Nachdem sie sich von André Birron verabschiedet und den Hörer aufgelegt hatte, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und entnahm ihrem Aktenkoffer den Katalog von Sotheby’s, obwohl sie über ihren Lieblingsdiamanten schon alles wusste, was es nur zu wissen gab.
Sie schlug den Katalog auf, fand rasch die Seite, auf der die White Empress abgebildet war, und betrachtete das Foto des Juwels. Das Bild war zwar hervorragend, wurde aber dem prachtvollen Stein nicht gerecht.
White Empress. Versonnen sagte Stevie den Namen vor sich hin. Dank seines lupenreinen D-Grades verdiente der Stein es, so genannt zu werden. Seine Vollkommenheit beruhte auf seiner Farbe – einem strahlenden, makellosen Weiß –, was den ersten Teil des Namens erklärte. Da ihm seine ungewöhnliche Seltenheit und Schönheit einen Platz in der Kategorie der großen Steine sicherte, hatte man den Begriff Empress, Kaiserin, gewählt, um den Namen zu vervollständigen.
Automatisch glitt Stevies Blick zur linken Katalogseite und überflog den Text. Einmal mehr wurde ihr in Erinnerung gerufen, dass die White Empress als Diamant von 427 Karat und ausgesucht schöner Farbe 1954 in Südafrika in den Premier-Minen gefunden worden war.
Dieser Rohdiamant war dann 1956 als Teil eines acht Millionen vierhunderttausend Dollar umfassenden Pakets in den Besitz des renommierten, amerikanischen Juweliers Harry Winston gelangt.
Der größte Stein, den Winston aus diesem Stück schneiden ließ, war ein 128,25 Karat schwerer, birnenförmiger Diamant von D-Reinheit, und dieser Stein war es, der den Namen White Empress erhalten hatte. Harry Winston hatte den Stein als Anhänger eines herrlichen, eigens entworfenen Diamantcolliers gefasst und ihn noch im gleichen Jahre an einen europäischen Industriemagnaten verkauft.
Und nun war der Stein wieder auf dem Markt, nachdem er sich vierzig Jahre in den Händen einer Familie befunden hatte. Sotheby’s würde ihn Anfang Dezember in den Auktionsräumen an der York Avenue in New York versteigern.
Stevies Blick ruhte noch einen Moment auf dem Foto, ehe sie den Katalog zuklappte und ihn wieder in ihrem Aktenkoffer verstaute. Ihre Gedanken wanderten zu André. Obwohl er für den Stein nicht mitbieten würde, würden viele andere es sehr wohl tun, und der Preis würde automatisch in die Höhe schnellen wie immer, wenn es bei großen Auktionen um attraktive Stücke ging.
Der Preis könnte astronomische Höhen erreichen, dachte sie, als sie sich stirnrunzelnd zurücklehnte. Nein, er würde astronomische Höhen erreichen, das stand für sie zweifelsfrei fest. Nun, sie war entschlossen, unbedingt mitzubieten, da sie den Stein um jeden Preis haben wollte.
Siebenstellige Zahlen schwirrten ihr im Kopf herum. Sechs Millionen Dollar, sieben Millionen ... nein, zu wenig. Acht Millionen, spekulierte sie, die Augen konzentriert zusammenkneifend. Noch immer zu wenig, entschied sie. Und plötzlich war sie sicher, dass der Stein in der achtstelligen Kategorie landen würde. Zehn Millionen, sagte sie lautlos vor sich hin. War es denn möglich, dass er einen so hohen Preis erreichen würde?
In diesem Moment wusste Stevie, dass sie nötigenfalls auch einen astronomischen Preis bezahlen würde. Sie verzehrte sich nach dem Stein, nicht für sich selbst, sondern für die Firma Jardine’s, New York, die sie gegründet hatte.
War der Stein in ihren Besitz gelangt, würde sie ihn ein oder zwei Jahre behalten, ihn bei Ausstellungen präsentieren und ihn zum Mittelpunkt der ständigen Kollektion der Firma machen. Keinesfalls wollte sie ihn in mehrere Teile spalten, ihn zerschneiden oder ihn sofort wieder weiterverkaufen. Sie wusste, dass die White Empress eine sehr große Investition darstellte, und das in vielfacher Hinsicht, vor allem aber bedeutete der Stein hervorragende Publicity für Jardine’s.
Und es stand fest, dass sein Wert niemals sinken, sondern immer nur steigen würde. Außerdem wusste sie, dass es ein Leichtes sein würde, einen Käufer zu finden, falls sie einen suchte. Es gab auf der Welt viele reiche Männer und Frauen mit ausgeprägter Vorliebe für große Steine, und einige zählten bereits zu ihren Kunden, sodass es immer Käufer für diesen spektakulärsten aller Diamanten geben würde, der in der Branche bereits als historischer Stein galt.
Der Besitz der White Empress würde für Jardine’s sozusagen die Krönung darstellen. Eine Vorstellung, die ihr sehr gut gefiel. Sie hatte die amerikanische Filiale vor acht Jahren gegründet, zwar mit Bruce Jardines Zustimmung, die aber sehr widerstrebend erteilt worden war. Heute noch nahm er die Filiale kaum zur Kenntnis.
Da das Geschäft an der Fifth Avenue praktisch vom allerersten Tag an ein überwältigender Erfolg gewesen war, hielt Stevie Investitionen für berechtigt, da die großen und mit jedem Jahr wachsenden Gewinne ihre beste Rechtfertigung waren.
Als sie ihrem Schwiegervater eröffnet hatte, sie beabsichtige, einen Ableger der Firma Jardine, Hofjuwelier in London, an die New Yorker Fifth Avenue zu verpflanzen, hatte er gestutzt und sie nur verblüfft angestarrt. Ihr Plan war ihm alles andere als geheuer gewesen, und er hatte ihr von Anfang an nur Misserfolg prophezeit. Seine Zustimmung hatte sie viel Charme und Überredungskunst gekostet.
Stevie hatte sofort erfasst, dass er ihren Plan, nach New York zu gehen, vor allem deshalb ablehnte, weil er sie an seiner Seite im Londoner Geschäft haben wollte. Später hatte er zugegeben, dass es sich tatsächlich so verhielt. Sie war ihm unentbehrlich geworden, da er sich mit zunehmendem Alter immer mehr auf ihre Mitarbeit verließ.
Nachdem er sich beruhigt hatte und nicht mehr gegen sie wetterte, hatte Stevie hervorgehoben, dass sein Enkel fast einundzwanzig und sehr wohl imstande war, ihren Platz an seiner Seite einzunehmen. Tatsächlich konnte es der junge Mann kaum erwarten, in ihre Fußstapfen zu treten. »Unter deiner Aufsicht wird Nigel sich fabelhaft bewähren«, hatte sie ihrem Schwiegervater versichert. Bruce wusste so gut wie sie, dass es stimmte, doch wollte er es nicht zugeben, und erneut hatte er ihren Plan, eine Filiale in New York zu eröffnen, blockiert. Stevie hatte sich Zeit gelassen und ihn sanft, aber hartnäckig bearbeitet und keine Gelegenheit ausgelassen, ihm gegenüber hervorzuheben, wie profitabel das neue Geschäft sein würde.
»Aber ich werde dich sehr vermissen, Stephanie«, hatte Bruce gemurmelt, eines Nachmittags, Wochen, nachdem sie ihm ihren Plan präsentiert hatte. Diese wenigen, halb laut geäußerten Worte hatten ihr verraten, dass er ihr, wenn auch sehr zögernd und widerstrebend, seine Unterstützung gewähren würde. Und so war es denn auch gewesen, wenngleich er ihr immer wieder in Erinnerung rief, dass es wider sein besseres Wissen geschehen war.
Das war 1987. Ein Jahr darauf, 1988, hatte das Geschäft an der Fifth Avenue seine Pforten geöffnet. Und zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren lebte sie wieder in ihrer Heimatstadt. Nachdem ihre Mutter Derek Rayner geheiratet hatte, war sie mit vierzehn Jahren nach London gezogen, sodass New York trotz häufiger Besuche eine fremde Stadt für sie geworden war. Nach nur wenigen Wochen jedoch war Stevie Manhattan wieder so vertraut, dass sie sich hier ganz zu Hause fühlte.
Stevie stand auf und ging an den Kamin, um ein Scheit ins Feuer zu werfen. Dann setzte sie sich in einen Sessel, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie hatte das Gefühl, dass heute die Vergangenheit von ihr Besitz ergriff, vielleicht, weil es der siebenundzwanzigste November war, ein Tag, der in ihrer Erinnerung besondere Bedeutung einnahm. Es war ihr Hochzeitstag. Wäre Ralph Jardine noch am Leben gewesen, hätten sie ihr dreißigstes Hochzeitsjubiläum gefeiert. Sie hatte nicht wieder geheiratet, ein Umstand, den einige ihrer Freunde höchst merkwürdig fanden, sie selbst freilich gar nicht, da die Erklärung ganz simpel war: Sie war niemandem begegnet, an dem ihr so viel gelegen gewesen wäre, dass sie eine Ehe in Betracht gezogen hätte. Nein, das stimmt nicht ganz, korrigierte sie sich. Nach Ralphs Tod hatte sie einen anderen Mann geliebt, ganz kurz nur, vor langer Zeit. Eine Ehe hatte nie zur Debatte gestanden, zumindest nicht für ihn, für sie jedoch sehr wohl. Sie wusste, dass sie ihn auf der Stelle geheiratet hätte, wenn er sie gefragt hätte. Doch er hatte es nie getan. Es hat nicht sein sollen, sagte sie sich jetzt, wie sie es sich jahrelang immer wieder gesagt hatte. Manche Dinge sollten eben nicht sein, und man konnte schließlich nicht alles im Leben haben.
Aber wenn man jung ist, glaubt man, dass man es könnte, dachte sie plötzlich. In der Jugend ist man sich seiner Unbesiegbarkeit und Unsterblichkeit gewiss. Man ist von sich selbst eingenommen, vom eigenen Ich, von der eigenen Kraft und Stärke erfüllt. Man ist sich all dessen so sicher, sicher auch, dass man das Leben nach seinem Willen formen und in die gewünschte Richtung lenken kann. Aber man schafft es nicht, weil es unmöglich ist. Das Leben bekommt einen auf die eine oder andere Weise in den Griff. Es verformt einen, zwingt einen nieder, beschert einem viel Leid. Es wirkt als großer Gleichmacher, als ultimative, nivellierende Kraft.
Und trotz allem ist mein Leben nicht so übel verlaufen, rief sie sich in Erinnerung, wie immer mit Blick auf die positiven Seiten. Ihre Kinder hatten sich relativ gut entwickelt. Zumindest war keines drogenabhängig oder alkoholsüchtig. Und sie hatte sich aus dem Nichts einen Beruf geschaffen. Schließlich hatte sie kein künstlerisches Talent mitbekommen, das ihr als Sprungbrett zum Erfolg hätte dienen können, besaß aber eine ausgesprochen praktische Begabung, ein ruhiges, ausgeglichenes Wesen und – wie sich zeigen sollte – einen Kopf für Zahlen und fürs Geschäft.
Als sie dies einmal André gegenüber äußerte, hatte der Franzose erstaunt ausgerufen: »Aber du bist eine Expertin für Diamanten, chérie. Ralph hat dir alles beigebracht, was man von Edelsteinen wissen muss.« Undeutlich glaubte sie Andrés Stimme aus ferner Vergangenheit zu hören. »Stephanie, deine Idee ist sehr gut. Geh damit zu Bruce. Du wirst schon sehen, dass er dich anhören wird. Du hast sehr wichtige Argumente in der Hand. Sehr triftige Gründe. Dein Plan ist sozusagen eine zwingende Notwendigkeit.«
Ihre Gedanken taten einen Sprung zurück in die Vergangenheit, ins Jahr 1976, und sie sah vor ihrem geistigen Auge Bruce Jardine, wie er damals gewesen war. Groß, dunkel, gut aussehend, wenn auch auf verschlossene Art. Aber so eigensinnig und stur wie immer. Ein unbeugsamer Mensch.
Wie gut sich ihr seine verächtliche Miene eingeprägt hatte, sein freudloses Auflachen, als sie ihm eröffnete, dass sie arbeiten wollte, noch dazu im Familienunternehmen. Noch ehe er ihr antworten konnte, hatte sie leise hinzugesetzt, dass sie von ihm lernen wollte, wie das Unternehmen zu führen sei.
Er hatte sie sprachlos und ungläubig angestarrt, damals, vor so vielen Jahren, und dann hatte er sie gefragt, ob sie den Verstand verloren hätte.
Vor zwanzig Jahren. Und doch kam es ihr zuweilen vor, als sei es erst gestern passiert. In jenem Sommer war sie eine junge Witwe von sechsundzwanzig Jahren. Es war genau drei Jahre nach Ralphs missglückter Blinddarmoperation. Trauer und Zorn über diese schreckliche Tragödie hatten sich mit der Zeit verflüchtigt, und doch rief der Gedanke an den tragischen Tod ihres Mannes in ihr einen Anflug zorniger Enttäuschung immer dann hervor, wenn sie es am wenigsten erwartete.
Es hatte sich gezeigt, dass Ralph nicht an einer Blinddarmentzündung gelitten hatte, sondern an einem durchbrochenen Magengeschwür. Der Chirurg hatte es auf dem OP-Tisch nicht erkannt. Er hatte den Blinddarm entfernt, aber keinen zweiten Schnitt vorgenommen, um den Durchbruch zu erreichen und zu beheben. Die Bauchfellentzündung hatte zu einer Sepsis geführt, die Ralph schließlich das Leben kostete. Alle wussten, dass er nicht hätte sterben müssen.
Nach Ralphs unerwartetem Tod war Bruce nun der einzige Jardine im Familienunternehmen. Sein älterer Bruder Malcolm war einige Jahre zuvor aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand getreten, und Bruce musste plötzlich die ganze Bürde allein tragen.
Ohne Vorwarnung hatte er im Februar 1976 einen Herzanfall erlitten. Er erholte sich zwar wieder, geriet jedoch in Panik, als er in seiner Arbeitskraft beeinträchtigt blieb. Stevie hatte die Situation sofort durchschaut und den Grund für seine Nervosität richtig gedeutet. Trotz ihrer Jugend hatte sie auch damals schon große Menschenkenntnis besessen und gewusst, was einen Menschen antrieb, was ihn dazu brachte, das zu tun, was er tat. Blitzartig und klarsichtig hatte sie erkannt, was zu tun war und wo die Lösung von Bruce’ Problem lag.
Sie war die Lösung.
Und so hatte sie, Andrés Rat folgend, ihren Schwiegervater an einem warmen Julinachmittag in seinem Büro in der Bond Street aufgesucht – unangekündigt. Ihr Besuch – es war ihr erster – hatte ihn erschreckt und aus der Fassung gebracht, doch als Gentleman der alten Schule hatte er sie höflich in sein Allerheiligstes gebeten.
»Bring mir alles bei, was fürs Geschäft nötig ist, bilde mich aus«, hatte sie ihn ernsthaft gebeten. »Ich bin die einzige Jardine, die im Moment verfügbar ist. Nigel und die Zwillinge sind noch klein. Was soll aus der Firma werden, wenn du noch einen Herzanfall haben solltest? Oder krank wirst? Oder wenn du stirbst?«
Erschrocken wegen ihrer Unverblümtheit hatte er ein beleidigtes Gesicht gemacht und sie nur sprachlos angestarrt.
Sie war in ihren Erklärungen rasch fortgefahren. »Sieh mal, niemand denkt gern an seine eigene Sterblichkeit oder überhaupt an den Tod. Das weiß ich. Aber du musst daran denken. Ralph hat dich immer als den klügsten Menschen gerühmt, den er kannte. Deine Intelligenz und dein klarer Verstand nötigten ihm so große Hochachtung ab, dass er dich für so etwas wie ein Genie hielt. Also überlege auch jetzt klar. Lass dir alles emotionslos durch den Kopf gehen. Du brauchst jemanden, dem du vertrauen kannst, einen Menschen, der das Unternehmen führen könnte, wenn du dazu nicht mehr imstande bist. Und es müsste jemand sein, dem die Interessen deiner Enkel am Herzen liegen. Ich als ihre Mutter bin dazu eindeutig die Geeignetste. Du brauchst mich. Du musst der Tatsache ins Auge sehen, dass ich die einzige Jardine bin, die momentan zur Verfügung steht.«
Bruce Jardine hatte die Berechtigung ihres Anliegens eingesehen. Sie war tatsächlich die einzige erwachsene Jardine, an die er sich wenden konnte, und stellte daher die einzige Lösung seines Dilemmas dar. Auch hatten ihre Aufrichtigkeit, ihr Eifer und ihre Begeisterung ihn überzeugt, dass sie wirklich für ihn arbeiten und das Geschäft lernen wollte. In der Hoffnung, sie würde ihn nicht enttäuschen, hatte er sie daher als Juniorassistentin anfangen lassen.
»Du musst dieses Geschäft lieben, wenn du Erfolg haben willst«, hatte er ihr während ihrer ersten Jahre immer wieder eingeprägt, und Stevie hatte rasch entdeckt, dass sie es in allen seinen Spielarten liebte.
Sie liebte Diamanten und alle anderen Edelsteine, und sie liebte auch die kreative Seite der Schmuckbranche, doch waren es vor allem die komplizierten, finanziellen und firmenpolitischen Fragen, die sie eigentlich faszinierten. Schon im ersten Halbjahr ihrer Arbeit für Jardine’s hatte sie so viel Talent für Zahlen und Geschäftssinn bewiesen, dass Bruce sehr angenehm überrascht gewesen war.
Nichts war natürlicher, als dass sie ihrem Schwiegervater unentbehrlich wurde. Bruce Jardine, einst ihr erklärter Feind, konnte nicht umhin, mit ihr Frieden zu schließen und anzuerkennen, dass sie großartige Eigenschaften besaß, nämlich Talent, echtes Können und großen Fleiß. Mit der Zeit lernte er, sie zu respektieren, und er wurde immer abhängiger von ihr.
Und eines schönes Tages, nach fünf Jahren in der Firma, waren seine Feindseligkeit und Angriffslust, die für sie schon zur Gewohnheit geworden waren, einfach verpufft. Alfredas Haltung freilich sollte sich nie ändern. Andererseits wusste ihre Schwiegermutter sehr wohl, dass ihr Mann nichts Unüberlegtes tat und dass es gerechtfertigt war, wenn er Stevie, der Mutter ihrer Enkel und Erben, Vertrauen schenkte. Sie hatte also ihre Zunge gehütet und war Stevie im Übrigen geflissentlich aus dem Weg gegangen. Alfreda war 1982 gestorben, vor fast fünfzehn Jahren. Ihre Abneigung gegen Stevie, die sie bis zum Tod beibehalten hatte, war so weit gegangen, dass sie ihr nie Zuneigung gezeigt oder sich auch nur zur kleinsten, freundlichen Geste herabgelassen hätte.
Stevie, die aufstand und wieder zu ihrem Schreibtisch ging, griff nach ihrem Hochzeitsfoto und betrachtete es aufmerksam. Wie jung sie und Ralph ausgesehen hatten. Aber sie waren ja auch jung gewesen, sie selbst zumindest. Ich war ja nur ein kleines Mädchen, erst sechzehn, dachte sie. Ein Kind, jünger, als Chloe jetzt ist.
Ach, Ralph, wer hätte das gedacht? Wer hätte gedacht, dass dein Vater mich ins Geschäft nehmen würde? Oder dass ich es eines Tages zur Chefin von Jardine’s beidseits des Atlantiks bringen würde? Ihr drängte sich der Gedanke auf, dass das Leben, der große Gleichmacher, auch sehr unvorhersehbar war. Das alles hätte ich nicht ohne Freunde, gute Freunde, erreichen können, ganz besonders nicht ohne André Birron. Sie wusste, dass André ihr mindestens so viel wie Bruce vom Juwelengeschäft beigebracht hatte. Er war in mancherlei Hinsicht ihr Mentor gewesen, dazu ein echter Freund, fast wie ein Vater.
Von André hatte sie immer die besten und vernünftigsten Ratschläge bekommen. Mit siebenundzwanzig hatte sie sich nach vier Jahren Witwenschaft wieder verliebt, und ein Jahr darauf hatte sie entdeckt, dass sie schwanger war.
Damals hatte sie sich an André gewandt. Sie war nach Paris geflogen und hatte sich ihm anvertraut, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad, da sie von Natur aus sehr vorsichtig war. Sie hatte die Identität ihres Liebhabers, des Vaters ihres ungeborenen Kindes, nur vage angedeutet. Aber noch ehe sie ausgesprochen hatte, war André ihr mit einer abwehrenden Geste ins Wort gefallen.
»Sag mir nicht, wer er ist. Ich möchte es nicht wissen. Eines musst du dir immer vor Augen halten, Stephanie. Vertraust du jemandem ein Geheimnis an, ist es kein Geheimnis mehr«, hatte der welterfahrene Franzose sie gewarnt.
Und deshalb hatte sie geschwiegen, da dies ihrer natürlichen Veranlagung entsprach. Niemand hatte jemals erfahren, wer ihr Liebhaber gewesen war, oder hatte auch nur versucht, die Identität des Mannes zu erraten. Auch Chloe wusste nicht, wer ihr Vater war.
Chloe. Bei dem Gedanken an ihre achtzehnjährige Tochter veränderte Stevies Miene sich und wurde ganz weich. An Chloe besaß sie noch einen lupenreinen Diamanten von höchster Vollkommenheit.
Plötzlich lachte Stevie auf. Nun, das stimmte eigentlich nicht. Ihre Tochter war, gottlob, nicht ganz vollkommen. Aber wer wünschte sich schon ein Musterexemplar an Tugend? Diese Typen waren langweilig und meist zu gut, um wahr zu sein.
Chloe sollte am Spätnachmittag kommen, hoffentlich noch rechtzeitig zum Dinner, und dann würden sie sich einen gemütlichen Abend machen. Morgen wollten ihre Mutter und ihr Stiefvater aus Manhattan heraufkommen, um Thanksgiving mit ihnen zu feiern und den Rest des Feiertagswochenendes mit ihnen zu verbringen. Sie und Chloe freuten sich schon auf ihren Besuch.
Da Derek Rayner vor einigen Jahren geadelt worden war, waren er und ihre Mutter nun Sir Derek und Lady Rayner. Wie seit Langem vorauszusehen, war er nun der größte Darsteller klassischer Rollen auf englischen Bühnen, und mit achtundsechzig eine lebende Legende. Derek, der immer gut zu ihrer Mutter gewesen war, hatte auch ihr und ihren Kindern nur Güte entgegengebracht.
Derek und ihre Mutter waren kinderlos geblieben, sodass er die Rolle des Vaters und Großvaters nur bei ihr und ihren Kindern spielen konnte, doch war seine Liebe echt, und Chloe war sein besonderer Liebling.
Ihr Sohn Miles hatte die Absicht, mit den Rayners hinaus nach Connecticut zu fahren. Er war ihr Lieblingssohn, wie sie sich ehrlich eingestand, obwohl sie immer bemüht war, diese Tatsache vor den anderen zu verbergen, da ihr nichts widerwärtiger war, als eines ihrer Kinder zu bevorzugen.
Miles war ein talentierter Künstler und ein brillanter Bühnenbildner. Im Moment lebte er in New York und war mit dem Entwurf der Dekorationen für ein Broadway-Stück beschäftigt. Anders als sein Bruder Nigel und sein Zwillingsbruder Gideon hatte er nie die Neigung gezeigt, ins Familienunternehmen einzusteigen, obwohl er die Schmuckstücke und anderen Dinge, die bei Jardine’s entstanden, mit Künstlerblick immer sehr sachkundig begutachtete.
Trotz seines mangelnden Interesses an der Firma hatte sein Großvater darauf bestanden, ihn in die Geschäftsführung einzubeziehen, da auch er Anteile am Unternehmen besaß. Und er hatte seine Position sofort wahrgenommen. Das Unternehmen war Teil seines Erbes und hatte in seinem Leben immer eine wichtige Rolle gespielt. Dafür hatte seine Mutter gesorgt.
Aber es war Gideon, der sich als der geborene Juwelier der Familie entpuppt hatte. Stevie hatte es bereits erkannt, als er noch in den Kinderschuhen steckte. Er war ein talentierter, nein, ein hochbegabter Edelsteinexperte, der die Liebe seines Vaters zu Edelsteinen, besonders zu Diamanten, geerbt hatte. Wie Ralph war er ein meisterhafter Edelsteinschleifer und als einer der begabtesten Schmuckdesigner des Unternehmens maßgeblich am Entstehen der prachtvollen Schmuckstücke beteiligt, für die Jardine’s seit Generationen bekannt war.
Nigel, ganz Geschäftsmann und in vielem Bruce’ Ebenbild, war für die kaufmännischen Belange des Unternehmens zuständig, unterstand aber in der Firmenhierarchie seiner Mutter.
Aber Nigel wollte alles für sich.
Stevie spürte dies seit einiger Zeit sehr deutlich. Mitunter hatte sie sogar das Gefühl, ihr Ältester zog schon die Fäden, um sie bei Bruce anzuschwärzen und so ihr Ausscheiden aus dem Unternehmen in die Wege zu leiten.
Sie stieß einen lang gezogenen Seufzer aus und schlenderte zurück an den Kamin. Sie blieb an den Kaminsims gestützt stehen, in Gedanken bei Nigel.
Handfeste Beweise hatte sie nicht, es war nur ihr guter alter Instinkt, der ihr sagte, dass ihr Sohn gegen sie arbeitete. Seit Langem schon sah sie Nigel so, wie er war ... und wie Bruce in jüngeren Jahren gewesen war: kalt, berechnend, herrschsüchtig und sehr ehrgeizig.
Nun war Ehrgeiz nichts Schlechtes, solange er in die richtige Richtung zielte. Sie war die Erste, die dies zugegeben hätte. Aber es wirkte irgendwie lächerlich, wenn ihr Sohn ausgerechnet auf ihre Kosten Ehrgeiz entwickelte, da ihm das Unternehmen eines Tages ohnehin gehören würde. Natürlich musste er es sich mit seinen Brüdern zu gleichen Teilen teilen, doch als Ältester, der noch dazu unbestritten sehr geschäftstüchtig war, würde er die Geschäftsführung innehaben.
Sie wünschte, sie hätte den beunruhigenden Argwohn abschütteln können, Nigel könne es kaum erwarten, sie bei einem falschen Schritt straucheln zu sehen und ihm die Rechtfertigung zu liefern, die er brauchte, um das Londoner Stammhaus zu übernehmen. Und New York obendrein.
Keine Chance, murmelte sie. Bruce würde es nie zulassen. Ihr Schwiegervater war jetzt zweiundachtzig und nach einigen schmerzhaften Gichtanfällen, die ihn schon jahrelang quälten, teilweise im Ruhestand. Doch war er hellwach wie immer, keine Spur von senil, und sehr rüstig, wenn ihn nicht sein Leiden plagte. Sie wusste sehr wohl, dass er sie gern hatte, auch wenn er es nicht oft zeigte.
Überdies, und das war noch wichtiger, vertraute er ihr in geschäftlichen Dingen bedingungslos. Sie hatte sich sein Vertrauen verdient, hatte ihm immer wieder bewiesen, dass sie nicht nur genau wusste, was sie tat, sondern auch alles hervorragend machte. Nein, Bruce würde Nigels Machenschaften, die er als »jugendliches Aufbegehren« einstufen würde, nicht dulden. Und er würde ihre Partei ergreifen.
Stevie riss sich von ihren Gedanken los und lief aus dem Arbeitszimmer und den Treppenabsatz im Obergeschoss entlang. Mittelgroß und schlank, war Stephanie Jardine mit ihrem dunklen Lockenkopf, den hellen, graugrünen Augen und einem ausdrucksvollen Gesicht eine sehr attraktive Erscheinung. Hohe Wangenknochen und eine schmale Nase verliehen ihr einen vornehmen Ausdruck. Ihr lodengrüner, von einer Jacke ergänzter Hosenanzug, der die Grüntöne ihrer Augen zur Geltung brachte, verriet ihre Vorliebe für dezente Eleganz.
Stevie brachte die Treppe raschen Schrittes hinter sich. Sie hatte viel Zeit vergeudet, indem sie an die Vergangenheit und an Ralph gedacht und ihre Erinnerungen durchlebt hatte, die guten und die schlechten. Sie erwartete Gäste für den nächsten Tag, zwar nur Familienbesuch, dennoch musste alles tadellos vorbereitet sein. Ihre Mutter, an der Seite eines berühmten Bühnen- und Filmstars an höchsten Luxus und Komfort gewöhnt, legte sehr strenge Maßstäbe an.
In der großen Halle schlug die Standuhr in der Ecke. Es war Punkt sechs. Chloe sollte in einer Stunde kommen, ein Gedanke, der ein Lächeln in Stevies Gesicht zauberte. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Tochter wiederzusehen.
Irgendwo in der Nähe schlug eine Tür, und sie spürte einen Schwall kalter Luft durch die Halle ziehen, der aus der Richtung des Wintergartens zu kommen schien. Sie ging durch die Bogentür, die in diesen Teil des Hauses führte.
Das Solarium, wie es auch genannt wurde, war lang gestreckt und hatte viele Fenster. Zwei Glastüren führten auf eine gedeckte Veranda, die sich über die gesamte Hinterfront des Hauses erstreckte. Eine der Türen, die aufgegangen war, schwang in den Angeln hin und her und schlug gegen einen Holzstuhl.
Sie ging hin, um sie zu schließen, und hielt dann an der Tür inne und spähte hinaus. Es war eine dunkle Nacht, der Himmel schwarz und sternenlos. Ein Streifen helles Lampenlicht, das aus dem Wintergarten nach draußen fiel und die Veranda und die Steinbalustrade dahinter erhellte, milderte die Finsternis.
Stevie trat wie so oft um diese Stunde hinaus. Sie liebte die Ruhe und die ländliche Stille, die sie im Gegensatz zum Lärm und Getriebe New Yorks vor allem nachts als sehr angenehm empfand.
Ihr Blick überflog den Himmel und das umliegende Gelände, und ihr fiel auf, dass der Nebel von vorhin sich mitten in ihrem Garten festgesetzt hatte. Dichter geworden, lagerte er nun auf dem Gras, zog in Schwaden dahin, verhüllte die Steinbänke, den Springbrunnen und den mit Steinplatten ausgelegten Rosengarten. Wie unheimlich heute alles aussieht, dachte Stevie. Abrupt drehte sie sich um und suchte hastig Zuflucht im Haus.
Als sie eintrat, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl, eine Vorahnung ... und sie hielt den Atem an. Das Gefühl ähnelte jenem, das sie am Nachmittag überfallen hatte, nur war es diesmal viel stärker, viel intensiver.
Sie schüttelte es ab. Und dann lachte Stevie Jardine sich selbst aus und schüttelte den Kopf. Sie, die nie an Vorzeichen und Omen geglaubt hatte und nicht abergläubisch war, glaubte tatsächlich, unter einer bösen Vorahnung zu leiden. Lächerlich. Erneut schüttelte sie ihr Gefühl mit einem Auflachen ab.
Ein paar Monate später sollte Stevie sich an diese sonderbaren Empfindungen erinnern und sich fragen, was es damit auf sich gehabt hatte.