Da der Anfang und das Ende der Karawane sich hinter den Horizont krümmten, erschien sie aus der Ferne bewegungslos. Erst als er näher kam, konnte Håkan die schwerfälligen Tiere erkennen, die die wuchtigen Wagen zogen, und die Menge der Männer, Frauen, Kinder und Hunde, die nebenher trotteten. Wenige Menschen ritten. Beinahe alle Sättel waren leer; die meisten Sitze frei. Neben den Gespannen marschierten ihre Lenker, ließen lange Peitschen knallen (oder wandten sie an), ermutigten oder beschimpften die angeschirrten Tiere. Alle waren jung, sahen aber alt aus. Die meisten Reisenden waren mit der alles vereinnahmenden Aufgabe des Vorankommens beschäftigt — sie trieben die Ochsen an, justierten das Geschirr, zogen gelöste Verschlüsse nach, tauschten Räder aus, zogen Reifen auf, schmierten Achsen, lenkten die Herden, wiesen ihre Kinder an. Manche kamen zu häuslichen Momenten auf ihren fahrenden Wagen zusammen: Sie aßen, beteten, musizierten, unterrichteten sogar die Kleinen. Einige zogen von einer Gruppe zur nächsten, handelten und tauschten. Und überall waren Hunde. Manche trotteten faul und vor der Sonne geschützt unter den Wagen mit, aber die meisten liefen in Rudeln umher, tänzelten zwischen den Beinen der Pferde und Rinder, schnappten und kläfften, piesackten die Ochsen, schnüffelten nach Nahrung, kämpften miteinander und fingen sich Rippentritte ungeduldiger Stiefel ein. Neben der Fahrspur hatten mehrere Emigranten bei einem kaputten Wagen haltgemacht und halfen, aus einem Stamm eine neue Achse zu formen. So weitab vom Weg, wie es die Sicherheit erlaubte, stand eine Gruppe Frauen im Kreis, das Gesicht nach außen und den Rock breit gefächert, sodass ein mehrfarbiger Sichtschutz entstand. Wann immer eine Frau aus der Mitte herauskam und ihr Kleid richtete, ging eine andere hinein. Gelegentlich hallte aus der Ferne ein Gewehrschuss und wurde ignoriert. Späher verließen die Karawane, andere kehrten zurück. Wann immer Håkan an einem Wagenzug vorbeikam, verstummten die Leute und starrten ihn unter ihren Hüten und Hauben an, die Augen unsichtbar im Schatten unter den Krempen. Für Augenblicke trat Stille ein, und Håkan konnte nur das Knirschen der Eisenreifen hören, das Rasseln des Geschirrs, das trockene Stoßen von Holz auf Holz und das steife Flattern von gewachstem Stoff.
Die Seiten der Fahrspur waren eine lange Latrine, zu der Männer wie Frauen Eimer für Eimer beitrugen. Hier und da ragten wie unregelmäßige Meilensteine Haufen aus faulem Speck und Innereien aus dem Schlamm. Tote Kühe und Pferde — manche gehäutet — verdorrten in der Sonne. Håkan ging weiter gegen den Strom der Wagen. Es war unvorstellbar, dass die gedrängte Prozession ein Ende hatte. Lorimer hatte recht gehabt, als er sie als eine riesige Stadt beschrieb, die sich zu einer dahinkriechenden Linie ausgestreckt hatte.
Manche Reisende tippten einander an und kicherten über Håkans Aufzug. Aber größtenteils betrachteten sie ihn mit stummer Neugier. Niemand grüßte ihn. Er sah ein junges Paar — nicht viel älter als er, glaubte er —, und während er versuchte, seine Schüchternheit zu überwinden, wechselte er die Richtung und ging auf der anderen Seite des schleimigen Baches neben ihnen her. Sie beobachteten ihn heimlich und flüsterten einander besorgt zu. Schließlich fand Håkan den Mut, sie anzusprechen. Er stellte sich vor. Höflich taten sie so, als hätten sie seinen Namen verstanden und er die ihren. Eine lange Stille folgte. Der Mann feuerte seine Tiere an. Håkan fragte, ob sie ein Pferd zu verkaufen hätten. Sie selbst konnten keins ihrer Tiere entbehren, aber sie verwiesen ihn an einen Mann ein paar Wagen weiter, der mehr Vieh hatte als jeder andere in ihrem Treck. Er dankte dem Paar und holte den genannten Mann ein. Nach einem kurzen, gescheiterten Gesprächsversuch verkündete Håkan sein Anliegen. Der Mann nannte ihm eine enorme Summe, die Håkans gesamtes Vermögen — das er bisher für respektabel gehalten hatte — unbedeutend erscheinen ließ.
Den Rest des Nachmittags ging Håkan immer wieder den Emigrantenzug auf und ab und fragte jeden, ob er ein Pferd zu verkaufen habe. Die Verkäufer verlangten stets vollkommen unbezahlbare Preise, die zudem in keinem Verhältnis zueinander standen — einer wollte fast hundert Mal mehr als die ohnehin schon exorbitante Summe, die ein anderer genannt hatte. Seit er in San Francisco an Land gegangen war, waren alle Handelsgeschäfte, die er erlebt hatte, aufs Extravaganteste vollzogen worden, stets diktiert von den Umständen. Das Pfund Speck, das die Schürfer in der Wüste in Gold bezahlt hätten, lag nun neben dem Emigrantenpfad und verdarb. Ein einfaches Stück Holz, das keinem Trapper jemals aufgefallen wäre, brachte nach einem Achsbruch auf der baumlosen Ebene ein Kalb ein. Pferde waren das einzige Gut, das von diesen drastischen Schwankungen nicht betroffen war. Sie blieben immer gleich unerschwinglich. Und nicht nur das: In der Regel waren sie komplett vom Handel ausgeschlossen. Niemand war bereit, sich von seinem Pferd zu trennen, ungeachtet der gebotenen Summe, und wer doch zum Verkauf gezwungen war, glaubte immer, er wäre betrogen worden, selbst wenn der erhaltene Betrag astronomisch war — wahrscheinlich, weil er wusste, dass er das Verkaufte niemals würde ersetzen können. So schmerzhaft Pingos Verlust ohnehin schon war, machte ihn dieses Wissen nun vollkommen unerträglich. Jeden Tag wurde Håkan von dem Hochgefühl heimgesucht, das er auf seinem eigenen Pferd erfahren hatte und das so intensiv gewesen war (sein Körper hatte es kaum fassen können), dass es Wellen durch die Zeit schlug, die nun in die Gegenwart brandeten.
Auch wenn es alles andere als ideal war, glaubte er, dass ein Fußmarsch nach New York keine vollkommen verrückte Idee sei. Es regnete oft genug, und solange er entgegen dem Emigrantenstrom ging, würde er seine Vorräte aufstocken können. Er wollte sich gerade mit diesem Plan abfinden, als ein bewaffneter Reiter auf ihn zukam. Er blieb in sicherer Distanz stehen.
»Abend«, sagte der Mann, dessen Vollbart noch zu seinem Schnauzer aufzuholen hatte, der wohl zuerst da gewesen war. In diesem üppigen Dickicht leuchtete ein ruhiges, doch kräftiges Lächeln, und unter einem Paar dichter Augenbrauen — den fortgelaufenen Kindern des Schnauzers — schimmerten glitzernd grünblaue Augen, die sich zwar scharf auf Håkan konzentrierten, dabei aber mit maushaftem Eifer nach links und rechts huschten. Seiner ganzen Erscheinung war etwas Sonniges, gar Melodisches zu eigen. Er wirkte wie der glücklichste Mann, den Håkan seit seiner Ankunft in Amerika gesehen hatte — vielleicht sogar in seinem ganzen Leben. Håkan erwiderte den Gruß, und der Mann hielt eine Art Willkommensrede, von der Håkan kaum etwas verstand. Dennoch fiel ihm auf, dass der Klang, Tonfall und Rhythmus der Stimme nicht zum Gesicht des Mannes passten — die Anordnung seiner Züge ergab ein fröhliches Bild, das jedoch keinen inneren Zustand widerspiegelte. Als sein erster Gesprächsversuch scheiterte, verstand der Mann, dass der Neuankömmling nur begrenzt Englisch verstand, und sprach fortan langsamer und, wie viele es bei Ausländern tun, lauter. Håkan beantwortete die Fragen, so gut er konnte, während der Mann nickte, als könnte er mit dem Kinn die Worte aus der Luft schaufeln, die der Schwede ausließ. Man stellte sich vor (Hawk? Hawk kann? Hawk kann was?), und Jarvis lud Håkan zum Abendessen mit seiner Familie ein.
Als sie sich aufmachten, wurde schnell klar, dass in diesem Treck Zwietracht und Verbitterung weit verbreitet waren und dass es mindestens zwei Lager gab — diejenigen, die Jarvis herzlich grüßten, als er vorbeiritt, und diejenigen, die sich mit feindseligem Blick von ihm abwandten.
»Du brauchst ein Pferd, hab ich gehört«, sagte der Mann.
»Ja.«
»Willst du eins von meinen?«
»Wie viel?«
»Du hast sicher Hunger.«
Abigail, Jarvis’ verhärmte und stets in eine Wolldecke gehüllte Frau, besaß nichts von der Freude und Heiterkeit, die das Gesicht ihres Mannes so strahlend, wenn auch vermutlich absichtslos, zur Schau stellte. Sie war eine knochige ältere Dame, entstellt von Erschöpfung und Bitternis. Ihre Kinder verärgerten sie. Die Elemente verärgerten sie. Ihr Mann verärgerte sie. Die Tiere verärgerten sie. Håkan verärgerte sie.
Die Sonne ging bald unter. Als wäre es so vereinbart, schallten überall aus der Karawane Rufe und Kommandos, und der Zug hielt. Mit Mühe, aber auch sauber abgestimmt, fuhr man die Wagen aus der Furche und fächerte sie abseits des Weges auf. Über der Ebene hallten die Pfiffe und wenigen Worte, die die Ochsen wohl verstanden — Auf geht’s! Yah! Auf geht’s! Stück für Stück und (trotz der beschwerlichen, trägen Manöver) mit unerwarteter Anmut wurden die Wagen in weiten Kreisen angeordnet, die Hinterachsen an die Deichseln gekettet. Die Ochsen wurden abgeschirrt und durften sich innerhalb dieser improvisierten Einpferchung mit den anderen Rindern frei bewegen, während dem Rest des Viehs und den Pferden die Beine locker aneinandergefesselt wurden, bevor man sie grasen ließ. Kautschuktücher wurden auf dem Boden ausgebreitet, das Kochgeschirr wurde herausgeholt. Während die Männer außerhalb des Kreises wacklige Zelte aufschlugen, holten die Frauen harte, braune Scheiben aus Säcken und Kisten, schichteten sie mit etwas Zunder auf und steckten sie an. Håkan sah Abigails Häuflein an und fragte, was das für Blöcke seien. Sie ignorierte ihn. Er nahm einen aus ihrer Tasche und roch daran. Dung. Jarvis sah ihn die Scheibe untersuchen und erklärte, dass es, wie Håkan sicher selbst bemerkt habe, auf der Ebene kein Holz gebe, weshalb sie als Brennmaterial auf getrockneten Bisonmist zurückgreifen müssten. Die Blöcke sorgten für ein gleichmäßiges, rauchloses Feuer, das heller brannte, wenn von den Spießen das Fett des Bisonfleisches hineintropfte. Wie Håkan später erfuhr, war dieses Fleisch, mit Speck und Maismehl in Bisonfett gebraten, ihre Alltagsspeise. Das Kochgeschirr wurde nie vollständig gereinigt, sodass sich am Boden jedes Topfes, jeder Pfanne und jeder Schüssel eine Kruste aus diesen Zutaten bildete, die allem, was man hineintat (eingemachtem Gemüse oder den in warmem Brandy eingelegten Trockenäpfeln, die es zu besonderen Anlässen gab), den gleichen Geschmack verlieh.
Beim Abendessen fragte Jarvis Håkan über ihn und seine Reisen aus. Sie verstanden einander nicht ohne weiteres, aber Jarvis blieb hartnäckig und heiter, wozu ihm sein Äußeres nutzte. Besonders neugierig war er bei der Frau aus Clangston und ihrer Bande (Wie viel Mann? Welche Waffen? Wo genau war die Stadt?). Auch auf das exakte Ziel Lorimers und seines Färtenlesers kam er immer wieder zu sprechen. Umgekehrt blieben seine Antworten auf Håkans Fragen vage, und bei allem, was unmittelbar ihn selbst betraf, winkte er einfach ab. Hinter ihnen, außerhalb des Feuerscheins, wurde ein Kind mit dem Riemen geprügelt. Während Håkan zum dritten oder vierten Mal versuchte, Clangstons Lage zu erklären — was aufgrund seines beschränkten Vokabulars und seines mangelnden Orientierungssinnes aussichtslos war —, wurde er von einem stämmigen Farmer unterbrochen, der den Hut abnahm und nervös knetete, als er vor sie trat.
»Mr Pickett, Sir«, murmelte der große Mann, der seine Schüchternheit kaum überwinden konnte.
»Jarvis«, erwiderte Håkans Gastgeber und verließ sich wieder auf sein fröhliches Gesicht. »Und lass das Mister bleiben. Ich habe dir doch gesagt, ich bin einfach Jarvis«, ermahnte er den anderen freundlich.
»Mr Jarvis, Sir«, stammelte der bärenhafte Mann und hielt ihm ein Säckchen entgegen. »Von meiner Frau, Sir. Mit besten Grüßen.«
Es sah aus, als wollte er einen Knicks machen, als er in die Knie ging, um Jarvis das Geschenk zu übergeben, der auf der Plane saß und es feierlich entgegennahm.
Ein Peitschenhieb und ein gedämpfter Schrei drangen aus dem Zwielicht.
»Edward«, sagte Jarvis voll ernster Anerkennung. »Danke. Vielen Dank.«
Edward betrachtete seinen erwürgten Hut. Jarvis öffnete das Säckchen und streute eine Handvoll kandierte Pekannüsse aus. Er probierte eine. Der buschige, blonde Schnurrbart tanzte bei jedem Knuspern. Edward schaute weiter seine Hände an, die den Hut zerquetschten. Ein Hieb und ein Schrei.
»Wahre Goldnuggets sind das. Wann habe ich das letzte Mal welche gegessen? Vor Jahren?«
»Von meiner Frau, Sir.«
»Ja, bitte — bitte — richte ihr meinen Dank aus.« Er wollte gerade eine weitere Nuss essen, bevor er innehielt. »Entschuldigung«, sagte er und hielt Edward das Säckchen entgegen. »Bitte.«
»Danke, Sir, aber nein.«
Auch Håkan lehnte ab. Jarvis zuckte die Schultern, aß eine weitere Pekannuss und legte den Beutel neben sich. Edward wünschte ihnen eine gute Nacht, ging ein paar Schritte rückwärts, wandte sich dann um und verschwand.
Ähnliche Szenen mit anderen Besuchern und Geschenken spielten sich im Laufe des Abends noch mehrfach ab, während Jarvis Håkan immer wieder dieselben Fragen stellte (»Und wo sind sie? Gewehre und Pistolen, ja? Wie viele sind es noch gleich?«). Zaghafte, unterwürfige Männer und Frauen überbrachten Jarvis ihre Gaben — Tee, Sirup, ein Taschenmesser, getrocknete Kürbisse, Tabak, Silber. Und jedes Mal zeigte Jarvis sich bescheiden, aber würdig.
»Das Pferd also«, sagte Jarvis, nachdem er eine Decke von einem Mädchen angenommen hatte, das ein Baby hielt, das seine Schwester, aber ebenso gut seine Tochter sein konnte. »Ich habe eins für dich.«
»Wie viel?«
»Ach, bitte«, erwiderte Jarvis mit freundlicher Empörung.
Eine Pause folgte. Wahrscheinlich wartete Jarvis darauf, dass Håkan die Stille brach und ihn noch einmal bat, seinen Preis zu nennen.
»Kannst du mit einer Waffe umgehen?«, fragte Jarvis, als die Ruhe unangenehm wurde.
Håkan wirkte verwirrt.
»Eine Waffe«, wiederholte Jarvis, formte eine Fingerpistole und ließ den Daumen feuern.
Håkan schüttelte den Kopf.
»Hör zu«, sagte Jarvis. »Den meisten Leuten hier liege ich am Herzen. Hast du ja selber gesehen. Also.« Er zeigte auf die Geschenke und zuckte die Schultern. »Aber es gibt da auch ein paar, die … Hör zu. Die Leute rackern sich jeden Tag ab. Das alles hier ist ihr ganzes Hab und Gut. Und manche werden unruhig. Ich fürchte, einige trachten mir womöglich nach dem Leben.«
Håkan schaute nach unten.
»Du bist ein großer Kerl. Alleine unterwegs. Kein Besitz. Keine Familie. Ich könnte deine Hilfe brauchen. Reite bei mir mit. In ein paar Wochen sind wir da. Dann hast du dein Pferd. Die verlorene Zeit holst du schnell wieder auf. Was sagst du?«
»Ich weiß nicht.«
Håkan war sich ihres Standorts nicht sicher (waren sie näher an der Pazifikküste oder an New York?) und hatte keine Anhaltspunkte, ob es sich lohnte, zunächst Jarvis zu folgen, um danach mit dem Pferd schneller zu sein, oder ob er lieber gleich zu Fuß ostwärts aufbrechen sollte. Zu bedenken war aber auch die Arbeit, für die er angeheuert wurde, samt der Risiken, die damit einhergingen. Der Unmut innerhalb des Trecks war greifbar, die Feindseligkeit vieler gegenüber Jarvis nicht zu übersehen. Aber anders als die launischen Goldgräber, die Håkan auf seinem Weg getroffen hatte, anders als die Bande aus Clangston und Lorimers Fährtenleser und seine Männer hatten diese Leute hier ihre Familien bei sich. Sie arbeiteten hart, versorgten ihre Kinder und lasen in der Bibel. So verärgert sie auch sein mochten, konnte Håkan sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen kaltblütig jemanden erschoss. Außerdem mochten viele Jarvis auch — das bewiesen die vielen Geschenke. Welche Gründe Jarvis’ Gegner auch haben mochten, Håkan konnte sich nicht vorstellen, was Jarvis getan haben sollte, das seine Furcht vor Vergeltung rechtfertigen würde. Er dachte an Linus und fragte sich, was sein Bruder, der niemals auch nur das geringste Anzeichen von Unentschlossenheit zeigte, tun würde. Hätte er die Elemente dieses Dilemmas — Waffen, Pferde, Meuterei, die Wildnis — als vollkommen erwartbare Umstände genommen und eine Antwort parat gehabt? Håkan wusste nur, dass dies wohl seine einzige Gelegenheit war, jemals ein Pferd zu bekommen.
»Hör zu, reite einfach ein paar Tage mit uns und lass es dir durch den Kopf gehen. Ich gebe dir auch noch einen Sattel dazu.«
Als das Feuer erstarb, lag ein beträchtlicher Gabenberg auf Jarvis’ Plane. Er schlug alles in die Decke, die man ihm geschenkt hatte, wünschte Håkan eine gute Nacht und zog sich in seinen Wagen zurück. Die Prügelstrafe, die eine Weile ausgesetzt hatte, fuhr in der Dunkelheit fort.
»Aufstehen! Aufstehen! Aufstehen!« Beim ersten Tageslicht erfüllten die Rufe die Luft. Nun brüllten auch die Esel und zwangen selbst die tiefsten Schläfer dazu, aufzuwachen, auszusteigen und sich an die Arbeit zu machen. Zelte wurden aufgerollt; Gebäck aus Mehl und Wasser brutzelte im Fett; Ochsen wurden wieder unter ihr Joch gerungen; Zugtiere vor Wagen gespannt; Planendächer auf dem Gestänge zurechtgezogen. All diese Vorbereitungen geschahen unter den aufmerksamen Blicken der Hunde, die zwischen den verschwindenen Resten des Lagers umherliefen. »Auf geht’s! Auf geht’s! Auf geht’s!«, hallte nun der Ruf über die Ebene, und die Wagen kehrten auf die Fahrspur zurück, um ihre langsame Reise fortzusetzen.
Später am Tag nahm Jarvis, der eine Schaufel und ein gebrochenes Wagenrad am Sattel trug, Håkan mit auf einen Ausritt. Sie ritten nach Süden, fort von der Fahrspur, und machten halt, als die Karawane hinter ihnen verschwunden war. Nach dem Absitzen bat Jarvis Håkan um Hilfe, das Rad ein Stück einzugraben und mit Steinen abzustützen, sodass es aufrecht stand. Als dies vollbracht war, entfernten sie sich etwa fünfzehn Schritte davon, und Jarvis zog aus einer inneren Brusttasche die seltsamste Pistole, die Håkan jemals gesehen hatte. Am Griff und am Abzug war nichts Außergewöhnliches, aber der Rest der Waffe war monströs, als hätte irgendeine schlimme Krankheit ihn bis zur Entstellung anschwellen lassen. Die Waffe hatte sechs wuchtige Läufe, die im Kreis um eine Mittelachse angeordnet waren. Von vorne betrachtet ähnelten die sechs Mündungen einer grauen Blume. Sie roch nach Öl und Schwefel.
»Ganz recht«, sagte Jarvis und lächelte die Waffe verträumt an. »Du hast bestimmt noch nie eine Pfefferbüchse gesehen.«
Er spannte den Hahn der ungeladenen Pistole und drückte mehrmals den Abzug. Nach jedem Klicken erhob sich wieder der Hahn, wenn Jarvis abdrückte, und die Läufe drehten sich, sodass gerade rechtzeitig für den nächsten Aufschlag ein neuer Zylinder unter dem Zündstift landete.
»Siehst du? Keine Pause mehr zum Nachladen. Und nicht mehr dieses ewige Geschiss mit dem Steinschloss. Der kann einen das Leben kosten. Doppelt und dreifach!« Er lachte. »Während du damit rumhantierst, haben sie dich zweimal umgelegt.« Er drückte immer wieder den Abzug, die Läufe drehten sich weiter, und der Hahn schlug auf die leeren Kammern. »Nein, nein. Bloß kein Steinschloss mehr. Man legt nur diese hier ein«, erklärte er, während er ans Ende jedes Laufes ein Zündhütchen setzte. »Und dann kann es losgehen. Nicht ein Schuss, nicht zwei, sondern sechs«, sagte er, als er die Kugeln geladen hatte. »Schau.«
Jarvis zielte und feuerte mehrmals schnell auf das Wagenrad. Das scharfe Knallen wurde gedämpft von der gekrümmten Weite, die sie umgab.
Das Rad blieb unversehrt stehen.
»Tja, leicht zu zielen ist die Waffe nicht, kopflastig, wie sie ist. Eigentlich soll man sie auf den Sattelknauf gestützt feuern.«
Er machte sich wieder ans Laden.
»Das dauert etwas. Aber dann hat man sechs Schüsse.« Eine lange Pause. »Sechs.« Eine lange Pause. »Sie spüren gar nicht mehr, wie ihnen die Kugel die Eingeweide zerreißt.«
Håkan setzte sich auf den Boden. Die Pferde starrten ihn an.
»Gehen wir ein bisschen näher ran«, sagte Jarvis, als er fertig war.
Sie traten sechs oder acht Schritte an das Wagenrad heran. Jarvis zielte und schoss. Diesmal ging er bewusster vor und nahm sich vor jedem Schuss einen Augenblick Zeit. Doch das Rad blieb unversehrt.
»Vielleicht sind sie zwischen den Speichen durchgegangen?«, fragte Jarvis sich laut.
Er ging wieder zu seinem Pferd, nahm die aufgerollte Decke hinter dem Sattel, kehrte zu dem halbvergrabenen Rad zurück, hängte den Stoff darüber und begann wieder den langwierigen Prozess des Nachladens.
»Sie haben für mich gestimmt, weißt du? Ich bin gewählter Anführer unseres Trecks.« Jarvis schaute nicht von seiner Waffe auf. »Leute aus anderen Trecks haben sich uns angeschlossen. Ich habe nämlich Kontakte auf der anderen Seite. Wichtige Leute. Ich kann bei Ankunft hundertdreißig Hektar garantieren. Mindestens. Und ich kenne den Weg. War vor ein paar Jahren schon mal im Westen und bin dann zurück, um Frau und Kinder nachzuholen. Also schon das dritte Mal hier draußen. Kurzum: ein Mann, der weiß, wo es langgeht, und am Ende der Reise etwas zu bieten hat. Und doch. Zwist, Einwände, Misstrauen. Neid? Ich weiß es nicht.«
Er ging bis auf zwei oder drei Schritte an das Rad heran, dann schoss er. Die Decke tanzte wie ein verrückter Geist auf dem Radkranz. Bei der fünften Kugel kippte das Rad um. Jarvis trat vor und erledigte das Gebilde mit dem letzten Schuss.
Der harte Marsch, der allabendliche Bau der Wagenburg, in dessen Mitte die Rinder grasten, die kurzen Abendessen und die hastigen Vorbereitungen am Morgen wiederholten sich unverändert Tag für Tag. Auf Jarvis’ Wunsch hin trug Håkan die Pistole jederzeit bei sich und sorgte dafür, dass sie stets zu sehen war. Größtenteils blieben die beiden Männer beieinander, andere hielten sich von ihnen fern. Wenn Jarvis ihm freigab, ritt Håkan den Treck auf und ab. Mit der Zeit fiel ihm auf, dass er bei diesen Ritten die gleiche Behandlung erfuhr wie Jarvis, als sie das erste Mal an den Wagen vorbeigekommen waren — einige zeigten sich extrem unterwürfig (manche entblößten sogar den Kopf), andere dagegen sahen ihn mit finsterem Blick an (manchmal meinte er, hinter sich jemanden ausspucken zu hören). Während Abigail ihre verschrumpelte Bitterkeit behielt, wirkte Jarvis so fröhlich wie immer. Und jeden Abend nahm er mit feierlicher Dankbarkeit die Gaben an, die seine Mitreisenden ihm zu Füßen legten.
Ablenkungen gab es wenige, und die allumfassende Monotonie der Reise nahm ihren Tagen jede Substanz. Jeder Schritt in der unveränderten Landschaft glich dem davor; jede Handlung war gedankenlose Wiederholung; jeder Mann und jede Frau wurde von irgendeinem vergessenen, aber noch funktionierenden Mechanismus angetrieben. Und zwischen ihnen und dem unerreichbaren Horizont der Staub — immer der Staub. Er brannte in den Augen, verstopfte die Nasenlöcher und trocknete den Mund aus. Obwohl sie das Gesicht mit Taschentüchern schützten, spürten sie, wie er die Kehle zerfraß und die Lunge verschrumpelte. Selbst die Sonne, rot und ungewiss, wurde hinter der bewegungslosen Wolke erstickt. Mehrmals am Tag, selbst bei ruhigem Wetter, konnte man vor Staub vom Wagen aus nicht mehr die eigenen Ochsen sehen. In diesen Momenten — vor allem, wenn der Wind pfiff und jedes Sandkorn zum Geschoss machte, und sie mit geschlossenen Augen weiterziehen mussten — wurde das Gefühl des Stillstands und der Unveränderlichkeit perfekt, und Raum wie Zeit schienen aufgehoben. Regen war eine Wohltat, die gelegentliche Schwierigkeiten im Schlamm aufwog. Er band den Staub, wusch üble Gerüche fort (die allerdings umso heftiger wiederkehrten, wenn die nassen Kleider, Tiere und Vorräte hinterher in der Sonne dampften) und versorgte sie mit Trinkwasser, in dem es ausnahmsweise nicht von Tierchen wimmelte.
Der letzte große Regen auf dem Emigrantenpfad dauerte mehrere Tage. Ununterbrochen peitschten ihnen die Tropfen waagerecht ins Gesicht und ließen ihre Hände und Füße aufquellen. Die Kleider klebten ihnen kalt und schwer am Körper. Da sie kein Feuer in Gang brachten, konnten sie das Bisonfleisch nicht rösten, von dem sie sich sonst ernährten. Tiefer Schlamm; zäher Schlamm; rutschiger Schlamm. Aus dem Weg wurde schwerer Morast, und im Fauchen des Sturms war jederzeit auch das Schmatzen der Hufe und Stiefel zu hören, die sich wie Saugglocken aus dem Lehm emporzogen. Auch wenn die fügsamen, starken Tiere — vom Regen geschwärzt und abgemagert — den Zug in Bewegung hielten, kamen sie nur noch im Schneckentempo voran.
Als die Fahrspur kein Wasser mehr aufnehmen konnte, verwandelte sie sich in einen flachen Bach. Tiere und Wagen blieben in der sumpfigen Furche stecken. Bei manchen versanken die Räder bis zur Achse. Jeden Tag, oft mehr als einmal, mussten Männer knietief im Schlamm ihre Wagen entladen, um sie freizubekommen, dann wieder beladen, die Ochsen antreiben und in der Hoffnung weiterfahren, dass sie nicht bereits wenige Schritte weiter erneut hängen blieben und von vorne anfangen mussten. An einem kalten Morgen, als der peitschende Regen kurzzeitig von Graupel abgelöst wurde, blieb der Wagen vor dem von Jarvis in einem besonders tiefen Loch stecken. Ohne etwas zu sagen, half eine Gruppe Männer (darunter Håkan und Jarvis) den Wagen entladen, die Räder anheben und, nachdem jemand eine Planke unter einen der Eisenreifen gelegt hatte, das Gefährt voranschieben. Ausrutschende Hufe, Schreie, Peitschenhiebe. Wie immer waren auch ein paar Kinder dabei, die begeistert mithalfen, nach jedem Schub keuchten und die Arme stolz in die Hüften stützten. Nach einigen Versuchen kam der Wagen schließlich frei und ruckte vorwärts. Håkan und einige andere fielen mit dem Gesicht voran in den Schlamm. Alle jubelten. Als er aufstand, sah er durch den Schleier aus trübem Wasser eine kleine Hand und griff danach, um dem Jungen aufzuhelfen. Das fehlende Gewicht der Gliedmaße war entsetzlich. Mit den Schreckensschreien kam die Erkenntnis, was geschehen war. Einige Schritte entfernt lag der reglose Körper des Jungen, dessen abgetrennten Arm Håkan hielt.
Das bewusstlose Kind wurde in den Wagen gehoben, während Håkan loslief, um seine medizinischen Instrumente zu holen. Erst als er bei seinem Esel ankam, merkte er, dass er den Arm mitgenommen hatte. Er eilte zurück, und als er dem Vater den Arm des Sohnes ausgehändigt hatte, wollte er in den Wagen steigen.
»Scher dich fort«, sagte der Mann. »Mr Picketts Wachhund können wir hier nicht gebrauchen.«
»Ich kann helfen«, erwiderte Håkan.
Der Mann zog die Plane vor Håkan zu.
»Ich kann helfen«, wiederholte er.
Keine Reaktion. Einige Schaulustige hatten sich um den Wagen versammelt. Håkan schob die Plane beiseite und stand dem verzweifelt wütenden Blick des Vaters gegenüber. Eine Frau, die zu jung aussah, um die Mutter des Jungen zu sein, hastete mit zielloser Eile im Wagen umher.
»Ich kann helfen.«
Håkan öffnete seine Blechkiste und zeigte dem Mann seine Instrumente. In all der schlammigen Verwirrung schimmerte aus den Werkzeugen ein Versprechen von Ordnung und Sauberkeit. Selbst für Håkan sahen sie aus wie Talismane aus der Zukunft. Der Mann ließ ihn ein.
»Feuer«, sagte Håkan, während er den verbleibenden Armrest abband. »Schnell!«
»Was? Der Regen. Wie denn?«
»Feuer schnell! Hier drinnen. Feuer machen. Wasser kochen.«
Håkans Entschlossenheit und Geschick beim Versorgen der Wunde beeindruckten den Mann wohl, denn er stellte die seltsame Aufforderung nicht infrage, sondern machte sich gleich ans Werk. Er zerschlug einen Melkschemel und eine Kiste mit einem Vorschlaghammer und legte die Splitter in einen großen Kochtopf. Das Holz war zu feucht. Hektisch kramte er in den Taschen und suchte nach Zunder. Alles war entweder zu groß oder zu feucht. Håkan sah mit sorgenvollem Blick von dem Jungen auf. Schnaufend durchwühlte der Mann den Wagen, bis er plötzlich innehielt, als ihm etwas einfiel. Er holte eine Schachtel hervor, die in einer Kiste gelegen hatte. Die Frau keuchte und schlug beide Hände vor den Mund. Der Mann zog ein Bündel aus der Schachtel, in dem sicher und trocken die Familienbibel lag. Ohne zu zögern, riss er mehrere Seiten aus, die so dünn waren, dass sie in seinen Händen knisterten, bevor sie angezündet wurden. Das Papier wurde unter die Holzsplitter in dem Kochtopf gestopft und brannte mit geisterhaft violettem Schimmer, und bald fing auch das Holz Feuer.
»Regenwasser kochen. Nicht zu viel«, sagte Håkan.
Der Mann holte einen der Eimer herein, die außen an der Rückseite des Wagens hingen, und goss zwei oder drei Finger breit Wasser in einen kleineren Topf, den er auf ein Rost stellte, das er zuvor auf den großen Topf mit dem Feuer gelegt hatte. Bald kochte das Wasser, und Håkan legte seine Instrumente hinein, während er leise vor sich hin summte.
»Schnaps?«, fragte Håkan schließlich, während er weiter ins kochende Wasser blickte.
Der Mann starrte ihn an.
»Schnaps«, wiederholte Håkan, sah auf und trank aus einem imaginären Glas, indem er mit der Hand einen Halbkreis formte.
Der Mann nahm eine Flasche aus einem Korb und gab sie Håkan, der sich die Hände mit der klaren Flüssigkeit einrieb, die stark und bis auf schwache Bienenwachs- und Modernoten ausschließlich nach Alkohol roch. Vater und Tochter schauten zu, die Gesichter ebenso vom Grauen des Unfalls verzerrt wie vom Staunen über Håkans Forderungen und Taten. Håkan nahm die Instrumente aus dem kochenden Wasser, ließ sie abkühlen und ging ans Werk.
Er hatte Lorimer und dem kurzhaarigen Indianer bei Amputationen geholfen, aber noch nie einen so schlimmen Fall gesehen wie diesen. Eine Handbreit über der Stelle, wo der Ellbogen gewesen war, hatte das Wagenrad das Fleisch zu dunkler Paste zerrieben und den Knochen zu Stücken und Splittern zermalmt. Überaus vorsichtig reinigte Håkan die Wunde mit Alkohol und schnitt die losen Fleisch- und Nervenfasern ab. Dann suchte er die Hauptschlagadern und band sie mit Faden ab, wonach er vier senkrechte Schnitte in den gesunden Teil des Arms vornahm, durch den Muskel bis hinunter auf den Knochen, und zwei Hautlappen formte. Er schob den Bizeps hinauf, wobei sich auch die Haut anhob, sodass er den Knochen knapp über der zertrümmerten Stelle absägen konnte. Bei dem Geräusch schluchzte die junge Frau. Nachdem er den Oberarmknochen gekürzt und abgeschliffen hatte, ließ Håkan das Fleisch herunter, nähte die Muskeln über den Knochen und die Hautlappen über die Muskeln und rieb den Stumpf mit einer der Salben ein, die der kurzhaarige Mann ihm gegeben hatte.
Der Regen trommelte auf die Planen und klimperte in den Eimern. Hin und wieder krachte der Donner. Sanft wischte das Mädchen dem Jungen mit einem frischen Tuch über die blasse Stirn und begann dann, seinen Körper vom Schlamm zu befreien. Einen Augenblick lang verlor Håkan sich in der Szene. Er selbst war nie so berührt, so umsorgt worden. Er fasste sich wieder und konzentrierte sich auf das Reinigen und Aufräumen seiner Instrumente. Das Feuer im Topf war verloschen. Mit zitternder Hand nahm der Vater des Jungen die Flasche mit dem Branntwein, trank einen Schluck und bot sie auch Håkan an, der ablehnte. Dann strich der Mann dem Mädchen über das Haar, küsste seinem Jungen die Stirn und nahm Håkan bei den Schultern.
»Gott segne dich«, sagte der Mann und sah Håkan in die Augen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Håkan, schaute hinunter zu dem Jungen und dann auf den Boden.
»Ich weiß. Aber vielleicht. Wegen dir.«
Sie setzten sich.
»Ich hätte dich keinen Hund nennen dürfen.«
Håkan wedelte die Sache mit einer sanften Handbewegung fort und merkte zu seiner Überraschung, dass er die Geste von Jarvis übernommen hatte. Das war ihm peinlich, und er wandte den Blick ab.
Das Mädchen war liebevoll in die Aufgabe vertieft, es seinem Bruder so bequem wie möglich zu machen. Håkan dachte, dass er seinen Arm geben würde, damit sie auch ihm über die Stirn wischte, ihm das Kissen aufschüttelte, seine Lippen küsste. Das Mädchen schaute auf, und er senkte sofort den Blick. Der Mann entschuldigte sich immer wieder für seine Unhöflichkeit. Er habe den Verstand verloren, als er seinen Sohn so gesehen hatte. Und die Lage mit Jarvis sei wirklich an ihrer Grenze angelangt. Håkan schaute verwirrt auf. Warum sonst brauche Jarvis einen großen Mann mit großer Waffe an seiner Seite, fragte der Vater des Jungen. Håkan brauchte eine Weile, bis er verstand, dass er besagter Mann war.
»Erst haben wir uns alle untereinander gestritten. Aber als wir verstanden, dass er irgendeine Teufelei im Schilde führt, haben sich viele von uns gegen ihn gewandt.«
Håkans Lippen bebten beim Versuch, eine Frage zu stellen, aber er wusste nicht, wo er anfangen sollte.
»Du weißt also gar nichts?«, fragte der Mann.
Kurz nach dem Aufbruch, vor Monaten, sprach sich herum, dass ein Mann unter ihnen sei, der schon einmal im Westen gewesen war und dort Land zu vergeben habe. Zunächst wies Jarvis Pickett alle mit einem freundlichen Lachen ab und behauptete, es sei nur ein Gerücht. Dann, einige Tage später, gab er manchen gegenüber zu, dass er tatsächlich etwas Land besitze, das aber hauptsächlich aus Felsen und trockenem Boden bestehe und das sicher niemand wolle. Schließlich vertraute er sich einigen wenigen an, es sei ein fruchtbares Tal, mit dem es nur der Garten Eden aufnehmen könne, und er wolle dort mit einer Gruppe Auserwählter eine Kolonie gründen. Dann zeigte er Karten und Urkunden und begann, den ihm gegenüber Loyalsten Grundstücke zuzuweisen. Er nahm niemals Geld von irgendjemandem an und sagte, sie seien alle Partner bei dieser Unternehmung — ebenbürtige Kolonisten. Sie wählten ihn zum Anführer. Widersetzte sich ihm jemand oder verärgerte ihn, strich er dessen Namen von der Urkunde. Wann immer dies geschah, verbreitete sich das Gerücht von einem freien Platz, und die hoffnungsvollen Bittsteller überhäuften Jarvis mit Geschenken. Er spielte die Leute gegeneinander aus und ermutigte einen Wettstreit der Geschenke und Gefallen um die besten Stücke. Nach einigen Wochen gab es keine Freunde mehr innerhalb der Gruppe. Aber manche bekamen Zweifel an den Landkarten und Urkunden. Jarvis’ Antwort lautete immer: Hätte er sie bestehlen wollen, hätte er für die Urkunden einfach Geld genommen — und doch hatte er keinen einzigen Penny gewollt. Allerdings schien ihr Treck langsamer voranzukommen als die anderen. Sie nahmen sich an den Flüssen mehr Zeit, legten mehrere ungerechtfertigte Pausen ein und holten nie die Wagen ein, von denen sie andauernd überholt wurden. Viele glaubten, ihr Anführer zögere die Ankunft absichtlich heraus, damit er weiter ihre Gaben einstreichen konnte. Darauf antwortete Jarvis, er habe niemals irgendetwas verlangt. Aber zu dem Zeitpunkt hatten die meisten in Jarvis’ Kreis ihm schon zu viel gegeben — freiwillig und ungeachtet ihrer Zweifel. Sie hatten nur noch wenig oder gar nichts mehr, womit sie bei der Ankunft neu beginnen konnten, und ihre einzige Hoffnung war das Stück Land, das Jarvis ihnen versprochen hatte. Die Männer, die ihm am nächsten standen, die ihm am meisten gegeben hatten, waren gleichzeitig diejenigen, die ihm am wenigsten vertrauten, weil sie voll und ganz abhängig von ihm waren. Kurz vor dem großen Regen war die Spannung spürbar geworden, Meuterei hatte in der Luft gelegen. Jarvis war misstrauisch geworden. Ein paar arme Teufel versuchten, ihn mit weiteren Geschenken zu beschwichtigen und womöglich ihre verdrosseneren und offen feindseligen Rivalen zu verdrängen. Und dann war Håkan gekommen.
Am nächsten Tag nahm die Sonne erneut ihren Platz am Himmel ein und buk den Weg unter ihren Füßen wieder hart. Zwei oder drei Morgen nach dem Unfall des Jungen, als die Gruppe das Lager abbrach und sich zur Weiterfahrt bereit machte, stieg Jarvis auf zwei Kisten und bat um Aufmerksamkeit. Er wartete, bis Ruhe eingekehrt war, und dann machte sein lebhafter Schnurrbart einen Witz. Einige lachten. Jarvis wurde ernst — wobei er seinen fröhlichen Gesichtsausdruck irgendwie beibehielt — und erklärte seinem Treck, er habe eine wichtige Ankündigung.
»Freunde«, sagte Jarvis. »Wir haben alle gesehen, was vor wenigen Tagen geschah. Unsere Zukunft kann nicht warten. Unsere Kinder können nicht warten. Jeder Schritt zählt.«
Gemurmel.
»Unsere Kinder können nicht warten«, wiederholte er. »Wir können diesem langwierigen Weg folgen oder hier abschwenken. Ich kenne eine Abkürzung.«
Jubel und Gejohle.
»Ja, eine Abkürzung.« Jarvis wollte niemanden überzeugen, sondern einfach nur die frohe Botschaft überbringen. »Folgt dem Weg, wenn ihr wollt. Oder folgt mir.«
Die letzten Worte gingen im Stimmengewirr unter. Einen Augenblick wurde die Kluft zwischen den rivalisierenden Seiten offensichtlich, über die man bisher nur geflüstert hatte. Jarvis’ Anhänger dankten ihm und gratulierten einander zu ihrem Glück, während seine Gegner mürrisch auf den Boden oder in den Himmel schauten. Dennoch blieben die meisten Männer, ungeachtet welcher Seite sie angehörten, der Fahrspur fern und folgten Jarvis’ nach Süden gerichtetem Finger. Nur drei oder vier Wagen beschlossen, weiter den Weg entlangzuziehen. Alle waren überrascht außer Jarvis, der so tat, als würde er die Abtrünnigen nicht sehen.
Nachdem sie am Abend die Wagenburg gebaut hatten, reihte sich vor Jarvis’ Feuer eine lange Schlange von Menschen auf, die demütig auf ihre Gelegenheit warteten, ihm ihre Gaben zu überbringen. Manche hatten sogar ihre Pferde dabei.