26
Laure wachte um 6 Uhr morgens auf. Die Kinder schliefen noch, und dieser Moment zwischen ihrem Aufwachen und dem Aufwachen der Kinder gehörte ganz allein ihr.
Ihr Nachthemd war ihr bis zur Hüfte hochgerutscht. Sie rollte sich hin und her, während sie es wieder nach unten zog, fuhr sich mit der Hand über den Bauch, der angenehm flach war, und ließ sie auf dem knochigen Höcker ihrer Hüfte liegen.
Die Tage hatten sich aneinandergereiht wie Perlen auf einer Schnur, und sie stellte sich jeden einzelnen als eine Farbe vor. Rot für Leidenschaft, Blau, um den zweiten sonnenüberfluteten Ausflug zur chata , die Tomas so sehr mochte, zu kennzeichnen. Grün für den Song, den Tomas schrieb und komponierte, während sie nackt in seinem Bett lag und zusah. Schwarz für die Marionetten: die Wassergeister, die Prinzen und Prinzessinnen, die Fratzen und Prügelknaben und ihre Metamorphose, wenn sie vor ihren ungläubigen Augen zu rätselhaftem Leben erwachten.
Die Perlen waren gezählt, und der Herbst stand vor der Tür. Die Nächte wurden kühler, die Sonne war weniger kräftig.
Warum liebte Tomas sie?
Diese Frage blieb immer dieselbe, wie ein Pulsschlag, der zusammen mit dem in ihrem Handgelenk pochte. Vor einer Weile hatte sie für sich beschlossen, dass das eine Frage war, die nicht gestellt werden sollte, geschweige denn beantwortet, doch wie viele solcher Grübeleien war auch diese ungehorsam.
Er liebte Anatomie .
Er liebte sein Land.
»Wir müssen die grundlegenden Freiheiten zurückbringen.«
»Künstlerische Freiheit ist ein Recht, das jedem Menschen zusteht.«
Die schönste Erinnerung hob sie sich für den Schluss auf.
»Du bist anders, Laure. Dank den Göttern.«
Früher einmal hätte sie diese Worte vielleicht mit einem Achselzucken abgetan, doch in diesem Land der Schriftsteller und Künstler fing sie an, Worten mit einer andersartigen Achtung zu begegnen. Sie wogen schwer und stellten eine Quelle der Macht dar.
Er liebte sie. Und waren Worte nicht alles?
Wenigstens ging es Eva nicht schlechter, und der Temperaturabfall brachte ihr etwas Erleichterung. Die Kinder bereiteten sich vor, ihre ausgewählten Schulen zu besuchen. »Eliteschulen«, erklärte Petr ohne jeden Anflug von Ironie. »Sonst haben sie keine Chance mitzuhalten, wenn wir nach Paris zurückgehen.«
Die neuen Stundenpläne zeigten, dass Laure nicht dieselbe Freiheit haben würde, zu kommen und zu gehen, wie sie das den Sommer über gemacht hatte; sie würde es neu aushandeln müssen. Sie schwang die Beine aus dem Bett. Den Moment genießen.
Am späten Nachmittag, bekleidet mit Jeans und einem T-Shirt, einen blumengemusterten Schal um den Kopf gebunden, nahm sie eine Tram zur Újezd-Straße.
Die Tram war rappelvoll mit Arbeitern, die nach Hause fuhren. Es bescherte ihr einen kleinen Kulturschock, als sie bemerkte, dass ein paar von denen, die genug Platz hatten, um zu lesen, in Gedichtbände vertieft waren.
Vermutlich war mehr als ein Fahrgast ein Spitzel, und sie fragte sich, wie die Spitzel und die Bespitzelten einander wohl erpressen würden, sollte das Regime gestürzt werden. Sie sah aus dem Fenster. Rache? Blutrache? Blutvergießen? Furcht und Selbsthass?
All das gehörte hier zu dem Bündel, das ein jeder mit sich herumtrug.
Sie stieg an der Haltestelle aus und gesellte sich zu dem Strom Menschen, die meisten eher jung, manche von ihnen mit Blumen in den Händen, die durch die Gärten von Petřín liefen, und es überraschte sie, wie leise sie waren.
Laure warf einen Blick über die Schulter. Wer waren hier die Beobachter? Das Mädchen mit den langen roten Haaren? Der Mann mit der Regenjacke über der Schulter und dem allgegenwärtigen Porkpie-Hut?
Die inzwischen vertraute provisorische Bühne war vor dem Observatorium errichtet worden, thronte über der Grasarena, auf der die Elektriker wie Käfer herumwuselten. Vom Boden stieg der Geruch nach Gras und getrockneten Pflanzen auf, süßlich, durchdringend – unverwechselbar.
Ihr Rucksack, in dem vorsorglich eine Flasche Wasser steckte, wog eine Tonne, und sie schulterte ihn, bevor sie sich auf den Weg zur Bühne machte, was nicht einfach war. Die Leute hielten an ihrer Warte fest und mochten es ganz und gar nicht, dass sich eine Ausländerin an ihnen vorbeidrängte, die in schlechtem Tschechisch »Entschuldigung« murmelte. Irgendwann erreichte sie die Bühne und grinste Vaclav, dem Elektriker, zu. Im Großen und Ganzen war ihre Freundschaft wortlos, aber sie kamen gut miteinander aus. Er streckte eine Hand nach unten und zog sie hoch.
Ein Meer an Leibern versammelte sich, verteilte sich über die Grasfläche bis zu den Büschen und den hohen Gräsern, die eine natürliche Grenze bildeten. Sie lief über die hohl klingenden Bühnenbretter und sprang hinter der Bühne nach unten.
In dem behelfsmäßigen Zelt hinter der Bühne kauerte Tomas mit Manicky und Leo. Als sie hereinkam, sah er auf. »Wird auch Zeit.« Sein Lächeln galt allein ihr – und zum hundertsten Mal dachte sie, sie würde vor Liebe umkommen.
Er streckte die Hand nach ihr aus. »Guter Tag, schlechter Tag?«
Ihr Manager schwirrte herum, rief etwas auf Tschechisch und zeigte auf die Uhr.
Ihr war bewusst, dass die Behörden ihre Erlaubnis nur unter der Bedingung erteilt hatten, dass die Zeitlimits eingehalten würden, also küsste sie ihn rasch und sagte: »Geh, geh schon, sie warten.«
Bereits beim Erklingen der ersten Akkorde war das Publikum in Aufruhr – Schreie, Gesangsfetzen und Faustschläge in die Luft –, doch es beruhigte sich, während die Eröffnungsstücke gespielt wurden.
Sie waren für diesen Gig in Auftrag gegeben worden: Die Texte hatte ein Dichter geschrieben, der mit einem Publikationsverbot belegt war, die Musik stammte von Tomas. Viele Stücke hatten ein Tier im Titel. Mitternacht-Bären , Schlange im Gras , Toter Fisch .
Laure schlängelte sich zur Seite der Bühne vor, von wo aus sie besser analysieren konnte, was los war. Tomas’ Musik hatte sich leicht verändert. In den durch und durch westeuropäischen Rock- und Popeinfluss, in das aufsässige Geschmetter und die sinnesraubenden Explosionen hatten sich die Rhythmen slawischer Tänze gemischt, Anklänge an den böhmischen Dudelsack und ein herrliches Riff aus Smetanas Die Moldau .
Der Abend schritt weiter voran. Das Publikum wurde ungestümer und brüllte, stampfte, wiegte die Hände. Die Strahler tauchten Anatomie in ein Helldunkel, wie sie es auf Gemälden gesehen hatte, und erleuchteten den Pfad für Tausende von Insekten, die auf dem Weg zu einem Festmahl herbeiflatterten.
Sie rief und wiegte sich wie die anderen.
Diese zusammengeballten Leiber reagierten nicht nur auf die eindrucksvolle Musik. In der Abenddämmerung gaben sie sich verbotenen Sehnsüchten und Loyalitäten hin. Schmeckten den Widerstand wie Wein auf der Zunge.
Laure berauschte sich an der Silhouette ihres Geliebten, dessen aufgeknöpfte Weste den schweißgebadeten Torso darunter erahnen ließ und der seine Gitarre und das Mikro beherrschte. »Der Widerstand der Tschechoslowakei ist kulturell«, sagte er, »etwas Besonderes.« Ihn zu sehen, zu hören, zu spüren hieß, die Subversion in ihre Adern aufzusaugen.
Warum hatte sie in Geschichte in der Schule nicht besser aufgepasst? Dann hätte sie eine bessere Vorstellung davon, wie Regime letzten Endes untergingen. Falls sie untergingen. So viele Schichten mussten abgetragen werden. So viele Gegenströmungen bezwungen.
Was sie jedoch sehen und erfahren konnte , war das Ödland des Lebens und der Träume, die das Regime hervorbrachte. Eine ganze Liste unnötiger Tode und die Zerstörung von Talent und Möglichkeiten. Eine tief verwurzelte Gewohnheit, ängstlich zu sein. Eine Bevölkerung, aus der die Moralität herausgeprügelt wurde mittels Unterdrückung, die die Machthaber als Liebe ausgaben.
Tomas bewegte sich über die Bühne. Er bemerkte Laure, und sie tauschten einen komplizenhaften, lüsternen, zärtlichen Blick, der sie alles außer ihren eigenen Sehnsüchten vergessen ließ.
Zu bald, viel zu bald schon stimmte Leo die vorletzte Nummer an. Tunnelling war die Geschichte von Mäusen, die sich durch das Getreide in einem Silo arbeiteten und dabei unterirdische Straßen und Verstecke schufen.
»Lies daraus, was du willst«, sagte Tomas, als sich Laure über den Text wunderte. »Aber denk daran, Mäuse sind gut im Infiltrieren. Niemand bemerkt sie.«
Es folgte eine Pause. Tomas hielt die Hand hoch, und als die Menge tobte, setzte er zum letzten Stück an, Ko č ka .
»Will eine Katze
Eine Maus töten
Muss sie sie erst einmal fangen …«
Bei der Hälfte des Songs, als eine ekstatische Menge sich hin- und herwiegte, gingen die Lichter auf der Bühne mit einem lauten Knacken aus, und alles war in Dunkelheit getaucht. Mehrere Personen schrien. Laure sah in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, wo der Rand der Menge in Bewegung gekommen war und aufriss. In einem pawlowschen Reflex entfernte sich ein Teil der Menge sofort und hastete in die Dunkelheit davon. Sie kennen diese Formation , dachte sie. Andere, die in der Mitte gefangen waren, versuchten, sich ihren Weg nach draußen zu erzwingen. Wieder andere hielten die Stellung. Es drohte eine Pattsituation.
Ihre Stiefel trampelten über das Gras, die Taschenlampen hielten sie auf Brusthöhe; so tauchten Dutzende von grün uniformierten Staatspolizisten in perfekt einstudiertem Manöver auf und umringten das Publikum. Präzise. Verstohlen. Ihr Kommandant bezog bei der Bühne Stellung und erteilte über ein Megafon Befehle, die Laure nicht verstand.
Anatomie spielte weiter, die Musik erklang in der Dunkelheit.
Mutiger, wunderbarer Tomas …
Dann bildete ein Teil der Polizisten einen Tunnel und dirigierte das Publikum dort hindurch zum Ausgang. Ein paar kräftigere Polizisten sprangen auf die Bühne und rissen den Männern die Instrumente aus der Hand.
Von der Seite beobachtete Laure, wie Tomas darum kämpfte, seine Gitarre zu behalten. Doch als die Gitarre beschädigt zu werden drohte, gab er sie schulterzuckend auf.
Sie wusste inzwischen genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass sie nicht gesehen werden durfte, und wollte zum Zelt, um ihren Rucksack zu holen und zu verschwinden.
Zu spät. Leo, Manicky und Tomas wurden bereits ins Zelt geführt, gefolgt vom Kommandanten und seinem Handlanger, beide mit einer grellen Taschenlampe in der Hand.
Manicky zupfte an seinen Haaren herum, zog die Strähnen mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Leo starrte durch den Eingang des Zeltes nach draußen, wo sich der letzte Rest des Publikums zerstreute. Tomas knöpfte seine Weste absichtlich langsam zu.
Er sah nicht zu Laure. Sie sah nicht zu ihm – und das war am schwierigsten.
Schließlich ließ der Kommandant einen weiteren Befehl ertönen, und die drei Männer wurden aus dem Zelt eskortiert. Sein Handlanger wandte sich zu Laure und brüllte ihr einen Befehl entgegen. Sie schüttelte den Kopf. Er wiederholte, was auch immer es war. Lauter. Wieder schüttelte sie den Kopf und hielt die Hände in einer Geste hoch, die bedeuten sollte, dass sie ihn nicht verstand.
Wütend brüllte er herum, packte sie am Arm und schob sie aus dem Zelt, weiter zum Ausgang.
Auf der verlassenen Bühne waren die Elektriker damit beschäftigt, alles möglichst rasch abzubauen. Ein herunterhängendes Kabel in der Hand, sah Vaclav sie verstohlen an und legte einen Finger an die Lippen. Sag nichts.
Sag nichts.
Laure wiederholte Vaclavs Mahnung für sich mit wachsendem Erstaunen darüber, wo sie war. Es wäre sehr ungewiss, ob ihr jemals jemand in Brympton glauben würde. Du verfluchte Dramaqueen , würde Jane sagen.
Sie befand sich in einem fensterlosen Zimmer ohne Mobiliar mit Ausnahme der zwei billigen, mit Zigarettenlöchern übersäten Plastikstühle und einem schwarzen Bakelittelefon mitten auf dem Tisch. Das Kabel führte durch ein in die Tischplatte gebohrtes Loch und von dort weiter zu einem Kästchen an der Wand. Eine irrwitzige Anordnung, wie sie fand. Wenn man nicht wusste, dass das Kabel da war, könnte man darüber stolpern. Aber vielleicht ging es ja genau darum?
Wie lange war sie schon hier? Drei Stunden? Vier? Die Brutalos waren widerlich. Nur mit größten Schwierigkeiten war es ihr gelungen, den jungen Wachmann davon zu überzeugen, ihr ein Glas Wasser zu bringen und sie auf die Toilette zu lassen. Sie war nicht so sehr verängstigt, als vielmehr wütend und verzweifelt, weil sie nicht wusste, wo Tomas und die anderen waren.
Ihr war klar, dass sie sich mehr Sorgen um sich machen sollte und wie dumm es war, die Situation herunterzuspielen, dennoch konnte sie nicht umhin, von der schäbigen Inszenierung dieser Kulisse fasziniert zu sein. Plastikstühle und ein eigenartig angeschlossenes Telefon waren ihrer Meinung nach keine Requisiten für ein ultrabedrohliches Szenario.
Zum wiederholten Mal sah sie auf die Uhr. Der große Zeiger war auf dem Weg zu zehn Uhr. Schlag zehn Uhr ging die Tür auf, und ein Mann in ordentlicher grauer Hose und gebügeltem Hemd, der ihr vage bekannt vorkam, trat ein.
»Guten Abend. Ich bin Major Hasík«, sagte er in formellem Englisch und stellte einen Koffer auf dem Boden ab. »Wir haben uns schon einmal mit Ihrem Freund Tomas Josip getroffen. Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, danach hoffe ich, dass Sie zu Ihrer Arbeitsstelle zurückkehren können.« Er nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz. »Haben Sie Durst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Warum bin ich hier?«
Forschend blickte er sie an. »Ich habe den Eindruck, als würden Sie denken, man belästige Sie. Stimmt das?« Laure antwortete nicht. »Nur um Ihnen deutlich zu machen, dass dem nicht so ist, wir haben Ihren Arbeitgeber angerufen und ihn gebeten herzukommen. Sie werden sich wohler fühlen, wenn er hier zugegen ist.«
»Wie aufmerksam.«
»Er wird Ihren Pass mitbringen, damit wir überprüfen können, dass Sie auch die sind, die Sie zu sein behaupten.«
Laure war mindestens fünfmal aufgefordert worden, ihren Namen, ihre Nationalität und ihre Tätigkeit zu nennen. »Was für eine Erleichterung.«
»Sie sollten sich über dieses Vorgehen nicht lustig machen.« Er war nachsichtig, fast schon liebenswürdig. »Das ist von äußerster Wichtigkeit, verstehen Sie.«
Sie erhaschte einen kurzen Blick auf seine aufblitzende Unbarmherzigkeit und Gerissenheit. Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum.
Er warf einen Blick auf die Akte, die er mitgebracht hatte. »Ihr Freund ist ein Mitglied von Anatomie . Wie lange kennen Sie ihn schon?«
»Vier Monate.«
»Wie oft treffen Sie sich?«
»Ein paarmal pro Woche. Wann immer es möglich ist.«
»Schlafen Sie mit ihm?«
Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ist das wichtig?«
Er sah sie an. »Sie schlafen also mit ihm.« Er stand auf und stellte sich hinter ihren Stuhl. »Und worüber reden Sie so unter vier Augen, Miss Carlyle?«
»Geht Sie das etwas an?«
Er beugte sich nach unten, sodass sein Mund ganz dicht an ihrem Ohr war. »Wenn dabei auch verbotene Auffassungen zur Sprache kommen, dann schon.« Er ging zurück zu seinem Stuhl und setzte sich. »Wie ist die politische Einstellung Ihres Freundes?«
Ihre Lippen waren unangenehm trocken, und ihr Herz pochte wild. »Ich habe keine Ahnung.«
»Das ist eine dumme Antwort. Wenn man mit jemandem zusammen ist, weiß man so etwas.«
»Er ist Musiker, das beschäftigt ihn. Er hat keine Zeit für Politik.«
Sag nicht zu viel.
»Haben Sie schon jemals etwas in einem Tuzex-Laden eingekauft?«
»Meinen Sie die Läden, in denen nur Ausländer und Privilegierte einkaufen dürfen? Nein.«
Major Hasík griff nach unten, öffnete einen neben ihm stehenden Koffer und holte einen Hershey-Riegel heraus. Er legte ihn neben das Telefon auf den Tisch. »Der wurde in dem Rucksack gefunden, den Sie dabeihatten.«
Sie warf einen flüchtigen Blick darauf. »Der gehört mir nicht.«
Freundlich schüttelte er den Kopf. »Sie widersprechen mir besser nicht. Wo haben Sie ihn her?« Laure schwieg. »Ich denke, Sie haben ihn von Ihrem Freund bekommen, der ihn mit Schwarzmarktwährung in einem Tuzex-Laden erstanden hat.«
»Das ist doch dumm. Und würde es Sie etwas angehen, wenn dem so wäre?« Sofort bedauerte sie, so aggressiv gewesen zu sein.
Er reagierte nicht darauf. »Es ist nicht nötig, unhöflich zu werden, Miss Carlyle. Oder kindisch.«
»Es tut mir leid.« Sie zwang sich, einen klaren Gedanken zu fassen. »Dann kann also jeder in einen Tuzex-Laden gehen?«
»Ja, in der Tat. Alle sind willkommen. Aber nicht jeder hat einen Anspruch auf Tuzex-Kronen, mit denen darin bezahlt wird, und Ihr Freund gehört ganz bestimmt nicht dazu, was heißt, dass er sich das Geld auf dem Schwarzmarkt beschafft haben muss. Sich auf den Schwarzmarkthandel einzulassen ist eine Straftat, die mit Gefängnis geahndet werden kann.« Laures Augen wurden weit, und sie rang um Fassung, doch er als erfahrener Brutalo erkannte ihr zunehmendes Unwohlsein. »Wenn Sie darüber nachdenken, dann ist das nur fair. Das durchschnittliche Gehalt beträgt 3000 Kronen im Monat. Manche von diesen Schwarzmarkthändlern verdienen bis zu 250 000 Kronen im Monat.«
»Dazu kann ich nichts sagen«, erwiderte sie. »Aber die Schokolade gehört mir nicht, und er hat sie mir nicht gegeben.«
Er faltete die Hände und blickte sie wohlwollend darüber hinweg an. »Ach, du meine Güte.«
Inzwischen machte ihr die fehlende Belüftung des Raumes zu schaffen, und sie hoffte verzweifelt, dass Petr Kobes bald eintraf. »Verhören Sie mich, weil ich einen Schokoriegel dabeihabe?«
»Mein liebes Mädchen, das hier soll ein Verhör sein? Ich stelle doch nur ein paar Fragen, weiter nichts.«
Geschickt gemacht. Die Schokolade war ihr untergejubelt worden, und vielleicht würde es ihr gelingen, sie davon zu überzeugen, dass es nicht ihre Schokolade war. Da sie jedoch zugegeben hatte, dass sie ihn nur ein paarmal pro Woche sah, konnte sie nicht beweisen, dass Tomas keine Schwarzmarkt-»Kohle« gekauft hatte, um diese im Tuzex auszugeben.
Gab es kein Protokoll, auf das sie sich berufen konnte? Sie fragte sich, ob sie wohl nach jemandem vom Britischen Konsulat verlangen konnte. Gab es ein Britisches Konsulat in Prag?
In diesem Moment klingelte das Telefon. Eine gellende, misstönende Unterbrechung dieser fast vollständigen Stille, die Laure zu Tode erschreckte. Major Hasík hob den Hörer ab, nannte seinen Namen und hörte zu. »Verstehe«, sagte er und legte wieder auf. »Es tut mir leid, Ihr Arbeitgeber wurde aufgehalten, wir müssen Sie also hierbehalten, bis er kommen kann.« Es gelang ihm, ein bedauerndes Gesicht zu machen.
Sie sprang auf. »Mich wo behalten?«
Jetzt sah er sie noch betrübter an. »Hier.«
Verzweifelt sagte sie: »Ich würde gern jemanden vom Britischen Konsulat oder von der Botschaft kontaktieren. Das hier kann nicht legal sein.«
Major Hasík lächelte. »Mein liebes Mädchen, die Briten sind an diesem Abend schon alle nach Hause gegangen. Und Sie unterstehen dem tschechoslowakischen Gesetz, wenn Sie in Prag leben. Wir bieten Ihnen die höchste Gerechtigkeit.«
Sie blinzelte. »Habe ich das richtig gehört? Die höchste Gerechtigkeit? Die können Sie sich sonst wo hinstecken.«
Majo Hasík saß ruhig mit ordentlich auf dem Tisch gefalteten Händen da.
»Aber ich bin eine britische Staatsbürgerin. Sie werden kommen.«
»Die Briten mögen ihren geregelten Arbeitstag. Also gehe ich nicht davon aus.«
»Aber Sie können die Leute doch nicht wegen eines Schokoriegels festhalten. Das ist doch lächerlich.«
»Hatte ich gesagt, dem wäre so?« Major Hasík legte den Schokoriegel, der fast schon schmolz, zurück in den Koffer. »Nein, wir behalten Sie aus einem anderen Grund hier.«
»Welchem denn?«
Er stand auf und ragte über ihr auf. »Wie nachlässig von mir, das nicht zu erwähnen. Sie und Ihre Freunde wurden festgenommen, weil Ihnen nächtliche Ruhestörung vorgeworfen wird.« Wieder lächelte er. »Das ist eine ganz andere Angelegenheit. Noch dazu eine sehr ernsthafte.«
Sie hatten keine freien Zellen mehr, somit gab ihr der blonde Wachmann mittels Handzeichen zu verstehen, dass sie hier in diesem Raum bleiben müsse. Nach einer Weile nahm sie sich den zweiten Stuhl, und es gelang ihr, sich etwas auszustrecken.
Ihre Lider waren vor Erschöpfung schwer, und ihr Kopf schmerzte. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie schreckliche Angst und sehnte sich nach Schlaf. Sie war gerade weggedöst, als das Telefon klingelte. Vor Schreck wäre sie fast vom Stuhl gefallen.
Dann verstummte es.
Aber nicht lange.
Die ganze lange, stinkende Nacht hindurch klingelte es immer wieder, während sie zu schlafen versuchte. Jede Stunde schrillte es, meist siebenmal, bevor es wieder verstummte.
Nie zuvor hatte sie etwas so sehr gehasst, und sie bezweifelte, dass sie jemals wieder etwas so sehr hassen würde wie das Geräusch dieses Telefons.
Gegen fünf Uhr morgens, als ihr vor Angst übel und schwindlig war, richtete sie sich mühsam auf. Wenn sie das mit ihr machten, was machten sie dann mit den anderen?
Die Tür ging auf. Sie schloss die Augen und klammerte sich mit beiden Händen am Stuhl fest, zwang sich, dem, was auf sie zukam, ruhig und mit Bedacht entgegenzusehen.
Sie machte die Augen auf. Der blonde Wachmann hatte sich vor ihr aufgebaut. Er beugte sich nach vorn, zwirbelte eine ihrer Locken zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte etwas auf Tschechisch. Er zog Laure hoch, schob die Hände unter ihr T-Shirt und zerriss es. Ein breites Grinsen auf dem Gesicht – gierig, versessen und Angst einflößend.
»Hören Sie auf, bitte.«
Während er sie mit einem Arm festhielt, löste er mit der anderen Hand seinen Gürtel und knöpfte die Hose auf.
Laure schrie und stieß ihm den Ellenbogen mit voller Wucht in den Oberkörper. Er lockerte seinen Griff und beugte sich nach vorn, was ihr die Gelegenheit verschaffte, auf die andere Seite des Tisches zu flitzen. Die Hose hing ihm um die Knie, ließ seinen erigierten Penis sehen.
Wieder schrie sie, was nur dazu führte, dass er noch wütender wurde. Er zog die Hose hoch und stürmte auf Laures Seite.
Sie wurde gegen die Wand geschmettert, und ihr Kopf donnerte mit einem Krachen dagegen. Dann presste er ein Bein zwischen ihre, machte ihre Jeans auf und zog ihr die Unterhose zusammen mit der Jeans bis zu den Knien herunter.
Seine Finger drangen zwischen ihre Beine, stießen zu, bohrten. Sie spürte, wie sie sich den Weg nach oben erzwangen und sich ihr Körper wand und widersetzte.
Sie keuchte, packte seine Haare und riss so fest daran, wie sie nur konnte. Als Erwiderung darauf drückte er ihre Beine nur weiter auseinander und warf sie auf den Boden. Dann setzte er sich rittlings auf sie, zog ihr Jeans und Unterhose ganz aus und warf sich zwischen ihre Beine.
Nur noch wenige Sekunden, dann würde er bekommen, was er wollte. Sein Penis presste sich gegen ihre Hüfte. Eine Hand packte sie am Kinn und zwang ihren Kopf schmerzhaft auf eine Seite. Er machte sich bereit, indem er sich auf die Ellenbogen aufstützte – dann drang er in sie ein.
Der Schmerz. Der Ekel. Die Angst.
Sie hörte sich selbst laut stöhnen.
In einer übermenschlichen Anstrengung warf sie sich auf die Seite, riss an dem Telefonkabel, das vom Tisch herunterhing, und brachte damit das Telefon zu Fall.
Es knallte gegen seine Schulter. Einen Moment lang hielt er inne – und sie dachte, sie würde eine Gnadenfrist bekommen. Dann brüllte er etwas Unverständliches, aber die Bedeutung entging ihr dennoch nicht. Er schnappte sich das Telefon und knallte es ihr gegen den Kopf.
Sie sah einen leuchtend gelben Funkenregen vor ihren Augen. Ein Krachen hallte in ihren Ohren, gefolgt von einem Gefühl der Schwebe, und irgendwo weit weg Schmerz. Im Hintergrund hörte sie, wie Petr einen Befehl bellte. »Stopp.«
Laure rollte sich auf den Bauch, jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte. Ein Seufzen. Dann wurde alles schwarz.
In seinem Zimmer im Karlín-Viertel wiegte Tomas sie sanft und zärtlich. Sie lagen auf der Matratze, und Kočka lag auf dem Sims, wo die Sonne durch das Fenster hereinfiel.
»Und?«, sagte er.
Die eine Hälfte ihres Kopfes war mit Blutergüssen übersät, ihr ganzer Körper schmerzte.
Es war noch immer anstrengend zu sprechen. »Petr Kobes kam herein, als der Wachmann mich zusammengeschlagen hat, und hat mich rausgeholt. Er hat ihn …« Sie hatte Mühe, nicht loszuweinen. »Aufgehalten. Weiterzumachen … Er konnte nicht …«, sie sah ihn an. »Du weißt schon.«
Petr hatte darauf gedrängt, dass sie von einem Arzt untersucht wurde, der zwar ihre Verletzungen konstatierte, diese aber nicht als schwerwiegend einstufte. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid«, hatte er immer wieder gesagt, und jede Faser seines Körpers hatte seine äußerste Scham und Bedrängnis zum Ausdruck gebracht.
Petr hätte sagen können: Ich hatte dich gewarnt , eine Versuchung, der er nicht nachgab, wofür Laure ihm dankbar war. Er konnte ihr jedoch ausreden, den Britischen Konsul in der Thunovská zu kontaktieren. »Ich weiß, dass du wütend bist, Laure, aber es wäre am besten und sehr nett von dir, wenn du keinen unnötigen Wirbel machst.«
Unter diesen Umständen war »nett« eine eigenartige Wortwahl, aber sie fasste es so auf, dass es wohl einfacher für sie wie auch für die Kobes wäre, wenn nichts davon nach außen drang. Er stand in der Tür zu ihrem Zimmer. »Das ist mein Ratschlag«, sagte er. »Ich habe mich mit den Machthabern arrangiert.«
Er hatte einen Schritt ins Zimmer gemacht. Instinktiv hatte Laure das Laken bis zum Kinn gezogen, und er kam nicht näher. »Eva und mir tut das schrecklich leid, und wir entschuldigen uns für das, was dir zugestoßen ist.« Er war ernsthaft bestürzt. »Wir können uns um die Kinder kümmern, und du musst den Tag im Bett bleiben.« Er wandte sich zum Gehen. » Eine Sache noch. Dieses Mal ist es mir gelungen, dich zu beschützen. Das nächste Mal werde ich das nicht können. Verstehst du?«
»Du wirst es nicht können? Oder nicht wollen?«
»Das lasse ich dich selbst herausfinden.«
Laure veränderte ihre Position in Tomas’ Armen. »Und wo warst du im Gefängnis?«
»Den Gang hinunter. Ich habe deine Schreie gehört, und die Jungs und ich haben einen solchen Radau gemacht, dass sie etwas tun mussten. Kobes hat den Rest erledigt, und sie haben uns mit der Warnung ziehen lassen, dass es keine weiteren Konzerte geben wird und wir unter Beobachtung stehen.« Er sah auf Laure hinab. Der Schock und die Angst hatten sich ihrer bemächtigt, unablässig rannen ihr Tränen über die Wangen. »Erzähl mir mehr.«
»Es ist schwierig …« Jedes Mal, wenn sie den Mund öffnete, blockierte ihr Gehirn.
»Es ist gut, darüber zu reden.« Er wischte ihr eine Träne mit dem Daumen von der Wange. »Glaub mir. Ich weiß es. Nur so überlebt man.« Er flüsterte, zwang das Trauma nachzulassen. Oder zumindest zu etwas zu werden, mit dem sie leben könnte.
Sie schloss die Augen. »Du hast mir einmal gesagt, dass es unsere Pflicht sei zu überleben. Erinnerst du dich noch?« Sie schniefte.
»Braves Mädchen. Meine geliebte Laure. Jetzt erzähl mir alles, rede es dir aus der Seele.«
»Es mir von der Seele reden, meinst du wohl.«
Es war ein kleiner Raum, möbliert mit einem Tisch und zwei einander zugewandten Stühlen.
In der Aufnahme ist kein Fenster zu sehen. Ein schwarzes Bakelittelefon, ein gedrungenes, altmodisches Modell mit einer Wählscheibe und einem umflochtenen Kabel, steht mitten auf dem Tisch. Die billigen Plastikstühle sind mit Brandflecken von Zigaretten übersät, der Boden besteht aus groben Dielen. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, wo dieser Raum sein könnte.
»Er hat gestunken. Hat mir wehgetan … mir wirklich wehgetan, und ich weiß nicht, ob ich mich jemals wieder von jemandem anfassen lasse.«
Sie versuchte, sich nicht auf die körperlichen Details zu konzentrieren. Sie durfte sich nicht daran erinnern, wie ihr Kopf gegen die Wand gekracht war, wie er seine widerlichen Finger schamlos in sie gesteckt hatte. Oder wie er sich ihr aufgezwungen hatte. Sie musste sich immer wieder sagen, dass es schlimmer hätte sein können, dass sie jetzt hier war, bei Tomas.
Sie nahm sich genug zusammen, um zu fragen: »Welches Gefängnis war es?«
»Das Bartolomĕjská.« Er schob einen Arm unter ihr durch und legte sie vorsichtig, liebevoll in eine bequemere Position. »Es war einmal ein Kloster, bis die Nonnen rausgeschmissen wurden. Denk daran, meine Löwin.«
»Gott war nicht da«, erklärte sie schwach.
»Ich werde diesen Arschlöchern niemals vergeben«, sagte Tomas.
Wenig später fügte er hinzu. »Jetzt weißt du es, Laure. Jetzt weißt du es wirklich
Ihre Starre löste sich. »Tomas. Wenn es das ist, was passiert … deine Zukunft … dann komm mit mir. Du könntest ein Leben haben.« Sie betrachtete seinen Ausdruck, und zu ihrer Verblüffung sah sie ein enthusiastisches Leuchten in seinen Augen. »Ein Leben«, wiederholte sie. »Ist das kein gutes Ziel?«
»Das ist mein Leben, Laure.«
Es war ihr egal, wenn sie ihn wütend machte, sie versuchte es erneut. »Du hast Angst, du könntest ein Niemand sein.«
»Das trifft es wahrscheinlich «, gab er in entwaffnender Offenheit zu. »Aber was auch immer meine Motivation ist, gut, schlecht oder schwach, ich werde hierbleiben.«