28
Paris, heute
Das Essen mit dem Maison de Grasse hatte in der Presse Wellen geschlagen.
Es zog viele Veränderungen für das Museum nach sich: Finanzierung, Positionierung, Förderung.
»Ständig kommen Anfragen nach Abschriften deiner Ansprache rein«, teilte Nic Laure mit, als sie ein paar Wochen später ins Büro kam. »Und was ist das
da?«
Laure stellte den Katzenkorb ab. »Eine Katze. Nein, meine
Katze.«
»Und?«, fragte Nic weiter.
»Sie wird hier wohnen. Der Tierarzt hielt das für besser. Mehr Raum, als in einer Wohnung. Wenn man auf den Straßen gelebt hat, erträgt man es nicht, eingezwängt zu werden.«
»Und an den Wochenenden?«
»Da nehme ich sie mit zu mir. Vermutlich werde ich umziehen müssen, es sei denn, ich kann mich mit meinem Vermieter arrangieren.«
Nic spähte in den Katzenkorb auf die magere, glanzlose kleine Gestalt. »Nicht gerade eine Schönheit.«
»Verletze ihre Gefühle nicht. Ihr Leben war schon schlimm genug.«
Nic beobachtete, wie Laure verschiedene Utensilien auspackte, darunter ein Kissen. »Wir haben hier keinen Platz, um eine Katze … ähm … frei herumlaufen zu lassen, wo willst du das alles unterbringen?«
»Auf dem Sims am Fenster, wo sie etwas Sonne abbekommt.«
»Okay«, sagte Nic, den nichts aus der Fassung brachte. Er warf einen Blick auf seinen Computer. »Du hast zwei Termine heute Morgen. Ein Mann mit einer pinken Plastikgeige und jemand, der sich weigert, seinen Namen zu nennen, aber Stein und Bein schwört, dass er kein Mörder oder Terrorist ist. Bist du bereit, dieses Risiko einzugehen?«
Er klang niedergeschlagen.
Laure legte den Kopf schräg und sah ihn eindringlich an. »Du vermisst May.«
Wie Laure vorhergesagt hatte, war May in die USA
zurückgekehrt, um ihre Artikel fertig zu schreiben. Paris sei teuer, wie sie sagte, und sie müsse ihre Brötchen verdienen. Sie war reumütig und bekümmert gewesen und hatte die Verabschiedung rasch hinter sich gebracht.
Laure hatte es sich verkniffen zu fragen, was nun zwischen Nic und ihr sei. Hatte er sie eingefangen? Wenn sie ihn sich so ansah, dann wohl eher nicht.
May hatte eine Lücke hinterlassen. Sie war neugierig, waghalsig und lustig gewesen, hatte sich auch mal geirrt, und ihre dünnen Arme hatten Laure eigenartigerweise Trost gespendet.
Der namenlose Mann stellte sich als John Irvins heraus, ein gedrungener, bärtiger Jugendlicher. Nach der Begrüßung legte er einen Golfball zwischen sich und Laure.
»Die Astic Company ist darauf spezialisiert, Grünflächen für Golfplätze zu beschaffen«, erzählte er, oberhalb seiner Gesichtsbehaarung rot vor Empörung. »Sie haben ein Stück Land gekauft, das an unser Dorf grenzt, ein Teil davon ein Vogelschutzgebiet, und wollten sich das Gemeineigentum einverleiben, das dem Dorf für immer überlassen worden war. Es folgte eine große Auseinandersetzung.«
Laure ahnte, was gleich kommen würde.
»Der Rat war schwach und geldgierig. Die Dorfbewohner haben ihren Kampf verloren, und der Golfplatz wurde gebaut. Es ist uns jedoch gelungen, ihnen das schriftliche Versprechen abzuringen, dass kein Gebäude im Vogelschutzgebiet errichtet würde. Doch sobald der Vertrag unterzeichnet war, sind die Laster aufgekreuzt, und man hat genau dort ein großes Clubhaus errichtet.«
Er breitete Fotos von kaputten Nestern, zerstörtem Lebensraum und, am schlimmsten von allem, den toten Leibern von Nestlingen, deren Eltern bei den Bauarbeiten den Tod fanden, vor ihr aus.
Irvins war traurig und unübersehbar wütend über seine Ohnmacht und die seiner Mitstreiter in dieser Sache. »Die Bürger hatten keine Rechte. Sie wurden von den reichen Investoren plattgemacht und ausgebeutet. Das ist Kapitalismus in seiner schlimmsten Form, der habgierigsten und verlogensten, und wir konnten nichts dagegen tun. Ich würde den Golfball gern dem Museum spenden …«
»Ach, der Kapitalismus …«, sagte Laure und nahm den Golfball.
Als sie sich wenig später Notizen zu diesem Treffen machte, hörte sie Nics Ausruf: »Was zum …?«
Mit der fast schon sichtbaren Energiewelle, auf der sie für gewöhnlich in ein Zimmer schwebte, stand May in der Tür, ein Tablett mit mehreren Kaffees in der Hand. Ein Lichtspiel ließ ihr helles Haar elektrisch wirken.
»Was machst du denn hier?« Wenn jemand zeitgleich die Stirn runzeln und grinsen konnte, dann Nic.
May hielt ihm die Kaffees hin. »Fast könnte man meinen, du freust dich gar nicht, mich zu sehen. Ich muss hier noch ein paar unerledigte Angelegenheiten zu Ende bringen.«
Sie wandte sich an Laure. »Du hast mich einmal gefragt, was ich in dieses Museum bringen würde. Hier ist meine Antwort.« Sie trat zur Seite und bat jemanden vor der Tür herein.
»Ich leugne ganz entschieden, dass ich von bürgerlicher Abstammung sein soll«, sagte eine Stimme in einem Englisch mit starkem Akzent.
Eine zweite Gestalt tauchte im Türrahmen auf.
In Laures Ohren rauschte es.
»Aber hloupӯ
Honza …«, sagte sie mit zitternder Stimme, ihr Stuhl kratzte über den Boden. »Aber hloupӯ
Honza, dein Vater war doch ein bekannter Textilfabrikant. Du darfst vor Besuchern keine Lügen erzählen.«
Nic starrte Laure an, als wäre sie wahnsinnig geworden.
Der Mann war in etwa so alt wie Laure, trug eine Jeansjacke und eine Jeanshose. Er hatte weiße Zähne, grau meliertes Haar und Geheimratsecken, die seine Stirn größer erscheinen ließen.
Die Zähne waren gut sichtbar, da ein breites Lächeln auf seinem Gesicht lag. »Meinst du nicht eher, erzähl keine Lügen vor Leuten, die du kennst. Besucher wissen nicht, ob man lügt oder nicht, somit ist es ihnen egal.«
Und da war sie wieder, im Backstagebereich des Marionettentheaters, spähte über die Kulisse, brannte vor Lust, Liebe und der Freude, Teil des Widerstands zu sein.
Nics Gesichts war sehenswert, während Laure sich auf ihrem Schreibtisch abstützte. »Milos?«, sagte sie. »Milos, bist du das?«
Sie streckte die Hände aus. Er tat es ihr gleich, und sie hielten einander fest.
»So lange ist es her«, sagte er.
»Wo? Woher kommst du?«
»Aus Prag. Deine Kollegin hat mich dort gefunden und mir aufgetragen zu kommen. Sie scheint das Wort ›Nein‹ nicht zu kennen.« Er fügte noch hinzu: »Wir dürfen jetzt reisen.«
»Ich weiß. Ich weiß.« Zu Nics völliger Bestürzung fing Laure an zu weinen. Laute, herzzerreißende Schluchzer.
May nahm Laure in den Arm, und Nic sagte: »Ich stelle mal Teewasser auf.«
Laure bekam sich so weit in den Griff, dass sie fragen konnte: »Geht es dir gut? Ist dein Leben okay?« Sie zeigte auf einen Stuhl. »Setz dich doch bitte.«
Schweigend starrten sie einander an, durchquerten geistig die schwarzen Löcher und das holprige Terrain ihrer gemeinsamen Zeit.
Milos sprach als Erster. »Ich habe mich verändert. Du dich nicht so sehr. Intelligenter und noch schöner. Und du hast das hier …«
»Und ich habe das hier«, wiederholte Sie. »Und du hast?«
Langsam fand er sich im Englischen wieder zurecht. »Ein Marionettentheater in Prag. Ich habe eine Familie. Ich habe Lucia geheiratet.«
Laure war sprachlos. Ihr fiel nichts anderes ein als: »Ich hoffe, sie hat den Schleier getragen.«
»Der wurde zerstört, als die Machthaber das Theater geschlossen haben.«
»Ich will alles wissen«, sagte sie. »Alles.«
Durch das geöffnete Fenster drangen die Geräusche von Paris herein. Autos, Lieferwagen, die Rufe des Gemüseverkäufers.
»Wie hat May dich gefunden?«
»Einfach.« May legte ihre Hand zaghaft auf die von Nic, der sie festhielt. »Nachdem wir gesprochen haben, bin ich nach Prag geflogen – das kann ich wirklich nur empfehlen – und habe bei den Marionettentheatern angefangen. Es hat nicht lange gedauert. Und jetzt sind wir hier.« Sie machte eine kurze Pause. »Das war ich dir schuldig.«
»Du bist also nicht nach Hause zurückgereist?«, sagte Nic.
»Nein. Wie man sieht.« Sie stützte eine Hand in die Hüfte. »Oder sieht es etwa so aus, als wäre ich in New York?«
Viel Glück, Nic
, dachte Laure, und ihr wurde leicht ums Herz. Mit der Zukunft. Mit der Tatsache, dass May hier ganz eindeutig die Oberhand hat.
»Ich habe etwas für dich.« Milos griff nach unten und legte ein ramponiertes Päckchen auf den Tisch. »Ich habe es all die Jahre aufbewahrt. Nur für den Fall.«
Sie starrte auf das Päckchen. Die Zeit machte einen Sprung in die Vergangenheit. Sie spürte ihre Haut, ihren Atem, ihren Puls.
Milos machte das Päckchen auf, und das Seidenpapier klappte auf wie eine Muschel, um den Blick auf eine kollabierte Marionette freizugeben, die eher an einen Haufen Knochen im Beinhaus erinnerte.
Das Pochen in Laures Schläfen wurde heftiger.
Sie erkannte den schwarzen Umhang, die ausgestreckten hölzernen Hände, die zusammengeklappten Gliedmaßen, das Gesicht einer Marionette, verhedderte einzelne Fäden und stieß einen Schrei aus. »Der Pierrot!«
»Tomas hat mir aufgetragen, ihn dir zu bringen, sollte ihm etwas zustoßen«, sagte Milos. »Er hat sehr darauf gedrängt. Er sagte, es wäre das Allerwichtigste, was ich tun könnte.« Er wiederholte es: »… das Allerwichtigste …«
Laure konnte sich nicht rühren.
»Tomas sagte, du würdest wissen, was er bedeutet, wenn du ihn bekommst.«
Laure schloss die Augen und hielt sich an der Tischkante fest.
Nic hustete. May hörte auf zu schreiben.
»Er sagte auch, du müsstest versprechen, die Fäden wieder zu befestigen.«
Wie gewöhnlich war bei Chez Prune
viel los, aber Laure gelang es, einen Tisch am Fenster zu ergattern, und sie bestellte eine Karaffe Rotwein.
Er wurde ihnen mit einer Schale gerösteter Nüsse gebracht. Laure schenkte ein und schob Milos ein Glas zu. Gemeinsam hoben sie die Gläser und tranken auf den Pierrot.
Zunächst redeten sie nicht viel.
Sie verschränkte die Hände im Schoß. »Erzähl mir alles.«
Milos hatte sein Glas bereits ausgetrunken und schenkte sich nach.
Nachdem Laure geflohen war, sei das Theater geschlossen worden, und alle hätten sich verstreut, erzählte er ihr. Leo sei irgendwann aus der Haft entlassen worden, aber seine linke Hand habe amputiert werden müssen. Er spiele jetzt eine unwichtige Rolle in der Tschechischen Republik. Manicky sei untergetaucht. Es heiße, er habe sich das Haar abgeschnitten und arbeite als Friseur. Er selbst und Lucia hätten einen Bus Richtung Süden genommen und sich in der Nähe von Tábor niedergelassen, wo er sich als Zimmerer verdingt und sie die verbleibenden Tage des Regimes abgewartet hätten. Sie hätten zwei Kinder. Nachdem diese erwachsen waren, seien er und Lucia wieder nach Prag zurückgekehrt, wo sie ein Theater gegründet hätten.
»Das ist unsere eine große Liebe«, sagte er.
Laure umklammerte ihr Weinglas. »Hat Lucia mich verraten?«
Milos löste ihre Finger von dem Glas, stellte es zur Seite und hielt ihre Hand fest. Seine war vom harten Arbeiten ganz rau, fühlte sich in ihrer aber, wie das schon immer der Fall war, sicher an. Sie kannte ihn von früher, und er kannte sie. Das reichte.
»Ja. Aber sie hatte ihre Gründe. Du musst ihr vergeben.«
»Bittet mich Lucia um Vergebung?«
»Nein, ich tue das. Sie ist meine Frau.« Die neuen Zähne waren verstörend, aber sie freute sich, dass Milos sie hatte richten lassen. »Ich bitte dich für sie. Vergibst du ihr?«
Sie dachte an ihr eigenes Märtyrertum. Den trockenen Boden des Bedauerns. Die Schuld. Die Strafe, niemals einen strahlenden, herrlichen Tag ohne sie zu sein.
Ihr Griff festigte sich um seinen. »Ja.«
»Dann musst du uns in Prag besuchen kommen, und vielleicht können wir auch die Geschehnisse zwischen euch beiden aus der Welt schaffen?« Sein Lächeln verschwand. »Wir könnten Orte besuchen und ihnen … die letzte Ehre erweisen.«
»Unbedingt. Das würde mir gefallen. Sehr sogar.«
Danach liefen sie am Canal Saint-Martin entlang. Inzwischen war es fast dunkel. Die teuren Boutiquen waren beleuchtet. Jemand hatte eine bunte Lichterkette über eine schmiedeeiserne Brücke gehängt, allerdings reichte sie nur bis zur Hälfte. Die Obdachlosen bereiteten sich etwas zu essen zu, wo und wie es ihnen möglich war, und sicherten ihre Zelte ab.
Das Wasser klatschte unablässig gegen das Ufer.
Laure blieb stehen. »Und Tomas?«, fragte sie, zittrig vor Furcht und Verzweiflung.
Milos machte einen weiteren Schritt, drehte dann um und kam auf sie zu. »Tomas ist tot. Auf die eine oder andere Weise haben sie ihn umgebracht. Das muss dir klar sein.«
Lange Zeit schwieg sie, dann seufzte sie.
»Etwas in mir hat immer … Gehofft. Gebetet. Dass er überlebt hat. Ich habe den Fluchtweg preisgegeben, weil ich so wütend war. Mir wurde erzählt, Tomas habe eine Amerikanerin geheiratet. Dann wurde mir klar, dass das eine Lüge war, aber ich konnte es nicht mehr zurücknehmen.«
»Welche Amerikanerin?«, fragte Milos. Sie sagte es ihm, und er schüttelte den Kopf. »Du hast recht. Das waren nichts als Lügen, Laure.«
»Er hat mir gesagt, ich solle nicht glauben, was sie über ihn erzählen würden. Ich habe versagt.« Sie sah Milos gerade an. »In diesem entscheidenden Moment habe ich meinen Glauben verloren, und das hat gereicht.«
»Aber Lucia hat dir die Handlanger auf den Hals gehetzt«, sagte Milos. »Was zu der Razzia geführt hat. Denk darüber nach. Das System hat ausgeschlachtet, was wir fühlten und was wir taten. Aus einer Vielzahl kleiner Unterwerfungen wurde eine große. Die meisten Leute machten sich eines winzigen Verrats schuldig. Das war der Preis, um zu existieren.« Er redete hastig weiter. »Laure, sieh mich an. Um zu überleben, müssen wir das glauben.«
»Kann ich mir vergeben?«
»Das müssen wir.«
Sie dachte an Tomas’ letzte Momente. Voller Furcht und ohne jeden Zweifel mit vielen Schmerzen. Sie hoffte, dass er seinen Glauben nicht verloren hatte. Lass ihn bitte seinen Glauben an die Richtigkeit seines Tuns behalten haben.
Vielleicht hatte er die Musik beschworen, damit sie ihm half.
Vielleicht, ganz vielleicht hatte er gegen Ende auch das ein oder andere Mal an sie gedacht?
Milos hakte Laure bei sich unter, und zusammen gingen sie weiter am Ufer des Kanals entlang. »Ich werde den Pierrot für dich neu auffädeln«, sagte er. »Bevor ich abreise.«