu besuchen. Damals lernte ich, dass die Leute sich gern Gegenstände ansehen, insbesondere wenn die Idee des Kurators hinter der Anordnung eine Erklärung dafür liefert, eine Kohärenz und Verbindung. Wen könnten die Gemälde auf einer Kuchenform, welche die Sehnsüchte einer gefangenen Hausfrau darstellen, unberührt lassen? Oder das Bild eines Grabes in den spanischen Bergen mit der Inschrift: ›Du hast versprochen, kein Risiko einzugehen.‹ Das Besondere am Museum der unerfüllten Versprechen sind die Erklärungen. In den meisten Museen liefert der Experte die Informationen. In unserem sind Sie es, das Publikum, welches diese Aufgabe übernimmt. Unser Museum verleiht den Menschen eine Stimme, wie das nur bei wenigen anderen Institutionen der Fall ist.«
Durch die Blumen lächelte Nic ihr ermutigend zu. Er wusste, wie die Rede weiterging.
»Jede Kultur braucht ihre Museen, und ein Land ohne Museen ist ein Land, das seine Vergangenheit wissentlich oder unabsichtlich zerstört. Das ist immer ein Zeichen für Gefahr.« Sie machte eine lange Pause. »Von daher könnte man behaupten, dass Museen gleichermaßen politische wie kulturelle Einrichtungen sind …«
Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass ihr das Publikum nur noch wenige Minuten Aufmerksamkeit schenken würde.
»Warum ein Museum, das sich den unerfüllten Versprechen widmet?« Sie sah direkt zu einer der schickeren Frauen mit aufwendig nach hinten gegeltem Haar und minimalem Make-up. »Wer von uns wurde in seinem Leben noch nicht mit einem unerfüllten Versprechen konfrontiert? Entweder haben wir eines gegeben und es gebrochen. Oder jemand hat uns etwas versprochen und es nicht gehalten. Die daraus resultierenden Konsequenzen können lustig sein, tragisch, flüchtig oder lebenslang andauern. Egal, wie unbedeutend oder elementar, diese unerfüllten Versprechen sind wichtig.« Sie machte sich für das Finale bereit. »Außerdem gibt es durchaus die Möglichkeit, dass ein Versprechen, das man als unerfüllt erachtet hatte, tatsächlich gar nicht unerfüllt war. Aber es braucht Zeit, um so etwas zu erkennen. Wer weiß? Die Überlegungen zu einem Ereignis und dessen Interpretation können vielseitig sein, und während wir reifer werden, verändert sich der Blickwinkel. Das ist einer der Gründe, weshalb die Gegenstände bei uns im Museum regelmäßig ausgetauscht werden.«
May warf Nic einen kurzen Blick zu.
Der Lilienduft schwebte durch den Raum. Jemand hustete.
»In meinen Augen ist eine Sache zutreffend: Wir tun uns schwer damit, dass alles irgendwann endet – Freude, Schmerz, das Leben selbst. Doch während wir hier sind, spendet das Einhalten eines Rituals, das Vollführen einer formalen Geste, Trost und ermöglicht Kohärenz. Spendet man dem Museum der unerfüllten Versprechen etwas, wo die Gegenstände pfleglich, ehrfürchtig und mit etwas Humor behandelt werden, kann dadurch ein Heilungsprozess angeschoben werden. Die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, sind nicht immer durch und durch wahr. Oder es gelingt uns nicht, wahrhaftig zu sehen, was wir getan haben. Das Museum bietet die Möglichkeit, dass sich ein Erlebnis setzen kann, damit …«, sie sprach langsamer weiter, »die Wahrheit klarer wird.«
Sie machte eine Pause, plötzlich ergriffen von der Erinnerung an eine zähnefletschende Panik und Furcht. An Wegrennen. An den Schmerz in ihrer verletzten Hand. Weinen.
Die Erschöpfung, ein gebrochenes Herz zu haben.
»Das alles sage ich, weil ich weiß …« Ihre alte, aufwühlende Geschichte fand Worte, »weil ich aus eigener Erfahrung weiß, was es bedeutet, ein Versprechen nicht zu erfüllen.«
Unter frenetischem Applaus nahm sie wieder Platz.
An diesem Abend bestellte sich Laure nach der Arbeit ein Taxi, das sie zum Canal Saint-Martin bringen sollte. Nach diesem Luxus musste sie sich in den Straßen, in denen das Leben gewöhnlicher und härter war, wieder erden. Sie machte einen Abstecher zu Chez Prune , bestellte sich einen doppelten Espresso und trank ihn dankbar. Er war etwas bitter, aber das war jetzt gerade richtig für sie.
Chez Prune war voll, und sie grüßte ein paar Leute, bevor sie ging. Sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen, und verweilte etwas auf der Brücke über dem Kanal; sie befand, dass das Wasser klarer und weniger vermüllt aussah.
Jeden Tag wurden die Zelte am Ufer zahlreicher. Die verkrachten Existenzen und Opfer des Kapitalismus. Diese Ironie entging Laure nicht.
Sie wandte sich nach Norden, nahm den langen Weg, vorbei an sich schälenden Platanen, dem Tabakladen, dem Lebensmittelladen, der alten Gerberei an der Ecke mit den rostigen Eisenbeschlägen und dem mittelalterlichen hôpital .
Als sie um die Ecke bog, wäre sie fast mit einem jungen Pärchen zusammengestoßen. Sie trug Shorts, er eine Cargohose. Beide hatten einen Rucksack auf. »Ich weiß nicht, wo wir sind«, sagte er auf Englisch. »Wir haben uns verirrt.«
Das Mädchen machte sich nicht die Mühe, sich umzusehen, sondern holte ihr Handy aus der Hosentasche. »Google weiß es.« Gemeinsam starrten sie auf den kleinen Bildschirm, nahmen Laure, die an ihnen vorbeiging, gar nicht wahr.
Ich habe Paris im Blut, dachte sie, und es war ein überaus befriedigender Gedanke. Hier werde ich alt werden.
Zurück in ihrer Wohnung, ließ sich Laure aufs Sofa sinken. Das Fenster stand offen. Sie hatte es offen gelassen in der Hoffnung, dass Kočka vielleicht zurückkam, aber es wurde langsam frisch, in wenigen Minuten würde sie es schließen.
Ihr Handy klingelte mehrmals, aber sie ignorierte es jedes Mal. Sie hatte es sich verdient und würde sich den Luxus der Stille gönnen.
Nach einer Weile stand sie auf und schloss das Fenster. Sie war gebeten worden, ihre Rede in einen größeren Artikel umzuformulieren, der in einer Kunstzeitschrift veröffentlicht werden sollte, und so setzte sie sich an den Tisch und klappte den Laptop auf.
Ein schrecklicher Schrei von draußen unterbrach sie, und sie hastete zum Fenster. Im Innenhof stand Madame Poirier und schlug mit einem Staubwedel auf eine kleine Gestalt ein, die unter dem Busch mit den weißen Blüten kauerte.
In Windeseile hastete Laure aus der Tür und die Treppe hinunter. »Madame, hören Sie auf! Hören Sie sofort auf!«
Madame Poirier stützte eine Hand in die Hüfte. »Pardon?«
Aber Laure beachtete sie nicht. Sie war auf allen vieren neben dem Etwas, an dem Madame Poirier sich ausgetobt hatte. »Kočka«, rief sie aus, »Kočka, du bist zurückgekommen!«
Der gequälte Blick der Katze heftete sich auf Laure. Sie war abgemagert, vielleicht auch verletzt, und zu schwach, um sich zu regen.
Laure stieß einen Schrei aus, als sie sie hochhob. Kočka stank nach Müll, weiß der Himmel, wonach sonst noch, aber nie zuvor war Laure so dankbar gewesen, jemanden oder etwas zu sehen. »Du bist zurückgekommen. Obwohl du dich kaum rühren kannst, bist du zurückgekommen.«
»Wenn Sie die Katze mit in die Wohnung nehmen, muss ich eine Beschwerde beim Besitzer einreichen«, sagte Madame Poirier.
Kočkas Kopf lag in Laures Armbeuge. »Dann tun Sie das.«
»Sie werden ausziehen müssen.«
»Dann ziehe ich eben aus. Aber die Katze bleibt heute Nacht bei mir.«
Sie ging zurück in ihre Wohnung, knallte die Tür mit dem Fuß zu und trug Kočka zu dem Kissen, auf dem sie zuvor schon einmal geruht hatte, und legte sie vorsichtig ab.
Kočka blinzelte, streckte sich leicht und machte es sich bequem. Laure holte Wasser und ein paar der Katzenkekse, die sie ihr nacheinander gab. »Und dann geht es zum Tierarzt«, sagte sie. »Gleich morgen.«
Sie setzte sie auf die Fersen und begriff schließlich, dass ein Wandel – und ein Abschluss – stattgefunden hatten. »Es sieht ganz so aus, als würdest du jetzt mir gehören.«
Es klopfte an der Tür.
May stand davor, in der Hand einen teuer eingeschlagenen Blumenstrauß. »Der Rottweiler, der hier als Concierge fungiert, hat mich gebeten, Ihnen die hier hochzubringen. Sie wurden vorhin für Sie abgegeben. Zumindest glaube ich, dass sie das gesagt hat. Sie sah wütend aus.«
Laure betrachtete den Strauß. Orangefarbene Rosen … orangefarbene Rosen?
Das war nicht ihre Lieblingsfarbe. Es verwirrte sie.
»Nic hat Ihre Rede für mich übersetzt«, sagte May. »Ich habe gesehen, wie sie Ihnen aus der Hand gefressen haben. Eine der Frauen weinte, die eine mit den kurzen Haaren.«
»Danke.« Sie machte keine Anstalten, May hereinzubitten, konnte sich eine kleine Stichelei aber nicht verkneifen. »Ich denke, es hat Ihnen gefallen?«
»Das war so clever . Ich kann es kaum erwarten, meinen Leuten zu Hause davon zu erzählen.«
»Dann reden Sie also mit Ihrer Mutter?«
»Nein. Nicht mit Miss Melia.«
So langsam kannte Laure May etwas besser und war sich ziemlich sicher, dass die Schnippischkeit des letzten Kommentars nur ihre Wut maskierte. Sie ließ das extravagante schwarz-weiße Band, mit dem der Strauß zusammengebunden war, durch ihre Finger gleiten. »Es geht mich zwar nichts an, aber vielleicht sollten Sie das tun. Immerhin ist sie Ihre Mutter
May schien ganz fasziniert von den Blumen. »Ich habe länger, als Sie sich vorstellen können, darüber gegrübelt, ob ich mich bei einer Mutter, die mich einfach nur hasst, einschmeicheln soll oder nicht.«
»Ist es Hass?«, warf Laure ein.
»Tja, Gott würde es sicherlich nicht als Gleichgültigkeit einordnen. Und es ist keine Liebe. Also ist es wohl Hass. Früher einmal ist mir das übel aufgestoßen, inzwischen nicht mehr. Aber …« Mays Gesicht verfinsterte sich. Dann grinste sie. »Es gibt andere Menschen, die mir zuhören können. Und das tun sie auch.«
Sie drückte sich noch immer in der Tür herum, sprichwörtlich auf den Zehenspitzen und quasi in den Startlöchern. »Ich habe Fragen. Wichtige Fragen. Bedeutsame Fragen.«
Was Laure jetzt auch machte, alles wäre verkehrt. »Fünf Minuten«, sagte sie und trat zur Seite. »Sie setzen sich, dann stehen Sie auf und gehen wieder. Kein Herumschnüffeln.«
Als sie ins Wohnzimmer kam, juchzte May leise. »Die Katze ist wieder da. Das ist ja toll.«
Laure legte den Strauß auf den Couchtisch. Sie hatte das Gefühl, dass etwas, das sie lange tief in sich vergraben hatte, herausgerissen wurde. Sie wusste nicht, ob das nun ein natürlicher oder unnatürlicher Prozess war, nur, dass Kočka der Auslöser dafür war.
»Fünf Minuten«, rief sie May in Erinnerung.
May setzte sich Laure gegenüber. »Ich möchte mit Ihnen ins Reine kommen. Ich bin gut in dem, was ich tue, und normalerweise komme ich allem auf den Grund. Aber bei Ihnen bin ich noch nicht so weit. Wir schleichen um die Fragen herum. Das ist ebenso sehr mein Fehler wie Ihrer, aber ich mag Sie sehr gern, Laure.«
»Sie meinen, Sie mögen Nic«, warf Laure ein.
»Ja. Ich mag Nic.« Sie beugte sich vor. »Also dann: Warum haben Sie eine vielversprechende Karriere in der Botschaft aufgegeben? Das soll keine Wertung sein, es kommt mir einfach nur komisch vor. Wurden Sie gefeuert?«
»Nein, wurde ich nicht.«
Tatsächlich hatte Laure sich selbst entlassen. Petr hatte mit seiner Einschätzung richtiggelegen – das musste sie ihm lassen. Dieses Leben als halb verdeckte Ermittlerin der Botschaft, von dem sie gedacht hatte, es würde einen Sinn ergeben, war nicht das gewesen, was sie geglaubt hatte, sondern hatte nur zu dem Chaos aus Bedauern und Schuldzuweisung beigetragen, das sie mit sich herumtrug. Da hatte sie sich verkalkuliert.
May hakte weiter nach. »Ich weiß, dass Sie vermutlich in einer niederen Stellung für den Geheimdienst in Berlin gearbeitet haben. Wer hat da nicht gearbeitet?«
»Wir sind fertig miteinander, wir beide«, hatte sie Petr gesagt. »Fertig.«
»Als ich in Berlin gearbeitet habe, musste Deutschland gerade wieder zusammenfinden. Überall wurden Insiderinformationen ausgetauscht. Normale Bürger, Geschäftsleute, Einzelhändler. Daran ist nichts ungewöhnlich. Bei einem solchen Umbruch versuchen die Menschen herauszufinden, wozu sie in der Lage sind. Das müssen sie.«
Das bedeutete, dass sie David Brotton darüber informiert hatte, was Petr machte, worin seine Tätigkeit bestand. Zumindest über das, was sie herausgefunden hatte.
»Sie hatten keine schöne Zeit in Prag.«
»Sie haben keine Grundlage für eine solche Annahme«, erwiderte Laure schroff.
»Aha«, sagte May. »Hatten Sie also.« Sie rutschte auf dem Stuhl herum. »Was halten Sie davon: Sie gehen nach Prag, strahlend, neu und unschuldig. Dann passiert dort etwas. Vermutlich ein Mann? Oder eine politische Erschütterung?«
»Die Tschechoslowakei war ein kommunistisches Land. Natürlich war es dort anders.«
»Also kämpfen zwei Systeme, Kommunismus und Kapitalismus, in Ihnen?«
»May, Sie sollten Romane schreiben.«
»Ihre Zeit dort hat Sie aufgewühlt, vielleicht auch erschreckt oder angewidert, also wagen Sie sich in diplomatische Gewässer vor. Allerdings ein bisschen halbherzig. Und Sie sind noch immer aufgewühlt, etwas nagt weiterhin an Ihnen. Also versuchen Sie es mit etwas anderem …«
Laures Handy klingelte. Es war Simon, den sie in den letzten vierundzwanzig Stunden vergeblich zu erreichen versucht hatte. »May, da muss ich rangehen.«
Simons Stimme in ihrem Ohr. »Dein unbekannter Sponsor zieht sich zurück. Seine oder ihre Gründe? Er oder sie hat das Gefühl, dass das Museum inzwischen gut etabliert ist und problemlos andere Fördermittel bekommen kann.«
Laure sah auf den Ausschnitt der Dachlandschaft, den sie durch das Fenster erkennen konnte. Die Dinge veränderten sich. Wie immer. Erfreut stellte sie fest, dass die Vorstellung, sich in neue Optionen für das Museum hineinknien zu müssen, in die ganzen Meetings, um einen Weg nach vorn zu finden, und die Unmenge an Unterlagen, die vorzubereiten waren, sie nicht deprimierte. »Wir sind unglaublich dankbar. Können wir irgendetwas tun, um ihm oder ihr zu danken?«
Er kicherte. »Deinen Körper anbieten?«
»Ihr oder ihm?«
»Mal sehen, was ich machen kann«, sagte er.
Sie beendete das Telefonat. Als sie das Handy auf den Tisch legte, fiel ihr Blick auf die orangefarbenen Rosen und die Ringel des teuren Bandes.
O Gott. Eine Erinnerung drängte an die Oberfläche.
Sie riss die Plastikfolie auf, in die die Rosen eingehüllt waren, um die Begleitkarte zu lesen.
May sah von ihrer nächsten Frage ab und fragte stattdessen: »Alles in Ordnung?«
Vor Schock war Laure ganz starr. May beugte sich zu ihr und nahm ihr die Karte aus der Hand. »Sind es schlechte Nachrichten? Kann ich helfen? Brauchen Sie etwas?« Ihr Blick schweifte durchs Zimmer. »Wasser?«
»Nein.«
»Hat es etwas mit dem Foto zu tun, das euch geschickt wurde? Nic meinte, es hätte Sie aus der Bahn geworfen.«
»Nein.«
Das stimmte so nicht ganz.
»Hat es etwas mit dem Museum zu tun?«
Laure presste ihre Handflächen aneinander. In ihrem Inneren kämpften Stimmen aus einer anderen Welt miteinander. Waren manche von ihnen Geister? Verzweifelt. Trotzig. Lustig. Geschmacklos.
Aber nicht die eine, nach der sie sich seit so vielen Jahren sehnte.
»Laure?« May klang ängstlich. »Soll ich jemanden holen?«
Laure beugte sich vor und legte die Karte auf den Tisch. »Wissen Sie, was darauf steht?« May schüttelte den Kopf, und Laure übersetzte aus dem Französischen. »›Ich habe meine Schulden beglichen.‹«
»Das klingt nach Altem Testament«, sagte May.
Laure zwang sich, tief und langsam zu atmen, damit sich ihr Magen beruhigte. May setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. »Kommen Sie«, sagte sie. »Lehnen Sie sich einfach an mich.«
Und genau das tat Laure, fand in Mays dünnen, geschmeidigen Armen erstaunlichen Trost.
»Was ist passiert?«, fragte May. »Etwas ist doch passiert.«
Laure tat sich schwer, eine Antwort herauszubringen. »Nichts.«
»Himmel noch mal, das ist nicht nichts. Das kann nicht nichts sein. Ihr Gesicht hat eine Farbe wie die Laken in meinem schäbigen Hotel, und Sie sehen aus, als müssten Sie sich gleich übergeben. Das ist wohl etwas.«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, sagte Laure.
»Doch, können Sie«, sagte May. Sie legte Laure die Hände auf die Schultern. »Sie können
Laure blickte in die blaugrauen Augen und sah die Komplikationen, die sich dahinter verbargen. »Ich kann Ihnen nicht vertrauen.«
Mit schiefem Lächeln sah May sie an. »Doch, für ein paar Stunden können Sie das.«
***
Erst sehr spät an diesem Abend verließ May Laures Wohnung.
Laure saß regungslos auf ihrem Stuhl. Erschöpft. Leer?
Sie hatte ihre Geschichte der Person erzählt, bei der sie es sich am wenigsten vorgestellt hätte.
Zum Schluss meinte May: »Es ist nicht verwunderlich, wie Sie sich fühlen.«
Woher wollen Sie das wissen? , hätte Laure fast gefragt, aber etwas in Mays Mimik stellte sich diesen Worten in den Weg.
May las Laures Gedanken. Weil für mich auch nicht immer alles glattlief.
Sie hatte darauf gedrängt, die halb volle Flasche Brandy zu holen, die in einem Regal in der Küche verstaut war, und ihnen beiden einen ordentlichen Schluck einzuschenken.
Der Alkohol löste ihre Zunge, und Laure hörte sich selbst beichten: »Wenn man einen solchen … Ausbruch erlebt … ist es hinterher schwierig, vielleicht sogar unmöglich, sich irgendwo niederzulassen. Zumindest war es das für mich. Auf jeden Fall habe ich mir selbst nicht mehr vertraut. Wissen Sie, ich war eine Weile verheiratet. Aber das hat für mich nicht funktioniert. Ich bedauere das und auch, dass ich nicht mehr dazu beisteuern konnte. Doch mit etwas Glück findet man einen Ersatz.« Sie breitete die Arme aus. »Und das habe ich.«
May nickte, dann fragte sie: »Eigenartig, dass Sie niemals versucht haben herauszufinden, was mit allen passiert ist. Warum?«
»Das habe ich.«
May wirkte skeptisch. »Insbesondere jetzt. Es gibt so viele Möglichkeiten, Menschen nachzuspüren, Ereignissen, der Wahrheit. Wie Ihr rätselhafter Sponsor das offenbar getan hat. Vielleicht …« Sie warf einen Blick auf ihr leeres Glas. »Vielleicht wollten Sie es nicht herausfinden? Nicht unbedingt.«
Laure hatte keine Antwort darauf.