Der Sommer ging zu Ende. Die zerlumpten Laken, die sie ihm gegeben hatten, reichten nicht mehr aus, aber er war es gewohnt zu frieren. Die Landschaft war immun gegen die Eiseskälte. Nichts veränderte sich. Wenn Håkan aus dem Fenster sah, stellte er sich vor, dass es nur bei ihm im Zimmer so kalt war und dass er bloß die Hand hinausstrecken müsste, um die Gluthitze zu spüren, die am Tag seiner Ankunft geherrscht hatte.
Es fiel ihm schwerer, in die Kleider zu kommen. Seine Füße baumelten über die Bettkante. Manche seiner Wächter betrachteten ihn nun mit einer gewissen Furcht.
Håkan dachte nur an Linus. Manchmal stellte er sich vor, wie er es zu undefiniertem, aber extravagantem Erfolg brachte; er malte sich aus, wie Linus verschiedene unbestimmte Anstellungen bekleidete, fest entschlossen, Spektakuläres zu erreichen und eine prominente Position zu erlangen, aber nicht aus Ehrgeiz oder Gier, sondern nur, damit sein kleiner Bruder ihn leichter fand, wenn er ihn suchen kam. Sein Triumph sollte ihm ein Leuchtfeuer sein. Håkan würde in New York ankommen, und der Name Linus Söderström würde in aller Munde sein. Jeder Fremde würde in der Lage sein, Håkan den Weg zu seiner Tür zu weisen. Manchmal waren Håkans Phantasien aber auch zurückhaltender, und er sah seinen Bruder schuften und leiden, durch die feindseligen Straßen jener gigantischen Stadt streifen (die er sich immer noch anhand von Linus’ wunderlichen Beschreibungen vorstellte) und jeden Abend nach der Arbeit zum Hafen zurückkehren, um die Neuankömmlinge und Seeleute nach seinem Bruder zu fragen. So oder so, Håkan war überzeugt, dass Linus ihn finden würde.
Das warme Wetter kehrte zurück, und Håkan hatte das Gefühl, ein Jahr in der Zeit zurückgereist zu sein.
Am ersten heißen Morgen des neuen Sommers, kurz nach Sonnenaufgang, kam einer von Håkans Wächtern ins Zimmer und brachte ihm einen malvenfarbenen Anzug, den er ein paar Wochen zuvor schon einmal angehabt hatte, ein Paar Schuhe mit aufwendigen Schnallen, die er oft tragen musste, und einen flachen Zylinder, der ihm neu war. Es war das erste Mal, dass sie ihm tagsüber Kleider brachten. Man befahl ihm, sich sofort anzuziehen. Zu seiner eigenen Überraschung strich Håkan sich das Hemd glatt, zog das Jackett am Revers herunter, wischte sich über die Ärmel und kümmerte sich um andere Details, alles genau so, wie die Frau es immer tat, nachdem sie ihn angezogen hatte. Der Wärter, der ungeduldig gewartet hatte, führte ihn hinunter zur Bar und durch die Hintertür nach draußen. Ein halbes Dutzend bewaffneter Männer zu Pferd hatte sich hinter dem Dragoner und dem geschniegelten Dicken versammelt. Gleich daneben stand im einzigen Fleckchen Schatten die Kutsche mit ihren angeschirrten, federgeschmückten, arroganten Pferden. Man ließ Håkan einsteigen. Es war, als tauchte er in ein Fass mit schwarzem Sirup. Die Frau ignorierte ihn, als er sich ihr gegenüber hinsetzte. Die Tür wurde geschlossen; die Dunkelheit wurde tiefer. Die Kutsche fuhr in unbekannter Richtung ab, schaukelte auf ihren quietschenden Gurten und Federn, die Samtvorhänge blähten und wölbten sich wie Membranen.
In der verbrauchten, schweren Luft war es fast unmöglich zu atmen. Schweißgetränkt unter dem Samtmantel zitterte Håkan vor Hitze. Selbst in der vollständigen Schwärze der Kutsche spürte er, dass die Frau ihn gezielt nicht ansah. Er schlief ein.
Die Stille weckte ihn. Sie hatten angehalten. Die Tür öffnete sich, und als seine Augen sich an das rasiermesserscharfe Licht gewöhnt hatten, sah er, dass man ihn aufforderte, auszusteigen. Sie waren mindestens einen halben Tag gefahren, aber wäre er von der Landschaft ausgegangen, hätte er gesagt, sie hätten sich keinen Schritt bewegt — dieselbe ununterbrochene Ebene, dieselbe bedrückende Monotonie. Der Kutscher war abgestiegen, um den Pferden Wasser zu geben, die vor Hitze schäumten. Der Rest der Männer stand in einer Reihe und erleichterte sich, bis auf den Dicken, der sich in die Kutsche lehnte, wohl um der Frau seine Dienste anzutragen. Ohne sich jemals zu setzen, aßen die Männer Salzkekse und Blutwurst. Die Frau blieb ungesehen. Noch mit vollen Mündern stiegen die Männer wieder in den Sattel und der Kutscher zurück auf den Bock. Håkan stieg ein und hoffte, dass sie nach Osten fuhren. Nichts anderes spielte für ihn eine Rolle.
Es wurde kühler. Wahrscheinlich wurde es Abend. Plötzlich kratzten zu beiden Seiten Äste an der Kutsche. Anscheinend war die ewig gleiche Steppe an ihr Ende gekommen. Nach einer gewundenen Fahrt durch unebenes Land blieb die Kutsche schließlich stehen. Wieder ließ man Håkan aussteigen. Diesmal folgte die Frau ihm und zog sich einen schwarzen Schleier vor das Gesicht, der ihre Augen bedeckte und ihr über das Kinn strich.
Die blasse Abendsonne strömte durch die kegelförmigen Wipfel von Fichten und Tannen, filterte durch fedrige Wacholderblätter und weißgrüne Espenzweige, bevor sie sich nebelgleich auf Agaven, Moos und Flechten niederließ. Außer dem allgegenwärtigen Wüstenbeifuß waren es die ersten Pflanzen seit langem, die Håkan sah. Auf einer Lichtung am Fuße einer Anhöhe lag ein kleines Dorf von sechs oder sieben Häusern, die, jedes auf seine Weise, rechteckige Versionen des Waldes waren, der sie umgab — das stabilste Gebäude war ein Blockhaus; es gab ein paar wacklige Buden mit Lehmmörtel zwischen den Stämmen; andere waren wie kubische Flöße, bestehend aus rohen, unregelmäßigen Planken und Planen, zusammengehalten von Hanfseilen. In der Mitte des Dorfes befand sich ein Haufen aus Zweigen und Ästen, auf dem sich trockene Blätter kräuselten. Er sah aus wie zum Verbrennen aufgehäuft, wurde aber von Pfosten und Planken getragen. Unter diesem struppigen Dach saß eine Gruppe Kinder auf Baumstümpfen mit Tafeln und Büchern in der Hand und starrte die Neuankömmlinge an. Neben dieser Behelfsschule hatte eine Frau beim Butterstampfen innegehalten, während eine andere sich die Hände an der Schürze abwischte, nachdem sie gerade einen Schmortopf vom Feuer genommen hatte, und eine dritte weiter hinten langsam und mechanisch ihr Garn färbte. Alle drei hielten den Blick auf die gerade angekommene Gruppe gerichtet. Trotz der provisorischen Anmutung war es, soweit Håkan sehen konnte, eine harmonische, florierende Kolonie. Um die kleine Gerberei waren die Felle säuberlich aufgehängt, auf dem Webstuhl nahmen die Muster Form an, aus einem Lehmschornstein stieg sanfter Qualm in die Blätter, es gab ein Gehege mit gesunden, weißen Schweinen, und die Jutesäcke waren prall gefüllt mit Getreide — alles sprach vom Fleiß und von der zielstrebigen Ordnung der Siedler. Die Frauen und Kinder vermittelten ein Gefühl von ruhigem Anstand. Håkan schämte sich für sein Kostüm.
Wie gewöhnlich aktivierte der Dicke seinen inneren Mechanismus (Hemdbrust glattstreichen, Krawatte richten, Haar wischen, räuspern), der ein Lächeln auslöste, das die Ungeduld nur betonte, die es kaschieren sollte, und hielt dann eine seiner pompösen Ansprachen. Er hatte erst wenige feierliche Worte von sich gegeben, die er scheinbar zwischen Daumen und Zeigefinger in die Luft steckte, als die Frau einen Schritt vortrat und die Handfläche erhob, ohne ihn anzusehen.
»Caleb«, befahl sie mit kaum geöffnetem Mund und starrte die Kolonistinnen durch den Schleier an.
Håkan fiel auf, dass er eine Ewigkeit keine Vögel mehr gehört hatte. In der angespannten Erwartung, die dem einzelnen Wort der Frau folgte, schwollen auf der Lichtung ungekannte Lieder an.
Die Färberin trat vor, trocknete sich die blauen Hände und sagte, Caleb sei nicht da.
»Dann rufe ich ihn«, erwiderte die Verschleierte und flüsterte dem Dicken etwas zu, der wiederum dem Dragoner eine kurze Anweisung gab.
Der alte Soldat verschwand hinter der Kutsche und kehrte kurz darauf mit einem wabbeligen Ledersack zurück. Die Dame zeigte auf die Hütte aus Holz und Plane, die am weitesten von der Schule entfernt stand. Der Dragoner schlenderte hinüber, öffnete die Blase, goss die darin enthaltene Flüssigkeit rundum an alle Wände, riss ein Streichholz an und warf es in eine der Pfützen. Die Luft kräuselte sich, aus dem Kräuseln wurden blaue Wellen und aus den blauen Wellen gelbe Flammen. Die Frauen eilten zu den Kindern und holten sie aus der Zweighaufenschule, die nun nichts als Zunder war, den der kleinste Funke von dem nahen Feuer in Brand setzen konnte. Auf Anweisung der verschleierten Frau führte der Dragoner die Siedlerinnen und ihre Kinder zu dem Blockhaus in sicherer Entfernung des Feuers und postierte zwei Wachen vor der Tür. In der Zwischenzeit war das brennende Haus zu einem glatten Feuerball geworden, der sich auf der Stelle zu drehen schien, wobei sich die Flammenspitzen kringelten, um sich in einem immer heftigeren Kreislauf neu zu entzünden. Håkan ging auf und ab und suchte mit verzweifelten Augen nach Wasser. Er fand eine Wanne, in der Kleider einweichten, und schleifte sie Richtung Feuer, wurde aber gleich darauf von einem der Männer aufgehalten und zurück zu der Frau gebracht. Sie lächelte, als rührte sie Håkans tugendhafte Verzweiflung, und streichelte ihm flüchtig die Wange. Die Flammen pfiffen in der Luft. Über dem Feuerball drehte sich wie dessen schwarzes Spiegelbild eine Kugel aus Rauch. Eine Windbö machte aus dem Pfeifen ein Fauchen und blies den Rauch fort, der sich zunächst zur Spirale drehte und dann in die Länge zog und kleine Ringe schlug, in düsteren Schleifen wirbelte und schließlich im dunkelnden Himmel verschwand.
Vom Rauch verhüllt, kam eine Gruppe Reiter den Hügel hinabgaloppiert. Der Anführer zerrte am Zügel und brachte sein Pferd mit einem wütenden Ruck neben der Frau zum Stehen. Tier und Mann schnauften schwer. Mit dem Zeigefinger bedeutete er seinen Freunden auszuschwärmen. Dann sah er zur Frau herunter.
»Du bist gekommen«, sagte sie mit einem Lächeln, nicht unähnlich dem, das sie auch gerade Håkan gezeigt hatte.
Caleb, den jeder Atemzug sichtlich quälte, fragte barsch nach den Kindern. Die Frau nickte in Richtung des Blockhauses. Er stieg ab und lief in engen Kreisen umher, das Gesicht entstellt von verzweifelten Gedanken, bis er stehen blieb und die Frau zornig ansah. Etwas wie Zärtlichkeit filterte durch den Schleier der Frau. Nachdem Caleb einmal heftig das Gesicht verkniffen hatte, konnte er sich beruhigen und rechtfertigte sich im vernünftigsten Ton, zu dem er imstande war. Die Frau blieb still und zeigte immer noch ein sanftes Lächeln, das nicht zu Calebs ernstem Bitten passte, als würde sie durch ihn hindurch in eine andere Zeit schauen. Mit höchster Anstrengung wechselte Caleb den Ton. Im Versuch, den Klang seiner Stimme ihrer Miene anzupassen, schien er angenehme Erinnerungen abzurufen oder sich eine vielversprechende Zukunft auszumalen. Er rang sich sogar ein Lächeln ab. Dann zückte die Frau aus heiterem Himmel eine verschnörkelte kleine Taschenpistole. Caleb starrte sie an wie jemand, dem man ein Rieseninsekt zeigt. Er schaute wieder hoch in den Schleier, und die Frau schoss ihm zwischen die Augen. Sein Kopf wurde zurückgeworfen, gefolgt vom restlichen Körper.
Aus dem Blockhaus drangen die Schreie von Frauen und Kindern. Calebs Männer wurden schnell vom Dragoner und seiner Gruppe zusammengetrieben und entwaffnet. Håkan konnte sich nicht vom Gesicht des Erschossenen abwenden, das der Tod bereits erbleichen ließ. Er war überwältigt davon, wie plötzlich der Mann ausgelöscht worden war. Es war wie Zauberei.
Neben Håkan atmete die verschleierte Frau kurz und ruckartig ein, als könnte sie nur zerbrochene Stücke Luft aufnehmen. Ihr Blick ruhte auf dem Mann, den sie vernichtet hatte. Sie hob die zitternde Hand an den Mund, und bald schwoll ihr kaum hörbares Stöhnen zu einem Heulen an, einem langen Klagen, das sie nur unterbrach, um jene kleinen, zerhackten Luftfragmente einzuatmen, die die Trauer in ihr so zusammenfügte, dass sie als kontinuierlicher Verzweiflungslaut wieder hervorkamen. Die Kinder weinten, die Frauen schrien weiter und trommelten nun an die Tür des Blockhauses. Nach langem, unablässigem Heulen wurde das Schluchzen der Frau so gebrochen wie ihr Atem, sodass auf jedes kurze Luftholen ein ebenso kurzer Schrei folgte. Schließlich, als hätte sie es unvermittelt beschlossen, hörte sie auf. Während sie immer noch auf Caleb hinabstarrte, sagte sie etwas zu einem ihrer Männer, der daraufhin zwei seiner Kameraden herbeiwinkte. Gemeinsam trugen sie die Leiche fort. Die Frau senkte den Kopf und vergrub die Handballen in den Augenhöhlen, bevor sie sich und die Lage wieder in den Griff bekam. Sie richtete sich auf, größer als zuvor, rollte langsam den Schleier auf, befestigte ihn am Hut und öffnete die Augen, die nun vor Wut glühten.
»Du!«, brüllte sie und zeigte auf den Dicken. »Komm her.«
Er kam und blieb ein paar Schritte vor ihr reumütig stehen. Sie betrachteten einander stumm. Die Männer, die die Leiche fortgetragen hatten, häuften nun trockene Äste auf, die sie vom Dach der Schule gezogen hatten. Da der Dicke die Stille nicht ertrug, wischte er sich die Haare zurecht, räusperte sich und begann zu reden. Doch schon bei seinem ersten Wort ließ die Frau die wüsteste Schimpftirade los, die Håkan jemals erlebt hatte.
Gallertartige Hassworte spien aus ihrem fauligen Mund. Sie schoss jede bisherige Sorge in den Wind, ihr Zahnfleisch zu verbergen, ja schien das zerfressene schwarze Loch sogar als höchste Beleidigung und Drohung zur Schau zu stellen, furchteinflößender als die grollend geifernden, missgebildeten Worte, die mit ihrem Speichel herausspritzten. Sie hielt noch die Pistole in der Hand und wies damit immer wieder auf die Leiche und dann auf den Dicken. Die Verbindung zwischen den beiden war der Hauptgrund für die Tirade. Sie schien sich nicht darüber bewusst zu sein, dass ihr Zeigestock eine Waffe war, was diese umso furchterregender machte — als müsste die Frau zwangsläufig deren eigentliche Funktion in Anspruch nehmen, sobald sie ihrer gewahr wurde. Die Frauen im Blockhaus schrien noch lauter und rammten irgendein wuchtiges Objekt gegen die Tür. Die Kinder weinten immer noch. Die Frau trat einen Schritt auf den Dicken zu, beugte sich vor, sodass ihr Gesicht direkt vor seinem war, und überzog ihn mit Beleidigungen und Spucke. Håkan verstand die letzten Worte, unterstrichen von der Pistole, die auf die bewamste Brust des Dicken zeigte — »deine Schuld«. Die Frau fletschte das schwarze Zahnfleisch und zischte. Das Geräusch schien nicht von ihr, sondern von den beiden schimmernden Nacktschnecken in ihrem Mund auszugehen.
Calebs Leiche wurde auf den unordentlichen Scheiterhaufen neben den Ruinen der Schule gehoben.
»Sachte«, befahl die Frau und rollte ihren Schleier herunter. Mit einem Nicken bedeutete sie ihren Wächtern, das Wummern der Frauen zu unterbinden. Die Kinder weinten weiter. Mit einer Kinnbewegung ließ sie den Dragoner den Scheiterhaufen anstecken. Alle Männer, die Angreifer wie ihre Opfer, nahmen die Hüte ab. Das Feuer wuchs schnell. Die Äste knisterten und gaben nach, und die Leiche sank plötzlich in die Flammen, sodass ein unheilvoller Röstgeruch aufstieg.
Nach einem Moment der Stille wandte die Frau, die wieder in vollem Besitz ihrer üblichen Kälte war, sich dem dicken Mann zu und gab ihm einen kurzen Befehl. Mit bebenden Lippen hob er zu einer Reaktion an, aber bevor er auch nur ein Wort hervorbrachte, beschloss er, dass es am besten war zu gehorchen. Er zog seinen Mantel aus, die Weste, die Hemdbrust und das Hemd. Alle Blicke waren auf ihm. Der Abend blutete aus — im dunkelnden Blau schimmerten einige Sterne. Er legte die Schuhe ab und danach die Hose. Die Frau verlieh ihrer Ungeduld Ausdruck. Zögerlich entledigte er sich auch seiner Unterhose und stand schmerbäuchig und milchweiß in nichts als Socken und Strumpfbändern da. Jemand lachte. Eine kaum sichtbare Geste der Frau, und seine Kleider wurden in die Glut des niedergebrannten Hauses geworfen. Ein kurzes Nicken, und die Frauen und Kinder wurden freigelassen. Ihre Männer liefen zu ihnen, aber eine Frau blieb mit ihrem Kind allein. Sie sah sich verwirrt um, aber dann, als sie den Scheiterhaufen sah, sank sie auf die Knie und schluchzte. Die verschleierte Dame beobachtete sie interessiert. Die Männer aus Clangston stiegen auf ihre Pferde, bis auf den Dicken, der zwischen den Siedlern stehengelassen wurde, während der Dragoner seinen Grauschimmel fortführte. Aus dem Mund des Dicken blubberte gestottertes Flehen. Man ließ Håkan zu der Frau in die Kutsche steigen. Sie brachen auf. Bald waren das Stöhnen und Schluchzen des Verlassenen nicht mehr zu hören.
In der zweiten Nacht nach ihrer Rückkehr wurde Håkan ins Zimmer der Frau gebracht. Sie saß an einem kleinen Tisch und zeigte auf den Stuhl gegenüber. Håkan setzte sich und bemerkte eine lederne Werkzeugrolle. Wie sie es manchmal zu tun pflegte, ignorierte sie ihn auf eine bedachte, vorsätzliche Weise und gab sich ungeduldig, als würde seine Gegenwart — die sie gefordert hatte — die Ankunft eines anderen verzögern. Nach langer Zeit öffnete sie die Rolle und breitete sie auf dem Tisch aus. Sie war in Bereiche unterteilt, die Scheren, Zangen, Fläschchen, Knipser, kleine Dolche und andere Gerätschaften enthielten, die Håkan nicht kannte. Die Dame tippte auf den Tisch. Håkan war verwirrt. Gereizt bedeutete sie ihm, dass er die Hände auf den Tisch legen sollte, was er auch tat. Sie drückte sein linkes Handgelenk mit einer Kraft auf den Tisch, die seine Fügsamkeit nicht verdient hatte, holte den größten Knipser aus seinem Fach und bearbeitete damit seine Fingernägel. Seine Hände waren während der Gefangenschaft weicher geworden, aber seine Nägel blieben so rau und kantig wie eh und je — manche wuchsen, bis sie brachen, andere kürzte er mit den Zähnen oder dem Messer, das er zum Essen bekam. Als sie mit dem Schneiden fertig war, machte die Frau sich ans Feilen und dann ans Entfernen und Zurückschieben der Nagelhaut mit einem flachen, scharfkantigen Instrument, vor dem Håkan zusammenzuckte und instinktiv die Hand zurückzog. Die Frau griff sein Handgelenk noch fester und stach zu. Sie durchbrach zwar nicht die Haut, bedeutete ihm aber mit ihrer Bestimmtheit, dass sie ihm das Instrument durch die Hand treiben und diese am Tisch festnageln würde, wenn er sich weiter wehrte. Als die Prozedur abgeschlossen war, feilte und polierte sie ihm die Nägel. Aus einem der Fläschchen gab sie eine fettige Salbe mit Rosenduft auf Håkans Hände und massierte sie ein. Vielleicht weil die Frau ihm noch nie zuvor die Hände liebkost hatte, beschloss Håkan, zum ersten Mal mit ihr zu sprechen.
»Ich muss fort«, sagte er.
Sie sah mit einem Blick von seinen Händen auf, der ein Ereignis zur Kenntnis nahm, das zwar außerordentlich, doch nicht überraschend war. Sie lächelte ihn an.
»Ich kann nicht«, erwiderte sie. »Ich kann dich nicht gehen lassen.«
Sie löschte das Licht und tat etwas, was sie noch nie getan hatte — sie kniete nieder und legte den Kopf auf Håkans Schoß, so wie sonst Håkan knien und seinen Kopf in ihren Schoß legen sollte, dann nahm sie eine seiner schlaffen, gepflegten Hände und streichelte sich damit über das Haar, als spielte sie mit einer Stoffpuppe.
Nach diesen Ereignissen versank das Leben wieder in unveränderter Routine. Auch wenn er Gewalt nicht gewohnt war, ersann Håkan einen Fluchtplan, in dem das stumpfe Messer, das er bei den Mahlzeiten benutzte, eine vage Rolle spielte. Seine Körpergröße, die manche seiner Wächter einschüchterte, ermutigte ihn. Dann aber geschah einige Nächte später etwas, was Håkan die Umsetzung seines unausgegorenen Vorhabens ersparte.
Während der leisen Stunde zwischen dem Schließen der Bar und der Ankunft der zwei Wächter, die ihn zu der Frau brachten, hörte Håkan, wie jemand verstohlen den Riegel vor seiner Tür aufschob. Die Behutsamkeit, mit der das geschah, war ungewöhnlich, und noch außerordentlicher war die Tatsache, dass er nicht wie sonst immer zwei Stiefelpaare die Treppe hinaufkommen gehört hatte. Den ganzen Abend schon hatte der Wind durch Clangston gepfiffen, und nun klapperten und knarzten die Fenster und Wände unter seiner zunehmenden Kraft. Der Riegel glitt immer langsamer durch die Führungen, sicher damit er nicht laut anschlug. Stille. Håkan nahm sich ein Buch, damit er etwas Festes in der Hand hatte.
Die Tür öffnete sich, und dort stand stark vernarbt, verschorft und immer noch nackt der dicke Mann. Sein linker Wangenknochen war angeschwollen und krümmte sich hoch zur entzündeten Augenbraue, sodass das Auge in einer violett schimmernden Fleischmasse versunken war. Er hatte überall am Körper Schnitt- und Brandwunden und Blutergüsse, und seine Füße waren von der Wüstenhitze entstellt. Er sah Håkan mit dem gesunden Auge an und lächelte, wobei einige frisch gebrochene Zähne zum Vorschein kamen. Dann legte er den Zeigefinger über die geplatzten Lippen und machte leise pst, wobei er von der Tür zurücktrat und auf die Treppe zeigte.
»Geh«, flüsterte er.
Håkan sah ihn verblüfft an.
»Geh«, wiederholte er. »Geh jetzt. Geh. Schnell.«
Håkan nahm seine Schuhe, ging an dem Dicken vorbei, dessen böses Grinsen zu einem grotesken, stillen Lachen geworden war, schlich die Treppe hinab, durch die Bar und zur Tür, wo er kurz auf der Schwelle innehielt und losrannte, sobald er die Ebene unter den Füßen hatte.